Wettbewerb in der Hilfsmittelversorgung

BAS empfiehlt Rückkehr zum Status quo ante

Dr. Robert Paquet

Das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) hat die Qualität der Hilfsmittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung untersucht. Das Anliegen ist zweifellos richtig, da –  wie das Amt betont – eine „qualitativ hochwertige“ Hilfsmittelversorgung für „viele Menschen Grundvoraussetzung für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ sei und weil der entsprechende Markt vielfältig und unübersichtlich ist. Das BAS hat seine Erkenntnisse und Empfehlungen am 10.10.2022 in einem „Sonderbericht“ veröffentlicht[1] und – nach eigenen Angaben „systematisch“[2] – große Defizite in der Qualität der Hilfsmittelversorgung festgestellt.

Die im Zuständigkeitsbereich des BAS liegenden Kassen hätten keine ausreichende Anzahl an Verträgen für ihre Versicherten, kämen ihrer Informationspflicht nur „vereinzelt“ nach und würden die tatsächliche Qualität der Hilfsmittelversorgung nur unzureichend überprüfen. Im Fazit kommt das Amt zu dem Schluss, das „wettbewerbsbasierte Vertragsmodell“ habe sich nicht bewährt und empfiehlt zur „Zulassung der Leistungserbringer per Verwaltungsakt und landesweit einheitliche(n) Versorgungsverträge(n)“ zurückzukehren. Bei näherer Betrachtung erscheint die Analyse des Amtes keineswegs überzeugend, passt aber nahtlos zur generell wettbewerbsfeindlichen Haltung der Behörde und der aktuell maßgeblichen Gesundheitspolitik der Regierung. Dabei stellt die Empfehlung des BAS im Ergebnis eine Kapitulation vor der Qualitätsproblematik dar.

 

Der Sonderbericht – Ausgangspunkt und Rechtslage

Ausgangspunkt ist eine knappe Darstellung des Hilfsmittelbereichs der GKV. Dabei gibt das Amt als Anstoß für seine Untersuchung drei Punkte an: Im Jahr 2021 „erreichten das BAS zahlreiche Beschwerden, die über das Aktionsbündnis für bedarfsgerechte Heil- und Hilfsmittelversorgung für chronisch kranke und behinderte Kinder gesteuert wurden. … Beim Deutschen Bundestag ist am 19. Mai 2021 eine Sammelpetition eingereicht worden, die in der Hilfsmittelversorgung Defizite anprangert“ (11f.)[3]. Zweitens wird darauf verwiesen, „dass sich der Themenbereich ‚Hilfsmittel‘ unter den zehn häufigsten Beratungsthemen“ der UPD Patientenberatung Deutschland gGmbH (UPD) zu Leistungsansprüchen gegenüber Kostenträgern befindet (12). Drittens wird auf eine Studie verwiesen, die vom Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten in Auftrag gegeben wurde, die zeige, „an welchen Stellen Defizite in der Hilfsmittelversorgung vorhanden sind“[4].

Schon hier kommt der aufmerksame Leser ins Grübeln. So gibt das BAS selbst an, dass es z.B. im Jahr 2021 zum Thema Hilfsmittel 285 Eingaben erhalten habe (12). Bei der UPD seien 1.306 Beratungen zum Thema durchgeführt worden (13). Das sind angesichts von (im Jahr 2020) über 28 Millionen Versorgungsfällen (10) zwar keine irrelevanten, aber auch keine großen Zahlen. Dabei sollte beachtet werden, dass in dem erwähnten „Aktionsbündnis“ (neben Selbsthilfeorganisationen) eine große Zahl von Hilfsmittelherstellern und Sanitätshäusern etc. zusammengeschlossen sind[5], die naturgemäß den Einfluss der Kassen auf ihre Geschäfte begrenzen wollen.

