DiGA und DiPA – Millionen Menschen bleiben außen vor

Maike Baluch

Benedikt Beyer

Dr. Martin Walger

Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung haben Anspruch auf Versorgung mit Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), Pflegebedürftige haben Anspruch auf Versorgung mit Digitalen Pflegeanwendungen (DiPA). So ist es in § 33a SGB V und in § 40a SGB XI formuliert. Allerdings besteht aufgrund einer unvollständigen Definition von Medizinprodukten im § 33a SGB V, auf den auch die gesetzliche Pflegeversicherung verweist, für gesetzlich Krankenversicherte und für Pflegebedürftige kein Anspruch auf Versorgung mit allen für sie zweckmäßigen DiGA und DiPA.

Konkret betrifft dies Software, die Daten aus dem eigenen Körper auswertet, gewonnen beispielsweise aus Kapillarblut oder Urin. Solche Informationen könnten Patientinnen und Patienten mit einer entsprechenden DiGA helfen, ihre Krankheit besser zu managen. Pflegende Angehörige könnten mit einer entsprechenden DiPA den Zustand des Pflegebedürftigen besser im Blick behalten.

Die „App auf Rezept“ bleibt im Fokus der Gesundheitspolitik. Das Bundeskabinett beschloss Ende August den Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz – DigiG). Ein explizites Ziel dieses Gesetzes ist es, DiGA noch besser für die Versorgung nutzbar zu machen und tiefer in Versorgungsprozesse zu integrieren sowie weitergehende Versorgungsszenarien wie telemedizinisches Monitoring zu ermöglichen. Zur Umsetzung dieser Ziele sollen Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) auf Medizinprodukte höherer Risikoklassen ausgeweitet werden – konkret auf die Risikoklasse IIb nach der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (MDR). Für die Weiterentwicklung von DiGA ist dies aber nur bedingt eine gute Nachricht. Denn große Patientengruppen sowie Pflegebedürftige und ihre Angehörigen werden von dieser Erweiterung nicht profitieren. Und dies, obwohl sie in vielen Fällen sogar ein GKV-finanziertes Hilfsmittel nutzen, um Informationen über individuelle gesundheitsrelevante Parameter zu erhalten.

 

Potenzial wird nicht ausgeschöpft

Welche Potenziale bleiben ungenutzt? Und welche Maßnahmen sind geeignet, sinnvolle DiGA in die Gesundheitsversorgung zu integrieren? Um diese Fragen beantworten zu können, ist ein kurzer Blick auf die regulatorischen Rahmenbedingungen erforderlich. Eine DiGA ist eine Software als Medizinprodukt. Die Zulassung solcher Software ist europaweit rechtlich geregelt. Sie kann entweder nach der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (MDR) oder nach der Verordnung (EU) 2017/746 über In-vitro-Diagnostika (IVDR) in Verkehr gebracht werden. Die Einordnung in die jeweilige Regelung wird durch die Zweckbestimmung und die Herkunft der in der Software verarbeiteten Rohdaten bestimmt. Vereinfacht gesagt: Stammen die in der Software verarbeiteten Rohdaten aus einem In-vitro-Diagnostikum, so ist diese Software gemäß der IVDR in Verkehr zu bringen. In-vitro-Diagnostika wiederum liefern Informationen über physiologische oder pathologische Prozesse bzw. Zustände und zwar durch Proben, die aus dem menschlichen Körper stammen.

Das klingt eindeutig nach DiGA und DiPA, wird der eine oder andere jetzt denken. Genau richtig. Der rechtliche Weg, das Potenzial solcher Daten auszuschöpfen, ist aber derzeit nicht gegeben. Die Definition Digitaler Gesundheitsanwendungen in § 33a SGB V stellt ausschließlich auf die Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (MDR) ab. Der Versorgungszugang für DiGA und DiPA, die auf Rohdaten aus In-vitro-Diagnostika zugreifen, bleibt vollständig versperrt. Denn für diese Produkte ist, wie oben dargelegt, ein anderer Rechtsrahmen relevant und zwar die Verordnung (EU) 2017/746 über In-vitro-Diagnostika (IVDR). Um den gordischen Knoten zu durchschlagen und DiGA-Potenziale besser zu nutzen, muss die Verordnung (EU) 2017/746 über In-vitro-Diagnostika im § 33a SGB V einbezogen werden.

