BVA fordert Reform der Aufsicht

Wettbewerbsbericht kritisiert Instrumente und die Kassen

Dr. Robert Paquet

Vor 25 Jahren seien die Kassen mit der Einführung der freien Kassenwahl und des Risikostrukturausgleichs (RSA) „in den Wettbewerb entlassen“ worden. Dieses „Jubiläum“ nehme das Bundesversicherungsamt (BVA) „zum Anlass“, einen „Beitrag zur Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen“ des Wettbewerbs zu leisten. So heißt es in der Presseerklärung des BVA zur Veröffentlichung seines „Sonderberichts zum Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Im Bericht selbst findet sich dagegen kein „Jubel“ mehr zum Wettbewerb. Die vorgeschlagene „Weiterentwicklung“ besteht im massiven Abbau wettbewerblicher Spielräume und einer (noch) strengeren aufsichtsrechtlichen Gängelung der Kassen.

 

Der eigentliche Grund für den „Sonderbericht“ dürfte allerdings nicht das „Jubiläum“ sein: In der Diskussion über die Reform des RSA haben vor allem die der Aufsicht des BVA unterliegenden Kassen den Vorwurf erhoben, Unterschiede im Aufsichtshandeln seien eine wesentliche Ursache für die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Kassen. Darauf reagiert das BVA, setzt sich mit den erkennbaren Unterschieden zwischen Bundes- und Länderaufsichten auseinander und macht konkrete Vorschläge für Gesetzesänderungen. Hier liegt die fachpolitische Brisanz des Berichts. Die Auseinandersetzung über Bonusprogramme und Wahltarife ist nur ein Spektakel für das breite Publikum. Beginnen wir also mit dem Kern des Berichts.

 

Divergenzen der Aufsichtspraxis

In der Status-quo-Beschreibung des Aufsichtsrechts finden sich zwei interessante Begründungen für „divergierende Auslegungen“ durch die Behörden. Einerseits habe dies „seinen Grund in der Verwendung von unbestimmten und damit auslegungsfähigen Rechtsbegriffen durch den Gesetzgeber, nicht zuletzt aber auch, in der nicht immer klar formulierten Gesetzesnorm insgesamt.“ Andererseits werden für die „unterschiedliche Aufsichtspraxis“ auch die „jeweiligen Ressourcen“ der Aufsichtsbehörden verantwortlich gemacht: „Während das Bundesversicherungsamt mit derzeit 63 zu beaufsichtigenden Kassen auf einen differenzierten Aufsichtsapparat mit in den einzelnen Aufsichtsfeldern besonders qualifizierten und hochspezialisierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in allen Rechts- und Wirtschaftsfragen zurückgreifen kann, sind zuweilen in den Ministerien der Länder im Hinblick auf die geringe Anzahl der zu beaufsichtigenden Krankenkassen nur wenige Beschäftigte mit sämtlichen zum Teil ja sehr komplexen Fragen der Aufsicht befasst. So können zum Teil schon aus Ressourcengründen gar nicht alle relevanten Themen in der Tiefe und Breite behandelt werden, wie es erforderlich wäre.“ (S. 130).

In diesem Zusammenhang wird sogar ausdrücklich erwähnt, dass die Aufsicht politisch funktionalisiert werden kann: „Letztendlich kann ein Bundesland ein erhöhtes politisches Interesse an „seinen“ Krankenkassen, insbesondere den AOK’en als Versorgerkassen im Land haben.“ Während das BVA eine „selbständige Bundesbehörde“ und „laut Gesetz ausdrücklich bei der Ausübung seines Aufsichtsrechts auch nur allgemeinen Weisungen der Ministerien unterworfen“ sei, hätten die Landebehörden andere „Gestaltungsspielräume“ bei der „Gesetzesauslegung“. (S. 131)