Die IGES-Studie zu „Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch Krankenkassen“ von Juni 2017 bezieht sich auf die Zeit davor und konnte empirisch nur auf Daten der Jahre 2014 und 2015 zurückgreifen (dort Seite 19). Auch in ihren Empfehlungen (Seite 146ff.) ist sie sehr differenziert und rechtfertigt keinesfalls eine generelle Abkehr vom aktuellen Vertragsmodell. Dass die Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung im Hilfsmittelbereich sowie die Transparenz über die Angebote große Herausforderungen für alle Beteiligten darstellen, soll nicht bestritten werden. Dass es dabei auch immer wieder Mängel und Defizite gibt, ist nicht verwunderlich. Das ist der Vielfalt der Produkte und des Marktes geschuldet, aber auch der Widersprüchlichkeit und zunehmenden Komplexität der Regulierung. Im Grunde zeigt das auch die vom BAS im zweiten Kapitel beschriebene Gesetzes-Historie.

Im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 (GKV-WSG) war das „Ziel des Gesetzgebers, den Vertrags- und Preiswettbewerb im Hilfsmittelbereich zu stärken, um damit für das System der Gesetzlichen Krankenversicherung Kosten zu sparen, ohne dass dies allerdings zulasten der Versorgungsqualität gehen sollte. § 126 Abs. 1 Satz 1 SGB V sah insoweit vor, dass die Versorgung nur noch durch Vertragspartner der Krankenkasse erfolgen sollte“ (15). Die Krankenkassen konnten danach exklusive Versorgungsverträge nach § 127 Abs. 1 SGB V ausschreiben. Nur für individuell anzufertigende Hilfsmittel oder Versorgungen mit hohem Dienstleistungsanteil sollte keine Ausschreibung durchgeführt werden. Die Qualität der Versorgung sollte durch die im Hilfsmittelverzeichnis festgelegten Anforderungen an die Qualität der Versorgung und der Produkte sichergestellt werden (16). Diese Konstruktion war sicher gut gemeint, hatte aber einen permanenten und schwer lösbaren Konflikt in das System eingebaut.

 

Entwicklungen im Markt

In der Folge (und nach weiteren gesetzlichen Modifikationen) stellte das BAS fest, dass die „Krankenkassen eine starke Verhandlungsposition erlangt hatten, die verschiedentlich in problematischer Weise gegenüber den Leistungserbringern ausgenutzt wurde“ (18). Gaben die Krankenkassen Regelungen vor, die über die gesetzliche Grundlage hinausgingen, griffen „sie nach Auffassung des BAS in das Grundrecht der Berufsfreiheit der Leistungserbringer aus Art. 12 Abs. 1 GG ein“ (19). Nicht nur hier zeigt sich eine gewisse Schlagseite der BAS-Argumentation. Die Interessen der Leistungsanbieter am freien Marktzugang werden höher gewichtet als die Interessen der Kassen an einer kostengünstigen Versorgung. Das BAS schlussfolgert: „Es wurde deutlich, dass die Ausschreibung zunehmend zu einem reinen Preis- und nicht zu einem Qualitätswettbewerb führte. … Besonders deutlich wurde dies bei Inkontinenzprodukten, was vor allem dem veralteten Hilfsmittelverzeichnis geschuldet war“ (20). In der Folge wurde übereilt und geradezu panisch gehandelt: Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vom 11. Mai 2019 wurde die Ausschreibungsmöglichkeit wieder abgeschafft (23).

Dabei sieht das Amt durchaus die Folgen: „Krankenkassen und ihre Verbände sahen sich verstärkt Zusammenschlüssen von Leistungserbringern gegenüber, die aufgrund ihrer Marktmacht in Verhandlungen z.T. mit hohen Preisforderungen auftraten“ (24). Trotzdem stellt sich die gegenwärtige Rechtslage so dar: „Der Versicherte hat ein Wahlrecht. Die Krankenkassen dürfen nicht zu bestimmten Leistungserbringern steuern, weil sie hierdurch wettbewerbswidrig in den Markt der Hilfsmittelleistungserbringer eingreifen würden“ (24). Und noch einmal: „Eine Steuerung der Krankenkasse zu bestimmten Leistungserbringern ist bei jedweder Vertragskonstellation nicht zulässig, da die Krankenkassen damit in den Wettbewerb der Leistungserbringer untereinander eingreifen würden“ (28).