 

IVD-DiGA diagnostizieren keine Krankheiten

Mit einem weit verbreiteten Missverständnis ist an dieser Stelle aufzuräumen. Bei DiGA als IVD geht es nicht darum, Krankheiten zu diagnostizieren. Schon gar nicht sollen ärztliche Diagnostik und Therapie durch eine Gesundheits-App ersetzt werden. Es geht vielmehr darum, einen Mehrwert durch die Speicherung, den Abruf und die Verknüpfung einzelner Daten aus In-vitro-Diagnostika zu gewinnen. Während heute zugelassene DiGA bspw. Gewicht, Schmerzempfinden oder weitere Selbsteinschätzungen einbeziehen, setzen IVD-DiGA auf objektive messbare Parameter aus dem eigenen Körper. Mit solchen DiGA könnten Patientinnen und Patienten ihre Krankheit besser überwachen, die Adhärenz sowie die Sicherheit und Souveränität im Umgang mit der Krankheit erhöhen sowie die persönliche Gesundheitskompetenz stärken. Damit können IVD-DiGA dazu beitragen, krankheitsbedingte Herausforderungen zu bewältigen, den Therapieaufwand zu reduzieren und trotz Erkrankung die Gesundheit zu erhalten.

Die folgenden Beispiele zeigen mögliche auf IVD-Daten basierende DiGA und DiPA, die bereits heute für Millionen von Patientinnen und Patienten, Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen in Frage kommen.

Beispiel 1: IVD-DiGA und Diabetes: Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 erhalten als gesetzlich Krankenversicherte bei konventioneller Insulintherapie Blutzuckerteststreifen zur Kontrolle der Blutzuckerwerte in Eigenanwendung. Die Teststreifen werden mit einem Blutzuckermessgerät ausgelesen, das als Hilfsmittel dem Patienten im Rahmen der bestehenden GKV-Leistungen zur Verfügung gestellt wird. Die Rohdaten aus dem Gerät können von einer DiGA gespeichert, mit anderen Daten verknüpft und weitergehend analysiert werden, um dem Patienten zu helfen, seine Krankheit zu verstehen und ihn zu motivieren, sie besser zu managen. In Deutschland sind mehr als acht Millionen Menschen von Diabetes Typ 2 betroffen.

Frauen, die während ihrer Schwangerschaft einen sogenannten Gestationsdiabetes entwickeln, haben ebenfalls Anspruch auf Blutzuckerteststreifen.  Auch hier kann eine IVD-DiGA dazu beitragen, das Datenmanagement zu verbessern, Schwangerschaftsdiabetes als Frühsignal zu verstehen und einen gesunden Lebensstil zu fördern. Jede 13. Frau entwickelt während der Schwangerschaft einen Gestationsdiabetes.

Beispiel 2: IVD-DiGA bei Asthma: Ein Patient mit einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) erhält ein Atemgasmessgerät zur Überwachung der Lungenfunktion. Das Gerät überträgt die Daten an eine DiGA, die aus den Rohdaten einen aussagekräftigen Krankheitsverlauf erstellt. Mit diesen Informationen kann der Patient seine Erkrankung besser überwachen und gemeinsam mit dem Arzt über Telemonitoring therapeutische Maßnahmen einleiten. In Deutschland leiden etwa drei Millionen Menschen an COPD.

Beispiel 3: IVD-DiPA in der Pflege: Eine pflegebedürftige Person lebt zu Hause und ihr Nährstoffbedarf kann nicht mehr durch den Verzehr normaler Lebensmittel gedeckt werden. Zusätzlich nimmt die Person Medikamente. Zur Überwachung kann ein Messgerät die Urindaten auswerten und den Nährstoff- und Wasserhaushalt kontrollieren. Auch die Medikamenteneinnahme kann abgebildet werden. Die häusliche Pflege könnte für Angehörige und Pflegepersonal durch die Überwachung des Nährstoffhaushalts oder der Medikamenteneinnahme mittels IVD-DiPA deutlich erleichtert werden. Mehr als 4 Millionen Pflegebedürftige werden zu Hause versorgt.

 

Ungleiche Versorgung mit DiGA bei Diabetes

Am Beispiel Diabetes wird besonders deutlich, zu welchem Ungleichgewicht in der Versorgung die unvollständige Definition in § 33a SGB V führt. So können DiGA mit der geplanten Erweiterung auf die Risikoklasse IIb der MDR zukünftig auch Daten aus kontinuierlichen glukosemessenden Systemen nutzen. Denn alle sensorgestützten Glukosemesssysteme sind rechtlich betrachtet Medizinprodukte gemäß MDR. Daten von Blutzuckermessgeräten, die den Blutzucker mittels Teststreifen aus Kapillarblut messen, können jedoch nicht verwendet werden. Denn Teststreifen sind rechtlich betrachtet ein In-vitro-Diagnostikum gemäß IVDR. Diese Konstellation wäre einigermaßen bizarr. Man darf davon ausgehen, dass der Gesetzgeber die Verfügbarkeit von DiGA für Diabeteskranke nicht davon abhängig machen will, ob der Patient die Glukoseselbstmessung mit einem Sensor oder mit einem Pik per Teststreifen durchführt. Aber diese Konstellation wird Realität, wenn § 33a SGB V nicht um die IVDR erweitert wird.

