Die neue Welt der DiPAs

Mit digitalen Pflegeanwendungen auf der digitalen Überholspur?

Prof. Roger Jaeckel, Hochschule Neu-Ulm

Durch die Konstruktion der digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) erhofft sich der Gesetzgeber, dass auch im Bereich der häuslichen Pflege die digitale Transformation Einzug hält und pflegebedürftige Personen von diesem technischen Wandel in ihrem Versorgungsalltag profitieren. Wie muss diese neue DiPA-Welt in Abgrenzung zu den bereits 2020 eingeführten digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) gesehen werden? Haben DiPAs das Potenzial, als Game Changer die Versorgung pflegebedürftiger Menschen zu revolutionieren, oder fallen sie gar hinter der Erwartungshaltung an DiGAs zurück?

Mit den digitalen Pflegeanwendungen wird nun auch in der sozialen Pflegeversicherung (SPV) das digitale Zeitalter eingeleitet. Im letzten Gesundheitsreformgesetz der abgelaufenen Legislaturperiode hat die große Koalition unter der Amtsführung von Jens Spahn das sog. Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierung-Gesetz, kurz DVPMG genannt, im Juni 2021 beschlossen, welches im gleichen Monat dann auch noch in Kraft trat. Neben zahlreichen Updates zu bereits bestehenden digitalen Regulierungsvorgaben wurde die Grundidee der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) auch auf die Zielgruppe pflegebedürftiger Personen nach dem SGB XI übertragen. Faktisch bedeutet dies, dass rund vier Millionen ambulant pflegebedürftige Personen bei Bedarf eine künftig zugelassene DiPA in Anspruch nehmen können. Der Start des DiPA-Antragsverfahrens wurde vom BfArM für Ende November 2022 angekündigt, zeitgleich mit dem dann auch zur Verfügung stehenden DiPA-Leitfaden. Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, die neue Welt der DiPAs anhand der vorgegebenen Rahmenbedingungen zu beschreiben und gleichzeitig einer ersten Bewertung zuzuführen, die sowohl die Hersteller- als auch die Versichertenperspektive im Blick hat.

 

DiPAs sind nicht gleich DiGAs

Nach der ersten Durchsicht der vom BMG erlassenen und am 6. Oktober 2022 in Kraft getretenen DiPA-Verordnung zur Prüfung der Erstattungsfähigkeit digitaler Pflegeanwendungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch, kurz DiPAV genannt, wird schnell deutlich, dass die regulativen Vorgaben zur Erstattungsfähigkeit von DiPAs nicht mit den Zulassungsbestimmungen zu den DiGAs gleichgesetzt werden können. Zum einen handelt es sich sozialversicherungsrechtlich betrachtet um unterschiedliche Versichertengruppen (DiGAs für Krankenversicherte / DiPAs für Pflegebedürftige), zum anderen haben die ersten Erfahrungen im Umgang mit DiGAs zu grundsätzlichen und restriktiveren Anpassungen im DiPA-Zulassungsverfahren geführt.

Der elementarste Unterschied besteht wohl darin, dass es bei den DiGAs zwei Optionen gibt, den Zugang zum GKV-System zu erlangen. Zum einen kann ein Antrag auf vorläufige Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis gestellt werden, wenn der vollständig zu erbringende Studiennachweis zum Zeitpunkt der Antragstellung noch aussteht. Dies bedeutet eine zumindest befristete Liquiditätssicherung des DiGA-Herstellers, was insbesondere aus Start-up Perspektive von großem Nutzen ist. Dies war schließlich auch die Intention des Gesetzgebers zum Zeitpunkt der Entstehung des DVG im Jahr 2019.

Zum anderen kann eine dauerhafte Aufnahme beantragt werden, wenn die Evidenzgenerierung zum Nachweis eines erforderlichen positiven Versorgungseffektes zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vorliegt oder zwischenzeitlich erfolgt ist. Diese Wahlmöglichkeit besteht bei den DiPAs gerade nicht, sondern bei der Antragstellung beim BfArM muss der geforderte Nachweis eines pflegerischen Nutzens bereits vorliegen, ohne dass ein vorheriger Erstattungsanspruch besteht. Dies bedeutet ein wesentlich höheres unternehmerisches Risiko für den DiPA-Hersteller vor und während des Zulassungsprozesses. Gleichzeitig ist der DiPA-Preisbildungsprozess im Vergleich zu den DiGAs erkennbar restriktiveren Rahmenbedingungen ausgesetzt. Eine anfängliche freie Preisbildung analog den DiGAs existiert bei den DiPAs nicht. Ganz im Gegenteil. Erst nach positivem Bescheid durch das BfArM muss der DiPA-Hersteller im Anschluss an die Nutzenbewertung innerhalb von drei Monaten seinen Erstattungspreis auf Bundesebene mit den Kostenträgern dann aushandeln.