In einem eigenen Kapitel werden (auf Basis von Dokumenten und den Experteninterviews) die „Unterschiede in der Prüfpraxis des Bundes und der Länder“ betrachtet (S. 139ff.). Dabei werden vor allem bei den Prüfungen nach § 274 Abs. 1 SGB V und § 46 Abs. 6 SGB IV Unterschiede festgestellt. Bei der Prüfung der „Geschäfts-, Rechnungs- und Betriebsführung“ sei trotz gemeinsamer Prüfrichtlinien und eines abgestimmten „Prüfthemenkatalogs“ „ein einheitliches Prüfniveau und eine einheitliche Prüfintensität nicht immer gewährleistet“ (S. 141). Auch das liegt nach Auffassung des BVA an der hohen Spezialisierung beim BVA. Andererseits könnten die Länder eine „entsprechende Differenzierung schon aufgrund geringerer Personalkapazitäten nicht im gleichen Umfang umsetzen“ (S. 140). Abschließend wird in dem Kapitel festgestellt: „Die Aufbauorganisation einer Prüfeinrichtung ist ein wesentlicher Faktor für den Prüferfolg. … Die thematische Ausgestaltung der Prüfung sowie die Prüftiefe liegen in der Zuständigkeit des jeweiligen Prüfdienstes und haben insoweit Auswirkung auf den Kassenwettbewerb.“ (S. 143).

Trotz solcher klaren Aussagen kann sich der Bericht jedoch nicht zu ebenso klaren Schlussfolgerungen durchringen: „Eine grundsätzlich unterschiedliche Aufsichtspraxis ist aus Sicht des Bundesversicherungsamtes jedoch nicht zu erkennen.“ Die „konkreten Einzelfälle einer unterschiedlichen Aufsichtspraxis“ seien „noch kein Beweis für gravierende systematische Wettbewerbsverzerrungen mit entscheidender Wettbewerbsrelevanz.“ (S. 131).

 

Reformvorschläge des BVA

Bei der Auseinandersetzung mit den aktuell diskutierten Reformvorschlägen (alleinige Aufsicht durch das BVA, funktionale Aufteilung zwischen Bundes- und Landesaufsicht, alleinige Aufsicht durch die Länder) wird dann zutreffend festgestellt, dass alle diese Optionen eine Grundgesetzänderung voraussetzen. Dafür wird keine ausreichende Mehrheit gesehen. Stattdessen wird auf die Rolle des BVA als Durchführungsbehörde des RSA gesetzt. Dazu gibt es verschiedene einfachgesetzliche Vorschläge, die zu einer Vereinheitlichung der Aufsichtspraxis (durch das BVA) führen könnten.

Zunächst wird festgestellt, dass sich die RSA-Strategien „sowohl bundes- als auch landesunmittelbarer Krankenkassen zur Einnahmeoptimierung unterhalb des Radars der Aufsichtsbehörden entwickelt“ hätten. „Mangels entsprechender Vorlage-, Anzeige- oder Genehmigungspflichten“ gelte das auch für „die daraus resultierenden Vertragsgestaltungen“. Erst nach und nach habe man bemerkt, „dass sich einzelne Krankenkassen unzulässig dauerhaft massiv finanzielle Vorteile zu Lasten aller anderen verschafft haben.“ (S. 135). Nach dieser Selbst-Exkulpierung des Amtes werden mehrere Maßnahmen vorgeschlagen. So würde die Einführung des „Vollmodells“ beim RSA (flankiert durch „einheitliche Kodierrichtlinien“) den „Anreiz zu Manipulationen“ senken. Hierzu bedürfe es „einer deutlichen Ausweitung der Prüfkompetenzen“ des BVA. Statt „lediglich rückwirkende Korrekturen vornehmen“ zu können, müsse das BVA „zukünftig in die Lage versetzt werden, bereits im Vorfeld rechtswidrige Datenerhebungen zu vermeiden. In diesem Zusammenhang muss dem Bundesversicherungsamt die alleinige Kompetenz obliegen, Versorgungsverträge im Hinblick auf ihre RSA-Relevanz einheitlich zu beurteilen.“ Dazu sei z.B. ein „Ausbau der Auskunftsrechte“ des BVA „insbesondere“ gegenüber „den Organisationen der Leistungserbringer …unabdingbar“. (S. 137).