Außerdem wurde „mit dem GKV-OrgWG das Beitrittsrecht (weiterer Anbieter rp) gesetzlich etabliert. Dadurch wird verhindert, dass Krankenkassen Exklusivverträge mit einzelnen Leistungserbringern oder Gruppen von Leistungserbringern schließen und weitere Leistungserbringer dann keinen Zugang mehr zum Markt erhalten“ (30). Dass mit dieser Regelungssituation den Mehrkostenforderungen der Anbieter Vorschub geleistet wird, sieht das BAS zwar (26), hat für dieses Problem aber keine tragfähigen Lösungsvorschläge.

Überdies hat der Gesetzgeber die Kassen verpflichtet, den Inhalt der geschlossenen Verträge und die Vertragspartner bekannt zu machen, um allen interessierten Anbietern den Beitritt zu diesen Verträgen zu ermöglichen. Das BAS erklärt daher: „Die öffentliche Bekanntmachung ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass ein wirtschaftliches, transparentes und begründetes Verfahren stattfinden kann und eine wesentliche Bedingung der in § 127 Abs. 2 SGB V geregelten Beitrittsmöglichkeit“ (33). Das Amt stellt in der Folge fest, dass die Kassen diesen Transparenzverpflichtungen nicht in ausreichendem Maße nachkommen. Dabei ist die Begründung – wie es auch der Gesetzgeber gewollt hat –, den Anbietern den „möglichst freie(n) Zugang zur Versorgung der Versicherten zu ermöglichen. Die Schaffung von Wettbewerb unter den Leistungserbringern hat Vorrang vor der Informationskundgabe von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen, z.B. Preise und Haftungsregelungen. Stehen mehr Leistungserbringer als Vertragspartner der Krankenkassen zur Verfügung, kann der Versicherte demzufolge auch unter einer größeren Auswahl an Leistungserbringern wählen“ (35).

 

Widersprüchlichkeit der Ziele und Grenzen der Umsetzbarkeit

Man sieht: Die Rechtslage ist sehr komplex. Der Gesetzgeber hat die Rolle rückwärts gemacht und nun den Aspekt der Wirtschaftlichkeit der Versorgung dem Ziel der Qualitätssicherung untergeordnet. Die glaubt er am besten zu gewährleisten, indem eine möglichst große Zahl von Leistungserbringern Angebote machen. Wie es der Präsident des BAS, Frank Plate in seinem Vorwort (4) fasst: „Zur Sicherstellung der Patientensouveränität ist es jedoch unerlässlich, dass die Versicherten verständliche Informationen über die Versorgungsangebote ihrer Krankenkassen erhalten.“

Dabei ist die Orientierung in einem prinzipiell unübersichtlichen Markt schon schwierig genug. Hier von „Patientensouveränität“ zu sprechen, ist ziemlich kühn. Eine Vorauswahl wäre hier wichtig, zumal die meisten Anspruchsberechtigten kaum in der Lage sind, den Markt einzuschätzen. Es handelt sich überwiegend – wie das Amt selbst weiß – um beeinträchtigte, ältere und behinderte Menschen. Der Bericht versteigt sich an einer Stelle sogar zu folgender Einschätzung: „Darüber hinaus soll auch Transparenz über die Versorgungsangebote der übrigen Krankenkassen geschaffen werden, damit die Versicherten sich mündig entscheiden können, ob sie ggf. wegen besserer Versorgungsangebote bei anderen Krankenkassen einen Krankenkassenwechsel vornehmen“ (59). Bis hin zu dem Vorschlag, dass künftig „den Versicherten der Direktzugang zum Medizinischen Dienst (MD) ermöglicht werden (sollte), damit sie sich bei Fragen zur Qualität eines abgegebenen Hilfsmittels direkt mit dem MD in Verbindung setzen können“ (72). – Solche Überlegungen gehen an der Situation der meisten Anspruchsberechtigten völlig vorbei. Dass ein Vergleich der Hilfsmittelverträge verschiedener Kassen die Kassenwahl beeinflussen kann, mag zwar in den Begründungen von Gesetzentwürfen stehen, ist aber wirklichkeitsfremd.

