Volle Wartezimmer haben auch systembedingte Gründe

Andrea Galle, Vorständin der BKK VBU

Unter dem Eindruck der Debatte um Versorgungsengpässe, überfüllte Notfallambulanzen und lange Wartezeiten auf Facharzttermine nimmt das Thema „Zugang zu ambulanter Versorgung“ im aktuellen Koalitionsvertrag vergleichsweise viel Raum ein. Die Regierung möchte unter anderem die Terminvergabestellen ausbauen. Damit pflegen wir allerdings das Problem und widmen uns der Frage: Wie steuern wir die Menschen zu Ärzten, die freie Restkapazitäten haben? Was wir nicht fragen: Gehören eigentlich alle Menschen, die in deutschen Wartezimmern sitzen, dort hinein?

Nach Erhebungen der OECD hat jeder Mensch in Deutschland im Schnitt zehn Arztkontakte im Jahr. Das ist Platz fünf unter den OECD-Ländern, gleich hinter Korea, Japan, Ungarn und der Slowakei. In Finnland und Norwegen sind es 4,3. In Schweden sogar nur 2,9. Kaum jemand käme wohl auf die Idee, dass die Menschen in Skandinavien deswegen weniger gesund seien als in Deutschland.

Es geht nicht darum, dass wir Menschen daran hindern sollten, zum Arzt zu gehen, wenn es medizinisch geboten ist. Aber wir sollten darüber reden, dass es Ursachen gibt, die wir als System gesetzt haben – und damit zur Überfüllung von Wartezimmern beitragen.

Ein Beispiel: Ein gut eingestellter Chroniker, der seit Jahren beschwerdefrei mit dem gleichen Arzneimittel versorgt wird, bekommt trotzdem nur ein Rezept für maximal 100 Tage. Danach muss er zum Arzt, der ihn vielleicht ohnehin jedes Quartal einmal einbestellt, denn dann kann er die Grundpauschale für diesen, meist recht unkomplizierten Patienten berechnen. In Fachkreisen spricht man auch leicht zynisch von „Verdünnern“, also Patienten, die wenig Aufwand machen. Aber diese „Verdünner“, auch wenn sie unaufwändig sein mögen, tragen eben doch zur Verstopfung der Wartezimmer oder zumindest zu vollen Terminbüchern bei.

Und das manchmal sogar noch mit der ausdrücklichen Billigung durch uns Krankenkassen. Wenn der Patient nämlich nicht zweimal im Jahr in der Praxis auftaucht, ist er kein Chroniker und wir erhalten keine Zuweisung aus dem Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (M-RSA). Wenn dies auch nicht der einzige Grund ist, den Einbezug der ambulanten Arztdaten in den M-RSA kritisch zu beäugen, so wäre es doch ein weiterer Grund, diese Daten aus dem M-RSA herauszunehmen.

Warum dürfen Mediziner in den Fällen, in denen es therapeutisch vertretbar ist, nicht einfach mal ein Jahresrezept ausstellen, das beispielsweise beim Apotheker des Vertrauens zur kontrollierten Abgabe hinterlegt wird? So wiederholt sich alle paar Monate ein unnötiger Pflichttermin für alle Beteiligten – auch für die latent genervten Patienten, die nur ihr Rezept wollen.

Der Anreiz für den Arzt, diese Patienten quartalsweise „vorzuladen“ liegt begründet in der Systematik der quartalsweisen Abrechnung. Eine Systematik, die aus einer Zeit kommt, als das System wortwörtlich eine Zettelwirtschaft war, weil einmal im Quartal die Behandlungsscheine bei der Kassenärztlichen Vereinigung eingereicht wurden. Diese Systematik sollten wir in digitalen Zeiten hinterfragen.

Stichwort fehlende und freie Terminkapazitäten: In der deutschen Hauptstadt kann man das Problem auf relativ engem Raum am Beispiel der Kinder- und Jugend-Psychotherapeuten illustrieren. Im eher einkommensschwachen Berlin-Marzahn sind nur 38 Prozent der zulassungsfähigen Arztsitze besetzt. Im noblen Berlin-Charlottenburg sind 361 Prozent mehr Therapeuten zugelassen, als nach Bedarfsplanung notwendig wären. Ärztliche Versorgung sollte wohnortnah erfolgen – gerade bei Kindern. Die Anbieterdichte auszugleichen, ist ein schwieriges und langwieriges Unterfangen. Hier kann die Einführung telemedizinischer Leistungen zumindest zunächst ein Ventil bieten. So bietet die BKK VBU, wie auch andere Krankenkassen, mit einem Partner zusammen mittlerweile unter anderem im Bereich Psychotherapie digitale und distanzüberwindende Beratung an.

Wir führen derzeit flächendeckend die Telematikinfrastruktur in allen Arztpraxen ein. Der Ärztetag hat gerade das Fernbehandlungsverbot gelockert, viele neue telemedizinische Leistungen werden in den kommenden Jahren das medizinische Angebot erweitern und bereichern. Insbesondere bei der Versorgung von Chronikern sollten wir die Potenziale der Telemedizin nutzen.

Dazu bedarf es auch einer umfassenden EBM-Reform, die die Etablierung telemedizinischer Strukturen ausdrücklich befördert und – ggf. im Zusammenspiel mit mehr ärztlicher Delegation an medizinisches Fachpersonal – die Wartezimmer entlastet. Diese nächste Reform des EBM sollte freilich schneller auf den Weg gebracht werden als die laufende, die noch immer auf ihre Umsetzung wartet.

Wir sollten die Anpassung ans digitale Zeitalter nicht auf einem analogen Fundament vornehmen.


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