Neben dem Appell an den Gesetzgeber, präzisere Gesetze zu machen (z.B. „Vermeidung von unbestimmten Rechtsbegriffen“), ist das Fazit: „Ein denkbarer Weg zur Vereinheitlichung der RSA-relevanten Rahmenbedingungen wäre ein Ausbau der Prüf- und Sanktionskompetenzen des Bundesversicherungsamtes als RSA-Durchführungsbehörde.“ (S. 139).

 

Aufbau des Berichts …

Die weiteren Kapitel des Berichts sind im Wesentlichen an den Zuständigkeiten der Aufsicht ausgerichtet. Die Themen, bei denen die Kassen mit dem Amt zu tun haben (müssen) und umgekehrt, prägen die einzelnen Abschnitte. Schon im ersten Satz staunt das BVA über die Entwicklung der letzten 25 Jahre: „Das Bundesversicherungsamt sieht sich in seiner Verwaltungs- und Aufsichtspraxis mit einem starken Wandel des Selbstverständnisses der gesetzlichen Krankenkassen konfrontiert.“ Die Träger verstünden sich heute eher als Unternehmen, die am „Betriebsergebnis“ orientiert seien. Auch das Verhältnis zum Versicherten habe sich verändert etc. (S. 6). Um diesen Veränderungen auf die Spur zu kommen, habe das Amt „hausinterne Datenbanken ausgewertet“ und mit Interviewleitfäden eine (ungenannte) Anzahl von „Experteninterviews“ geführt. Gesprochen wurde mit dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung, landes- und bundesunmittelbaren Krankenkassen, Arbeitsgemeinschaften und Landesaufsichtsbehörden etc.

Die Kassen bewegten sich in „einem Spannungsfeld zwischen öffentlich-rechtlichem Versorgungs- und Verwaltungsauftrag und kassenindividuellen Marketingstrategien zur Positionierung im Wettbewerb.[1] So stünden sie einerseits im „solidarischen Wettbewerb“[2], andererseits seien sie nach dem Sozialgesetzbuch zur Zusammenarbeit verpflichtet. Zentrale Aufgabe des BVA sei die Vermeidung von Risikoselektion (S. 7). Vor diesem Hintergrund hätten die Aufsichtsbehörden des Bundes und der Länder „Gemeinsame Wettbewerbsgrundsätze“ entwickelt, um „ein einheitliches Wettbewerbsverhalten der Krankenkassen auf Bundes- und Landesebene sicherzustellen.“ (S. 9). Etwas resignierend wird jedoch konstatiert: „Aufgrund der föderalen Aufsichtszuständigkeit und der Interpretationsspielräume der Aufsichtsbehörden ist aber nicht zu vermeiden, dass es im Einzelfall zu unterschiedlichen Bewertungen von Sachverhalten kommt.“ (ebenda)

Bereits in dieser Einleitung zeigt sich, dass alle Bewertungen von Einzelsachverhalten auf schwankenden Boden stehen und von ordnungspolitischen Perspektiven bzw. Vorlieben geprägt sind. Folglich bedauert das BVA auch, „dass das Wettbewerbsmodell der GKV kein in sich geschlossenes Regelwerk ist“ (S. 10). In seinem Streben nach einem „geschlossenen“ Weltbild löst das BVA das „Spannungsverhältnis“ bei jeder Einzelbewertung regelmäßig in Richtung strikterer Gesetzesvorgaben und Aufsichtsrechte auf. Vielfalt ist der Aufsicht ein Graus. Konsequenterweise wird die „Konzentration des Krankenkassenmarktes“ gelobt. Auf Bundesebene sei das trotz des „erheblichen Rückgangs der Zahl der Krankenkassen“ kein Problem; es gebe noch genügend Wahlmöglichkeiten. „Auf Länderebene liegt die Marktführerschaft jedoch meist bei den AOK’en.“ (S. 18). Aber auch diese Feststellung löst bei den Autoren keinerlei Bedenken aus.