 

Keine volle Kostenfinanzierung

Das Grundprinzip einer nicht vollständigen Übernahme der Pflegekosten durch die Pflegeversicherung wird uneingeschränkt auf die neue Welt der DiPAs übertragen. Daraus entwickelt sich unweigerlich eine Art „Willingness to Pay-Ansatz“, der den Erstattungsregeln bei den DiGAs mit voller Kostenübernahme und ohne Zuzahlungsregelungen diametral entgegensteht. Wie sich dieser Sachverhalt auf die Nachfrage, aber auch auf das Angebot von DiPAs auswirken wird, bleibt deshalb gespannt abzuwarten. Eine positive Anreizsetzung zur beschleunigten Implementierung digitaler Dienstleistungen im Bereich der pflegerischen Versorgung ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht erkennbar. Für die Hersteller von DiPAs ist trotz der gesetzlich vorgegebenen Erstattungsobergrenze der Pflegekasse gegenüber dem Pflegebedürftigen in Höhe von 50 Euro monatlich darüber hinaus ein bundesweit gesonderter Erstattungspreis innerhalb von drei Monaten nach positiver Listung im BfArM-Verzeichnis mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen im Einvernehmen mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (§78a SGB XI) zu vereinbaren. Das unternehmerische Ziel, aus Sicht eines DiPA-Herstellers einen möglichst hohen Erstattungspreis zu erzielen, führt folglich zwangsläufig zum Problem einer Mehrkostenfinanzierung durch den Pflegebedürftigen selbst und damit zur Grundsatzfrage, ob eine solche Preisstrategie nachfrageseitig überhaupt verfängt.

Der vom Gesetzgeber vorgegebene und von der Pflegekasse zu beachtende Erstattungshöchstbetrag wirkt zwangsläufig als Preisanker sowohl gegenüber dem Pflegebedürftigen als auch gegenüber dem potenziellen DiPA-Hersteller. Die Festlegung des tatsächlichen Erstattungspreises für eine DiPA folgt zwar einem gesonderten Verfahren. Allerdings ist davon auszugehen, dass kostenträgerseitig grundsätzlich eine Preisstrategie verfolgt werden dürfte, die Höhe des DiPA-Erstattungspreises so zu verhandeln, dass dem Pflegebedürftigen selbst möglichst keine Mehrkosten entstehen.

Bedingt durch das vorgegebene Sachleistungsprinzip existiert bei den DiGAs diese komplexe Erstattungsregelung gerade nicht, was bei Nutzung von DiGAs zu einem klaren finanziellen Vorteil bei den anspruchsberechtigten  Personen führt. Dies ist vor allem dann bedeutsam, wenn es künftig Wahlmöglichkeiten zwischen DiGAs und DiPAs geben wird.

 

50 Euro: höchster Erstattungsbetrag

Aus den ersten Lernerfahrungen bei der Nutzung von DiGAs ist bei den DiPAs die Vorgabe entstanden, dass der Pflegebedürftige nach Bewilligung einer DiPA durch die Pflegekasse ebenso einen Anspruch auf Leistungen für die Inanspruchnahme von ergänzenden Unterstützungsleistungen hat, die allerdings nur von ambulanten Pflegeeinrichtungen erbracht werden dürfen. Dabei handelt es sich um Schulungsmaßnahmen zum Funktionsumfang und zur Zweckbestimmung der DiPA, um eine sachgerechte Anwendung der DiPA durch den Pflegebedürftigen oder anderen pflegenden Personen zu gewährleisten. Diese Überlegung ist im Ansatz grundsätzlich zu begrüßen.

Allerdings wird dieser Gedanke dadurch limitiert, dass dieser Leistungsanspruch an den Erstattungshöchstbetrag der DiPA in Höhe von 50 Euro monatlich gekoppelt ist (§ 40b SGB XI), und ein Überschreiten dieses monatlichen Gesamtbetrags den Automatismus der anzuwendenden Mehrkostenregelung in Gang setzt, der vom Pflegebedürftigen selbst dann getragen werden muss. Bleibt noch nebenbei zu erwähnen, dass die Inhalte und die Höhe der Erstattungsbeträge für ergänzende Unterstützungsleistungen zwischen den Vereinigungen von Trägern der ambulanten Pflegeeinrichtungen mit den Landesverbänden der Pflegeeinrichtungen in Form einheitlicher Rahmenverträge zu vereinbaren sind (§ 75 SGB XI), was im Ergebnis zu einer noch weiteren Verzerrung bei der Höhe der anzurechnenden Erstattungsbeträge führen wird in Abhängigkeit der jeweils landesweit zu vereinbarenden Erstattungspreise. Die Kopplung des DiPA-Erstattungsbetrags mit den Leistungsausgaben für ergänzenden Unterstützungsleistungen bei gleichzeitiger Deckelung des monatlichen Gesamtbetrages wird im Ergebnis das Nachfrageverhalten nach DiPAs wegen der anzuwendenden Mehrkostenregelung nicht nachhaltig positiv stimulieren.