Auch dass – nicht zuletzt – nach § 127 Abs. 5 ausgerechnet die Leistungserbringer die Versicherten „vor Inanspruchnahme der Leistung zu beraten (haben), welche Hilfsmittel und zusätzlichen Leistungen … für konkrete Versorgungssituationen im Einzelfall geeignet und notwendig sind“, ist eigentlich absurd und liefert die Versicherten den Interessen der Anbieter aus. Eine Vervielfältigung der Anbieter führt – jedenfalls aus der Perspektiver der Versicherten – nicht zu mehr, sondern eher zu weniger Transparenz. Keine Kasse kann tatsächlich die Einhaltung der Qualitätsversprechen bei allen Vertragspartnern wirksam kontrollieren. Diese Sinnentleerung eines Vertragsmodells entspricht aber offenbar dem Willen des Gesetzgebers. Man ist nach diesem Durchgang geneigt, dem BAS zu folgen und zu fragen: Warum dann überhaupt noch Verträge? Was bringt eigentlich der Wettbewerb?

Kaum verwunderlich, dass das BAS im nächsten Kapitel seiner Veröffentlichung feststellt, dass die „aufsichtsrechtliche Prüfung“ aller bundesunmittelbaren Kassen ergeben habe, dass „die Krankenkassen ihren gesetzlich auferlegten Pflichten des § 127 SGB V nicht durchgehend in einem ausreichenden und zufriedenstellenden Maße nachkommen“ (67). Das betrifft die Vertragsabdeckung, die Veröffentlichung der Vertragsinformationen, die Prüfungen zur Qualität der Versorgung etc. „Das Ziel des Gesetzgebers, dass Krankenkassen für die Versorgung mit Hilfsmitteln mit Leistungserbringern Verträge schließen, in denen sie maßgeblich Einfluss auf die Qualität der Versorgung und die Reduzierung von Aufzahlungen der Versicherten nehmen sollen“, sei noch nicht erreicht. „Diesen mit dem zum 1. April 2017 in Kraft getretenen HHVG erteilten gesetzlichen Auftrag können Krankenkassen nicht erfüllen, wenn sie nicht in ausreichendem Umfang Verträge nach § 127 Abs. 1 SGB V schließen“ (53). Hier muss gegen das BAS eingewandt werden, dass nicht die Anzahl der Verträge zur Qualitätssicherung beiträgt, sondern deren Inhalt entscheidend ist. Wenn aber Kassen beim Status quo spezifische bzw. höhere Qualitätsanforderungen explizit machen wollen, setzen sie sich dem Preisdiktat der Anbieter aus. Bundesweite Kassen haben zudem den Nachteil, dass sie in allen Ländern zu flächendeckenden Verträgen verpflichtet sind, während die Ortskrankenkassen nur für ihre Region(en) Verträge schließen müssen (70). Kleine Kassen seien dabei ohnehin – allein schon wegen des administrativen Aufwands – benachteiligt (53).

 

Schlussfolgerungen des BAS

Im Ergebnis kommt das BAS zu einer „‘radikale(n)‘ Abkehr von der wettbewerblichen Ausgestaltung der Vertragszulassung“ (69). „Gleichzeitig wird deutlich, dass es zu einer Angleichung des Preisniveaus bei Verwendung eines fast einheitlichen Vertragsmodells gekommen ist; von der beabsichtigten Vielfalt an Verträgen ist die Praxis also weit entfernt. Insgesamt führen diese Faktoren dazu, dass keine großen Unterschiede in der Versorgung bestehen“ (70). Und dann noch – in der Sache zutreffend – der argumentative Fallrückzieher: „Zudem spielt das Kriterium der Hilfsmittelangebote keine signifikante Rolle für Versicherte für die Wahl ihrer Krankenkasse“ (ebenda).