 

… und generelle Wettbewerbs-Skepsis

In Folge werden die Bereiche abgearbeitet, in denen die Kassen individuelle Gestaltungsspielräume haben. So seien Satzungsleistungen (S. 28ff.) durchaus wettbewerbsrelevant. „Auf der anderen Seite birgt die Eröffnung der zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Kassen vor dem Hintergrund des Wettbewerbsdrucks auch Risiken. Denn es ist zu vermuten, dass Wirksamkeit, Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit der Leistungen in der Regel eher eine untergeordnete Rolle spielen.“ Die Zusatzangebote würden „Selektionsprozesse begünstigten“. Das BVA sei aber machtlos: Da sich die Prüfung des BVA „bei der Genehmigung von Satzungsneufassungen und Satzungsänderungen auf reine Rechtmäßigkeitsfragen beschränkt, besteht auf Grund der aktuellen Rechtslage keine Möglichkeit, die Kostenübernahme für gegebenenfalls unwirksame bzw. nicht durch den Gemeinsamen Bundesausschuss bewertete Leistungen (gemeint sind insbesondere Osteopathie und Homöopathie– der Autor) abzulehnen. Eine wesentliche Verbesserung der Versorgung im Hinblick auf einen Qualitätswettbewerb erscheint aus hiesiger Sicht fraglich.“ (S. 43). Zugestanden wird, dass es Satzungsregelungen landesunmittelbarer Krankenkassen gibt, die das Bundesversicherungsamt nicht genehmigen würde. Allerdings handele es sich nur um sehr wenige Regelungen bei kleinen Kassen, die im Wettbewerb nicht relevant seien (S. 40f.).

Auch bei den verschiedenen Selektivverträgen (S. 43ff.) seien die Kassen sehr aktiv. Die Gestaltungsspielräume würden aber weniger dazu genutzt, „neue innovative Versorgungskonzepte zu entwickeln“, sondern eher „offensiv zu Marketingzwecken“ (S. 52). Auch hier beklagt das Amt aus der „Aufsichtspraxis“ bekannt gewordene Selektionsinstrumente, wie z.B. „diskriminierende Teilnahmebeschränkungen“, die unter werblichen Gesichtspunkten zur Risikoselektion dienen können (S. 51). Bei den „Versorgungsschwerpunkten“ gehe es weniger um Integrationsversorgung, als um „einzelne Leistungen“, die für „Marketingzwecke“ nützlich seien. Hierzu zählen etwa „homöopathische Erst- und Folgenanamnesen und die professionelle Zahnreinigung“ (S. 53).

Naturgemäß kritisiert das Amt die „Zweckentfremdung von Selektivverträgen“ zur Diagnosemaximierung im Rahmen der „sog. Betreuungsstrukturverträge“ (S. 54).Auch bei den Hausarztverträgen sei das zu beobachten: „Es lässt sich aus Sicht des Bundesversicherungsamtes … feststellen, dass die Verträge … von den Krankenkassen auch dazu genutzt werden, um Einfluss auf ihre Zuweisungen aus dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zu nehmen und sich so auf ihrer Einnahmenseite einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.“ Der Zahlung der sog. „Chronikerpauschale“ stünden meist keine (zusätzlichen) ärztlichen Leistungen gegenüber. Insoweit sei die Konstruktion nach Auffassung des BVA „rechtswidrig“. „Leider konnte in diesem Punkt mit den Landesaufsichtsbehörden keine Übereinstimmung erzielt werden.“ (S. 46).