 

DiPAs nicht verordnungsfähig

Ein letztlich nicht zu unterschätzender Aspekt knüpft an die Frage, wie der Pflegebedürftige Zugang zu einer zugelassenen DiPA erhält. Nach dem Gesetzeswortlaut gibt es diesbezüglich nur eine Option: Er muss selbst einen Antrag bei seiner Pflegekasse stellen (§ 40a Abs. 2 SGB XI). Folglich ist eine Verordnungsfähigkeit durch den behandelnden Arzt ausgeschlossen. Dies bedeutet gegenüber den DiGAs ein wesentliches Unterscheidungskriterium und auch einen Schwachpunkt und führt im Ergebnis zu der Frage, wie ambulant pflegebedürftige Personen über die Existenz zugelassener DiPAs respektive ihrer Anwendungsmöglichkeiten überhaupt Informationen erhalten sollen. Letztlich wird es an den pflegenden Angehörigen und den ambulanten Pflegeeinrichtungen liegen, diesem Informationsbedürfnis nachzukommen.

Im Folgenden werden die bisher analysierten Ergebnisse in Thesenform nochmals zusammengefasst:

  • These: Die Grundlogik der sozialen Pflegeversicherung führt zwangsläufig zu der Problematik, dass Pflegebedürftige sich wegen der gesetzlichen Begrenzung des Erstattungsbetrages an den Nutzungskosten einer DiPA beteiligen müssen.
    Im Gegensatz zu den DiGAs müssen pflegebürftige Personen bei der Nutzung einer DiPA mit Mehrkosten rechnen, da die Erstattungshöhe einer DiPA für die Pflegekasse durch den Gesetzgeber auf max. 50 Euro pro Monat beschränkt wurde. Wenn die für DiPAs verhandelten Erstattungspreise höher ausfallen als der von der Pflegekasse max. erstattungsfähige Höchstbetrag, dann muss diese Preisdifferenz vom Pflegebedürftigen selbst getragen werden.
  • These: Die Problematik der Mehrkostenregelung gewinnt durch die gesetzlich vorgegebene Berücksichtigung sog. ergänzender Unterstützungsleistungen noch zusätzlich an Bedeutung.
    Die Begrenzung der Erstattungshöhe auf 50 Euro im Monat wird aus Sicht des Pflegebedürftigen noch dadurch verschärft, dass die Bezahlung von ergänzenden Unterstützungsleistungen aus diesem Erstattungsbetrag mitfinanziert werden müssen. Dies führt zu einem weiteren Anstieg der systembedingt bereits vorhandenen Mehrkostenproblematik und bedeutet eine klare finanzielle Benachteiligung gegenüber den DiGA-Erstattungsregelungen (volle Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse nach dem Sachleistungsprinzip, keine Zuzahlungspflicht). Die Intransparenz der Preisbildung für ergänzende Unterstützungsleistungen erhöht sich noch durch den Umstand, dass die Preise zwischen dem Träger des Pflegedienstes und den Leistungsträgern (Pflegekassen, Trägern der Sozialhilfe) auf Landesebene verhandelt werden müssen. Dies führt im Ergebnis zu unterschiedlichen Erstattungspreisen für die gleiche Leistung, je nach Bundesland.
  • These: Ambulanten Pflegeeinrichtungen wird ein Angebotsmonopol für ergänzende Unterstützungsleistungen (eUL) zugesprochen.
    Nach den gesetzlichen Bestimmungen dürfen nur zugelassene ambulante Pflegeeinrichtungen ergänzende Unterstützungsleistungen zur richtigen Anwendung von DiPAs erbringen (§ 39a SGB XI). Die Erforderlichkeit hierzu stellt das BfArM auf Grundlage der DiPA-Antragstellung fest. Die erforderlichen Informationen muss der DiPA-Hersteller bereits beim Antragsprozess liefern, welche eUL bei der Nutzung einer DiPA erforderlich sind. Dies umfasst insbesondere die Schulung und Einweisung in eine DiPA, ohne einen gesonderten Aufwand hierzu zu erhalten. Die Aufwendungen hierzu trägt die Pflegekasse innerhalb der gesetzlichen Obergrenze von 50 Euro monatlich bzw. der Pflegebedürftige selbst, wenn diese monatliche Obergrenze überschritten wird.
  • These: DiPA-Hersteller tragen gegenüber DiGA-Herstellern ein eindeutig höheres unternehmerisches Risiko.
    Im Gegensatz zu den DiGAs gibt es bei DiPAs nicht die Möglichkeit einer vorläufigen Anerkennung durch das BfArM. Das bedeutet, dass der zu erbringende pflegerische Nutzen einer DiPA bereits beim Antragsverfahren vollständig vorliegen muss. Dies bedeutet eine erhebliche finanzielle Vorleistung durch den Hersteller einer DiPA, verbunden mit dem Risiko, dass trotz Vorliegen von Studienergebnissen der DiPA-Antrag negativ beschieden werden kann. Der DiPA-Hersteller trägt folglich das volle unternehmerische Risiko.
  • These: Die fehlende Verordnungsfähigkeit wird den Implementierungsprozess von DiPAs deutlich erschweren.
    Der Zugang zu DiPAs kann nur auf Initiative des Pflegebedürftigen selbst durch Antragstellung bei der zuständigen Pflegekasse erfolgen. Damit fehlt gegenüber den DiGAs ein wesentliches Merkmal, dass der behandelnde Arzt in diesen digitalen Versorgungsprozess mit eingebunden ist. An seine Stelle tritt nun der ambulante Pflegedienst, zumindest für die pflegenden Personen, die sich ganz oder teilweise durch einen professionellen Pflegedienst pflegerisch versorgen lassen, ohne jedoch eine echte Verordnungskompetenz zu besitzen.