„Aus Sicht des BAS liegt daher die Frage nahe, ob sich die Hilfsmittelversorgung der Bevölkerung in der Gesetzlichen Krankenversicherung überhaupt als Wettbewerbsfeld eignet. Zumal gesellschaftspolitisch auch die Frage der gleichberechtigten Teilhabe aller Versicherten unabhängig von ihrer Krankenkassenzugehörigkeit berührt ist.“ Dabei ist die Tendenz der Argumentation nicht erstaunlich. Das BAS (damals noch als Bundesversicherungsamt) hat schon in seinem Sonderbericht „Zum Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung“ im April 2018 den massiven Abbau wettbewerblicher Spielräume und eine (noch) strengere aufsichtsrechtliche Gängelung der Kassen empfohlen[6]. Angesichts der Argumentationslogik der Behörde könnte man demnächst einen Angriff auf die Rabattverträge für Arzneimittel (als letztem verbliebenem und effektivem Wettbewerbsinstrument) erwarten, weil sie die Wahlfreiheit der Versicherten einschränken und in die Marktverhältnisse der Pharmaunternehmen eingreifen. Nach der Empfehlung des Amtes, in der Hilfsmittelversorgung zur Zulassung der Leistungserbringer per Verwaltungsakt und landesweit einheitlicher Versorgungsverträge zurückzukehren, würde sich die (unbefriedigende) Situation des Status quo weiter verschlechtern: Die Qualitätskontrolle wäre nur noch administrativ (durch das BAS und andere Behörden?) möglich, und den Mehrkostenvereinbarungen zu Lasten der Versicherten wäre Tür und Tor geöffnet.

 

Reaktionen

Erstaunlich ist, dass der „Sonderbericht“ des BAS von der Kassenseite bisher keine stärkeren Reaktionen hervorgerufen hat. Die Ortskrankenkassen ducken sich weg, weil sie nicht direkt angegangen werden. Von den vorgeschlagenen Gesetzesänderungen wären sie jedoch ebenfalls betroffen und müssten eigentlich ihre verbliebenen Spielräume verteidigen. Eine direkte Antwort gab es aber z.B. von der IKK Classic: Der Sonderbericht des BAS zeige zweifellos Verbesserungsbedarf. „Statt jedoch das gesamte Vertragsgeschehen in Frage zu stellen, seien Anpassungen am aktuellen Wettbewerbsmodell durchaus sinnvoll. So wurde den Kassen im Rahmen des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) 2019 beispielsweise die Möglichkeit genommen, wesentliche Qualitätsanforderungen bereits über Ausschreibungskriterien abzusichern.“ Diese Steuerungsmöglichkeit für die Kassen sollte wiederhergestellt werden[7].

Bemerkenswert und substantiiert ist vor allem die Stellungnahme des BKK Dachverbandes (zusammen mit den beiden Arbeitsgemeinschaften „GWQ Serviceplus AG“ und „spektrumK“, die für die Hilfsmittelverträge aller BKKen zuständig sind)[8]. Dort heißt es: „Aus der operativen Perspektive der Krankenkassen relativieren sich die Missstände deutlich, sofern man sie dann überhaupt noch als solche bezeichnen kann“. So wird die vom BAS festgestellte „deutliche Unterdeckung der Verträge nach § 127 Abs. 1 SGB V“ auf das schematische Erhebungsschema des Amtes zurückgeführt. „Das bloße Aufsummieren und Abgleichen von Hilfsmittelpositionen“ spiegele die echte Versorgungssituation nicht wider und führe – „wie durch das BAS vorgenommen – zu Fehlinterpretationen. Das BAS setzt Hilfsmittelpositionen mit geringen Versorgungsfällen mit den Hilfsmittelpositionen mit hoher Fallzahl- und Umsatzrelevanz gleich. So ergibt sich ein schiefes Bild, das sich in der Versorgung der Versicherten, gewichtet nach der Relevanz der einzelnen Produkte am Gesamtmarkt, aber völlig anders darstellt.“