Außerdem glaubt das BVA offensichtlich der einzigen Evaluation eines solchen Vertrags (für die AOK Baden-Württemberg) nicht, und fordert mehr „gesicherte Erkenntnisse, … ob diese Versorgungsform auch tatsächlich eine Verbesserung der Versorgung für die Versicherten zur Folge hat.“ (ebenda). Die Aufsichtsbehörden seien zwar „bestrebt“, diesbezüglich möglichst einheitlich zu handeln. „Es ist aber darauf hinzuweisen, dass eine vollständige Angleichung der Aufsichtsführung an der Stelle schwer zu erreichen ist, da die einzelne Aufsichtsbehörde über Spielraum bei der Interpretation der Gesetze verfügt und außerdem im Rahmen ihrer jeweiligen Ermessensausübung einzelfallbezogen die Entscheidung treffen muss, ob sie bei einer festgestellten Rechtsverletzung tatsächlich auch einschreitet.“ (S. 59). Im Ergebnis fordert das Amt, Selektivverträge generell nach den „Regelungen für Modellvorhaben“ zu evaluieren und die „Wiedereinführung einer Anzeigepflicht“. (S. 145).

Ein ähnliches Bild zeigt sich für das Amt bei den Wahltarifen (S. 59ff.). Es macht sich die Kritik zu eigen, einige dieser Tarife seien entsolidarisierend und plädiert kaum verkleidet für ihre Abschaffung (S. 67 und 146). „In der Genehmigungspraxis ist festzustellen, dass die Landesbehörden Wahltarife genehmigen, die nach Auffassung des Bundesversicherungsamtes rechtswidrig sind. So hält das Bundesversicherungsamt etwa Wahltarife zur Kostenerstattung für einzelne Leistungen (z.B. Zahnersatz, Ein- und Zweibettzimmer, Auslandsaufenthalt, Krankenhauszuzahlung und Versorgung mit Sehhilfen) für rechtswidrig, da § 13 Abs. 2 Satz 4 SGB V eine Einschränkung der Wahl der Kostenerstattung nur auf ganze Leistungsbereiche zulässt.“ (S., 65).

Bei den Bonusprogrammen (S. 68ff.) wiederholt sich diese Einschätzung: Auch hier zeige sich eine „gelegentlich unterschiedliche Genehmigungspraxis von Bund und Ländern“ (S. 74), auch wenn es sich nur um Einzelfälle bei kleineren Kassen handele. Außerdem werde die Wirtschaftlichkeit dieser Programme „unterschiedlich ermittelt“ und insgesamt nicht überzeugend dargetan. Auch zur Prävention wird kritisch festgestellt: „Der Krankenkassenwettbewerb verleitet die Krankenkassen eher dazu, in verhaltensbezogene individuelle Freizeit- und Wellnessangebote zu investieren, um neue und vor allem junge, gesunde, sowie gut verdienende Versicherte anzulocken.“ (S. 82). Zusammenfassend schlägt das BVA vor, „über den Fortbestand der gesetzlichen Regelungen zur Entwicklung von Bonusprogrammen nachzudenken.“ (S. 147).

 

Haftungsverbund und Vertragskonstruktionen

Bemerkenswert ist, dass sich das BVA (vorsichtig) gegen den Vorschlag des RSA-Beirats stellt, die kassenartbezogenen Haftungsverbünde aufzugeben. Der Beirat „erkenne“ zwar, „dass die Umwandlung der Subsidiär- in eine Primärhaftung des GKV-Spitzenverband einen tiefgreifender Eingriff in die Haftungsarchitektur der GKV darstellt, der zunächst einer eingehenden Prüfung der möglichen Auswirkungen bedarf.“ (S. 103). Es sei durchaus zutreffend, dass die „Krankenkassen unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Kassenart in Konkurrenz und Wettbewerb stehen“ und „die finanzielle Tragfähigkeit der Haftung einer Kassenart bei Schließung von großen Krankenkassen fraglich ist.“ (S. 104). Gegen einen Wegfall der kassenartbezogenen Haftung spreche aber: „Die „soziale Kontrolle“, der Druck im „eigenen Lager“ der Kassenart, der bei der Haftungsprävention eine entscheidende Rolle spielt, würde wegfallen. Die Erfahrung zeigt außerdem, dass die Haftungsprävention der Kassenarten eine wertwolle Unterstützung der Aufsicht darstellt, da die unterstützenden Krankenkassen durch ihre tiefgehenden Kenntnisse des tatsächlichen Kassenhandels vor Ort unverzichtbare Praxiserfahrung mit einbringen.“ (S. 105). – Eine Einschätzung des BVA, die der Autor aus eigener Erfahrung für wenig realitätsnah hält und sich nur aus der tiefen Sehnsucht des BVA nach Beibehaltung des Status quo der Kassenarten und ihrer Landesverbände erklären kann.