 

Fazit

Die aktuell geltenden Rahmenbedingungen zur Erstattungsfähigkeit von DiPAs werden nicht zum erhofften Digitalisierungsschub in der ambulanten Pflege führen, obwohl der Digitalisierungsbedarf in der pflegerischen Versorgung durchaus als beträchtlich bezeichnet werden kann. Insofern ist diese neue Welt der DiPAs grundsätzlich zwar positiv zu würdigen, zu viele Konstruktionsmängel prägen jedoch den vorgegebenen Leistungsrahmen. Somit fehlen sowohl auf Anbieter- als auch auf Nachfragerseite erforderliche Anreize, die den Trend der digitalen Transformation auch im Bereich der ambulanten Pflege positiv unterstützen.

Bei einem künftig anzustellenden Leistungsvergleich zwischen DiGAs und DiPAs wird auch die Anzahl der zur Verfügung stehenden DiGAs eine politisch bedeutsame Rolle spielen. Gegenwärtig und mit Stand 30. November 2022 stehen den rd. 72 Mio. gesetzlich Versicherten 33 DiGAs laut BfArM-Verzeichnis nach einer ca. zweieinhalb jährigen Implementierungsphase zur Verfügung, wobei psychische/psychosomatische Indikationen bisher das Angebotsspektrum dominieren. Man wird sehen, wie sich bei den DiPAs unter den geschilderten Rahmenbedingungen das Leistungsangebot quantitativ entwickeln wird und welche pflegerischen Versorgungsaspekte dabei in den Vordergrund rücken .

Grundsätzlich bleibt bei den DiPAs aber das Versäumnis erkennbar, dass der mögliche Digitalisierungsbedarf in der Pflege nicht vom Pflegebedürftigen selbst bzw. den unterstützenden Personen her bestimmt wird. Hinzu kommen die systembedingten finanziellen Benachteiligungen gegenüber den Nutzern von DiGAs. Viel entscheidender ist jedoch die Tatsache, dass die Nutzung einer DiPA vom Pflegebedürftigen selbst bei der Pflegekasse beantragt werden muss und dieser Antrag noch einen Genehmigungsprozess zu durchlaufen hat. Im Ergebnis zu viel Bürokratie und zu wenige Anreize für alle Beteiligten, der Digitalisierung in der Pflege zum Durchbruch zu verhelfen. Die alleinige Ausrichtung der Erstattungsregeln von DiPAs an den Grundprinzipien der Sozialen Pflegeversicherung kommt gegenüber den DiGAs einem Systembruch gleich, so dass die schöne neue Welt der DiPAs zwar dem DiGA-Ansatz ähnelt, im Ergebnis aber keineswegs vergleichbar ist mit entsprechenden Konsequenzen für die Anspruchsberechtigten und Anbieter digitaler Pflegeanwendungen.


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