In allen versorgungsrelevanten Produktgruppen sei die vertragliche Versorgung sichergestellt. „93 % der Versicherten erhalten ein Hilfsmittel auf Grundlage von Versorgungsverträgen nach § 127 Abs. 1 SGB V.“ Die Versorgungen in den Produktgruppen ohne Vertrag nach § 127 Abs. 1 SGB V machten nur einen minimalen Anteil an den gesamten Versorgungsfällen aus. Diese Versorgungen würden über Verträge nach § 127 Abs. 3 SGB V sichergestellt. Jenseits der Rahmenverträge handele es sich um fachlich begründete, sehr bewusste Entscheidungen. „Diese Versorgungen sind in der Regel zu individuell, als dass sie nach dieser vertraglichen Grundlage sinnvoll geregelt werden können. Ein Beispiel dazu wären die vom BAS angeführten Blindenführhunde“ (beim BAS-Sonderbericht S. 27). Das BAS setze das Fehlen eines Vertrages mit qualitativen und zeitlichen Nachteilen in der Versorgung gleich, „es wäre keine Teilhabe am sozialen Leben möglich“. Dies bleibe unbegründet und sei falsch. „Blindenhunde stellen eine hochindividuelle Hilfsmittelversorgung mit Lebewesen dar. Die Wartezeiten liegen nicht an vertragslosen Zuständen, sondern am Training des Hundes, der professionell und exakt auf den Versicherten ausgebildet wird.“ – Bestimmte Hilfsmittel sind eben nicht ‚von der Stange‘ zu haben.

Auch der Vorwurf, „insbesondere kleine Krankenkassen“ seien „mit der Sicherung der Hilfsmittelversorgung durch den Abschluss von Verträgen mit Leistungserbringern im gesamten Bundesgebiet überfordert“, treffe nicht zu. Denn alle 78 BKKen „arbeiten im Hilfsmittelmanagement mit Arbeitsgemeinschaften und Landesverbänden zusammen. Somit erreichen diese Krankenkassen eine bundesweite, vertragliche Flächendeckung.“ Auch kämen fast alle BKKen „der Transparenzverpflichtung gegenüber den Versicherten über die Vertragspartner nach.“ Hier arbeiteten Krankenkassen mit den elektronischen Informationssystemen bzw. Plattformen (z.B. HMM Deutschland GmbH und medicomp) sowie der Web-Applikation hello Hilfsmittel der GWQ. Darin würden zu nahezu allen Produktgruppen Informationen bereitgestellt und die Vertragspartner angezeigt.

Die vom BAS zur Transparenz geforderten „wesentlichen Vertragsinhalte“ (im BAS-Sonderbericht S. 59) seien dagegen „nicht nutzerorientiert“ und würden den Versicherten nicht weiterhelfen (Angabe Preis, Darstellung der Hilfsmittel nach 7-Stellern etc.). Diese Anforderungen würden auch von anderen Aufsichtsbehörden nicht geteilt (siehe 100. Aufsichtsbehördentagung). Außerdem seien sie „nach Einschätzung von Patientenvertretern weder adressatengerecht noch tragen sie dazu bei, das Hilfsmittelangebot einer Kasse beurteilen zu können.“

Auch der Vorwurf unzureichender Prüfung der Qualität wird unter Hinweis auf die Stichproben- und Auffälligkeitsprüfungen der Kassen zurückgewiesen. Man bediene sich hier ebenfalls der Arbeitsgemeinschaften. Beispielhaft wird hier auf aktuelle Versichertenbefragungen der GWQ bei 14 BKKen zu Bandagen und aufsaugende Inkontinenzartikel hingewiesen, die eine hohe Zufriedenheit mit der Versorgung auswiesen (83/85%). „Im Anschluss an die Beratung fand ein Mailing an auffällige Leistungserbringer sowie die Anforderung von Mehrkostenerklärung durch die teilnehmenden Krankenkassen statt.“