Auch bei der Betrachtung der „Verträge mit Leistungserbringern“ zeigt sich ein eigenartiges Verständnis des BVA vom Wettbewerb und die Vorliebe für eine „gemeinsame und einheitliche“ Vertragsgestaltung. So wird z.B. kritiklos festgestellt: „Aufgrund der regionalen Ausrichtung der AOK’en mit einem Marktanteil von über 40 Prozent in einer Region, gelingt es dieser Kassenart besonders gut, wirtschaftliche Verträge abzuschließen.“ (S. 108). Und gelobt: „Viele Krankenkassen arbeiten im Versorgungsvertragsgeschäft und beim Abschluss von Rabattverträgen zusammen, um ihr Nachfragepotenzial gegenüber den Leistungserbringern und Herstellern zu bündeln. Dies hat regelmäßig einen positiven Einfluss auf die Preisverhandlungen.“ (ebenda). Auch das entschiedene Eintreten des BVA für die umstrittenen Versorgungsverträge mit Hilfsmittel-Erbringern nach § 127 SGB V (und gegen Ausschreibungen und Open-house-Verträge) führt letztlich zu einer Vereinheitlichung und Entwettbewerblichung dieses Leistungsbereichs (S. 109ff.).

 

Auswirkungen auf die Versicherten

In einem eigenständigen Kapitel beschäftigt sich der Bericht mit den „Auswirkungen des Wettbewerbs auf das Verhältnis zwischen Krankenkasse und Versicherten“ (S. 119). Im Fazit wird festgestellt: „Die Möglichkeit der freien Krankenkassenwahl hat in der Art der Kommunikation zwischen den Krankenkassen und ihren Versicherten durchaus zur Verbesserung beigetragen.“ Allerdings gebe es zahlreiche Verstöße gegen verwaltungsrechtliche, sozial- und datenschutzrechtliche Anforderungen. Verschiedene Aktivitäten der Kassen zielten auf Risikoselektion, die „im Widerspruch zu den Grundsätzen eines solidarischen Wettbewerbs“ stehe und „zugleich den Gleichheitsgrundsatz“ verletze (S. 128).

Die Veränderung der Kommunikation habe damit auch ihre Schattenseiten. So verweist das Amt auf den Anstieg an Beschwerden von Versicherten, von Widersprüchen und sozialgerichtlichen Verfahren. Die Gründe dafür „lassen sich nicht allein mit einer gesteigerten Emanzipation oder Anspruchshaltung der Versicherten erklären.“ Verwaltungsrechtliche Maßstäbe würden zunehmend vernachlässigt. „So bedienen sich viele Krankenkassen einer vereinfachten und damit vermeintlich kundenfreundlicheren Behördensprache, die aber oft die Möglichkeit eines verwaltungsaufwendigen und teuren Widerspruchsverfahrens verschleiert.“ (S. 120). So fehle bei Bescheiden immer wieder die zwingend vorgeschriebene schriftliche Rechtsmittelbelehrung. Versicherte könnten häufig die Ablehnungsbescheide der Krankenkassen nicht mehr nachvollziehen etc. (S. 121).