Abschließend wird in der BKK-Stellungnahme auf die „unvollständige“ Datenauswertung des BAS und seine „eigenwillige“ Interpretation hingewiesen. Allerdings sei es „richtig, dass es zu Reformbemühungen kommen muss, denn das eigentliche Problem wird vom BAS Sonderbericht nicht erfasst bzw. nur beiläufig erwähnt. Der Abschluss von Verträgen ist zunehmend erschwert. Seit dem Verbot von Hilfsmittelausschreibungen zeigt sich eine Monopolisierungstendenz bei Leistungserbringern und deren Verbänden: Für viele Produktarten wird nur noch ein Angebot von einem oder wenigen marktbeherrschenden Bietern mit hohen Preisforderungen abgegeben. Der Wettbewerb wird dadurch massiv eingeschränkt.“ Auf die Problematik habe das Bundeskartellamt bereits reagiert „und beispielsweise im Bereich Reha-Technik ein kartellrechtliches Verfahren gegen die Anbieter eingeleitet“.

Zusammenfassend heißt es in der Stellungnahme, „durch die fehlende Einflussmöglichkeit der Krankenkasse auf konkrete Produkte in den Versorgungsverträgen ist die Produktqualität der bereitgestellten Hilfsmittel an den Versicherten nicht gesichert und kann zu unbegründeten Mehrkosten für den Versicherten führen.“ Die Problematik der Monopolisierung und der damit einhergehenden Preissteigerung werde durch die Wiedereinführung des Zulassungsverfahrens nicht gelöst, sondern lediglich auf die Länderebene verlagert. Gemeinsame und einheitliche Verträge seien überdies „ein Innovationshemmnis“, z.B. für digital unterstützte Lösungen.

 

Zunehmendes Mistrauen gegen Kassen und Rückenwind von der Politik

Der Bereich der Hilfsmittelversorgung zeigt eindrucksvoll (so wie vom BAS dargestellt), mit welcher Hektik der Gesetzgeber in das Vertragsgeschehen eingreift. So kann sich überhaupt keine Vertragskultur entwickeln. Fast scheint es, dass die Politik nur darauf wartet, dass eine beteiligte oder betroffene Gruppe hörbar unzufrieden ist, um sofort wieder in die Prozesse einzugreifen. So hat der Gesetzgeber ein Regelwerk geschaffen, das alle überfordert. Im Bemühen um größtmögliche Transparenz entstehen Regeln, die zur Intransparenz führen. Zur Sicherung der Qualität werden Anforderungen festgeschrieben, die praktisch nicht erfüllbar sind. Eines scheint aber in den letzten Jahren sicher: Es gibt das „Feindbild Krankenkassen“, gegen die sich die Politik schützend vor die Versicherten stellen muss. De facto wirkt das zu Gunsten der Leistungserbringer, so wie man das – sogar explizit – in der vergangenen Wahlperiode am Beispiel der Heilmittelerbringer (für Physiotherapie) erlebt hat.

Der Wettbewerb, der mit der ersten rot-grünen Koalition Schritt für Schritt in einigen Leistungsbereichen des Gesundheitssystems eingeführt wurde, wird seit einiger Zeit wieder abgebaut. Der krasseste Eingriff war die Wiedereinführung des Selbstkostendeckungsprinzips für die Pflege im Krankenhaus. Inzwischen erklärt der Gesundheitsminister, die DRG sollten insgesamt abgeschafft werden[9]. Im Tweet von Karl Lauterbach am 23.10.22 liest man: „In der Krankenhausreform geht es jetzt zur Sache. Beginn: Kinderkliniken, Geburtshilfe und Tagesbehandlung Krankenhaus. Das Ziel ist immer das Gleiche: Weniger Ökonomie, weniger Belastung für Pflege und ÄrztInnen. Lobby und Bedenkenträger klagen leider schon.“

Das Paradigma, das lange Zeit für die Gesundheitspolitik bestimmend war, wird ad acta gelegt: Dass Krankenkassen als Sachwalter der Versicherten und der Beitragszahler eine Balance der Interessen herstellen sollen. Das Ziel von Effizienz – das ist die Kombination von Qualität und Wirtschaftlichkeit und steht hinter dem Begriff der „Ökonomie“ – wird inzwischen generell als unethisch diffamiert. Zum Ausdruck kommt das etwa auch im Referentenentwurf zur Neugestaltung der Unabhängigen Patientenberatung (UPD). Danach sollen GKV und PKV nur noch bei der Haushaltkontrolle mitreden dürfen; alle inhaltlichen Themen sollen dagegen für sie tabu sein.

Wenn diese Richtung beibehalten wird (und das hat schon bei Gesundheitsminister Gröhe angefangen und wurde von seinem Nachfolger Spahn forciert), wird die wettbewerbliche Ausrichtung der GKV nicht überleben. Wozu braucht man denn noch fast 100 Krankenkassen? Das Endspiel dürfte wohl noch nicht in dieser Wahlperiode stattfinden. Aber noch in diesem Jahrzehnt stehen die Landesanstalten für Krankenversicherung vor der Tür. Dann kann man sich auch den ganzen komplizierten Risikostrukturausgleich, die Wettbewerbsregeln und einiges andere mehr ersparen. Ein Regulierungsmodell wird abgewickelt, und das BAS spielt gegen die Kassen ziemlich vorne mit.

 

 

[1] https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/service/newsroom/detail/sonderbericht-des-bas-defizite-bei-der-hilfsmittelversorgung-fuer-gesetzlich-versicherte/ (Aufruf am 03.11.2022)

[2] Als Auslöser der Untersuchung des BAS werden z.B. immer wieder „Beschwerden“ und „Eingaben“ benannt, ohne deren Zahl, Herkunft und Inhalt näher anzugeben (z.B. S.16,19,24,28ff.). Statt eine transparente Grundlage zu schaffen, wird so Stimmung gemacht. Auch die aufsichtsrechtliche Prüfung bei den Kassen entpuppt sich eher als schematisch, denn als „systematisch“. Dazu mehr weiter unten.

[3] Seitenzahlen im Sonderbericht.

[4] IGES Institut: „Leistungsbewilligungen und –ablehnungen durch Krankenkassen“ in Zusammenarbeit mit Gerhard Igl, Autoren: Monika Sander, Martin Albrecht, Verena Stengel, Meilin Möllenkamp, Stefan Loos, Gerhard Igl. Studie für den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Berlin im Juni 2017.

[5] https://rehakind.com/der-verein/mitglieder/ (abgerufen am 1.11.2022)

[6] Vgl. meinen Kommentar „BVA fordert Reform der Aufsicht – Wettbewerbsbericht kritisiert Instrumente und die Kassen“ in Observer Gesundheit vom 12.04.2018. https://observer-gesundheit.de/bva-fordert-reform-der-aufsicht/

[7] Pressemitteilung vom 14. Oktober 2022

[8] https://www.bkk-dachverband.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/bkk-dachverband-zum-bas-sonderbericht-zu-hilfsmitteln-dokument-bildet-die-versorgungslage-nicht-ab  (abgerufen am 5.11.2022)

[9] Dass der Kronberger Kreis dagegen eine Erweiterung der selektivvertraglichen Möglichkeiten der Krankenkassen im stationären Bereich vorschlagen, kann nur noch in der Fußnote erwähnt werden. https://www.stiftung-marktwirtschaft.de/inhalte/publikationen/kronberger-kreis-studien/detailansicht/krankenhausversorgung-in-deutschland-diagnose-und-therapie/kronberger-kreis-studien/show/Publications/ (Seite 52) (Abruf 03.11.2022)


Observer Gesundheit Copyright
Alle politischen Analysen ansehen