Bei der Mitgliederwerbung stellt das Amt „in der Aufsichtspraxis fest, dass Krankenkassen in gewisser Weise Risikoselektion betreiben.“ Zielgruppenvereinbarungen zwischen Krankenkassen und externen Werbern orientierten sich z.B. nach Deckungsbeitragsquoten (S. 123). Versicherte mit vermeintlich guten Risiken erhielten selbst rechtswidrige Leistungen häufig „aus Kulanz“. Auch die Terminserviceleistungen einiger Kassen wirkten selektiv und damit „entsolidarisierend“ (S. 125). Schließlich trage die zunehmende Nutzung digitaler Kommunikationsformen zur „indirekten Risikoselektion bei“ (zu Gunsten junger und gesunder Versicherter), während gleichzeitig die Geschäftsstellenzahl der Krankenkassen „drastisch“ sinke (S. 125).

 

Zusammenfassung

Aus der Praxis der Aufsicht ergibt sich naturgemäß eine Wahrnehmung des Wettbewerbs, bei der Rechtsprobleme und wettbewerbswidriges Verhalten von Kassen im Vordergrund stehen. Insoweit wirkt die Feststellung im „Ausblick“ des Berichts, dass sich die „wettbewerbliche Ausgestaltung des GKV Systems … nach Einschätzung aller Experten im Gesundheitswesen im Wesentlichen bewährt“ habe, etwas aufgesetzt. Die Summe der im Bericht dargelegten Befunde und die Schlussfolgerungen des Amtes weisen dagegen in eine andere Richtung. Vor allem fehlt dem BVA das Verständnis dafür, dass Wettbewerb, der nicht zu merkbaren Unterschieden im Kassenhandeln führt, sinnlos ist. Fast alle Vorschläge des Amtes führen daher zu einer Einschränkung der Differenzierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Kassen, statt zu ihrer mit der solidarischen Wettbewerbsordnung vereinbaren Ausweitung.

Andererseits werden die im Einzelnen durchaus dargestellten Unterschiede in der Aufsichtspraxis zwischen Bund und Ländern im Fazit heruntergespielt. Vermutlich aus politischen Rücksichten wird den (oben breit zitierten) Feststellungen die Spitze abgebrochen; im Ergebnis wird ohne nähere Prüfung behauptet, diese Unterschiede seien eben doch nicht wettbewerbsentscheidend. Das werden die Kritiker des aktuellen RSA anders sehen und finden für ihre Position durchaus gute Argumente in dem Bericht.

Schließlich ist bemerkenswert, dass sich das Amt – hier offenbar ohne größere Bedenken – bei seinen politischen Bewertungen sehr weit aus dem Fenster lehnt. Wenn es die im Bericht häufig zitierten Absichten des Gesetzgebers, dem Wettbewerb der Kassen größere Spielräume zu geben, ernst nähme, hätte man andere Vorschläge erwartet. Das Gegenteil ist der Fall. Die politischen Kräfte, die den Wettbewerb der Kassen grundsätzlich abschaffen wollen, finden in dem Bericht reiches Material für ihre Position.

Der Wettbewerbsbericht identifiziert den Wettbewerb selbst überwiegend als entsolidarisierend und als nutzlos für die Versicherten. Die Quintessenz des Amtes ist dementsprechend und pro domo: „Es ist Aufgabe der Aufsichts- und Prüfbehörden des Bundes und der Länder, wettbewerbswidrige Verhaltensweisen der Krankenkassen zu unterbinden. Hierfür benötigen sie ausreichende Personal- und Sachmittel sowie effiziente Aufsichtsmittel.“ (S. 153, letzter Satz des Berichts). Wenn die Vorschläge des Amtes umgesetzt würden, müsste es keinen weiteren Wettbewerbsbericht mehr schreiben.

 

[1] auch Seite 119 etc.

[2] In der Fachdiskussion geht es um die „solidarische Wettbewerbsordnung“. Die im Bericht durchgängig benutzte und bekanntermaßen unsinnige Formel vom „solidarischen Wettbewerb“ muss bereits als Ausdruck der insgesamt abwertenden Haltung des BVA zum Wettbewerb der Kassen gelesen werden.

 


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