Problematisch ist dann, dass kontinuierliche glukosemesssende Systeme als GKV-Leistung nur für Patienten mit weit fortgeschrittenem Diabetes im Rahmen einer intensivierten Insulintherapie zur Verfügung stehen. Das bedeutet, dass DiGA für den Großteil der Diabeteskranken nicht verfügbar sein werden, auch nicht im Rahmen des Telemonitorings und den geplanten digitalisierten Behandlungsprogrammen (digitale DMP). Dieser Versorgungsausschluss bestimmter Patientinnen und Patienten entzieht sich jeder Logik.

Warum aber fehlen IVD-DiGA in der Legaldefinition des §33 a SGB V? Hier kann nur spekuliert werden. Die rechtliche Genese der DiGA als Leistungsanspruch für GKV-Versicherte fiel zusammen mit umfangreichen in sich verschachtelten Änderungen des europäischen Medizinprodukterechts, welches in Form europäischer Verordnungen (MDR, IVDR) das deutsche Medizinprodukterecht weitestgehend ersetzte. Auch liegt die Vermutung nahe, dass zu Anfangszeiten der DiGA der Fokus auf „einfachen“ Anwendungen lag. Dies spiegelt sich auch in der Verteilung der aktuell gelisteten DiGA wider. Von den knapp 50 gelisteten DiGA ist die Hälfte dem psychischen Bereich zuzuordnen. Wenn wir jedoch DiGA weiterentwickeln und tiefer in Versorgungsprozesse integrieren möchten, dies ist explizit die Intention des neuen Digitalgesetzes, dann sollten DiGA und DiPA auch Daten aus dem eigenen Körper heranziehen können.

 

Zusammenbringen, was zusammengehört

Das ist auch an anderen Stellen schon beabsichtigt. So hat der Gesetzgeber die Datenübermittlung von Hilfsmitteln nach § 374a SGB V geregelt. Demnach sollen bis spätestens Juli 2025 GKV-finanzierte Hilfsmittel, die versichertenbezogene Daten elektronisch über das Internet übermitteln können, diese Daten nach Einwilligung des Versicherten über eine Schnittstelle an DiGA übertragen können. Dies greift jedoch nicht für Hilfsmittel im IVD-Kontext, da es keine DiGA und DiPA gibt, die nach IVDR in Verkehr gebracht werden können.

In der Digitale Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) wurden diagnostische Instrumente im Zusammenhang mit DiGA bereits mitgedacht. Im § 12 (DiGAV) heißt es: „Enthält eine digitale Gesundheitsanwendung ein diagnostisches Instrument, so hat der Hersteller […] mittels einer Studie die Sensitivität und Spezifität der digitalen Gesundheitsanwendung im Hinblick auf die angegebene Patientengruppe […] zu ermitteln.“ Im aktuellen Leitfaden des BfArM (Version 3.3) vom 04.09.2023, wird dieser Fall näher beleuchtet: “Eine diagnostische Funktion kann ein wesentlicher und wichtiger Bestandteil einer DiGA sein und durch Einzel- oder Serienmessung behandlungsrelevante Parameter erfassen. […] Somit kann eine Fülle von Parametern gemessen, monitoriert und bei Bedarf ausgewertet werden.“ Weiter heißt es: „Wenn DiGA diagnostische Instrumente enthalten, beispielsweise eine Messung und Interpretation von Vitaldaten […] müssen zusätzlich Studien zur Testgüte vorgelegt werden.“

Für diagnostische Instrumente im Zusammenhang mit DiGA, die keine IVD sind (z.B. Blutdruckmessung), verlangt das BfArM also bereits heute Studien zu ihrer Testgüte. Bei der Validierung von CE-gekennzeichneten IVD muss die Testqualität ebenfalls durch eine klinische Leistungsstudie nachgewiesen werden. Das bedeutet, dass künftige IVD-DiGA durch das Inverkehrbringen mit CE-Kennzeichnung ihre Testgüte bereits nachgewiesen haben.

Wo besteht das größere Risiko eines Übertragungsfehlers? Beim händischen Abschreiben einer Datei mit 300 Zahlenwerten oder beim Anfertigen einer digitalen Kopie? Die Antwort liegt auf der Hand. Aktuell in das BfArM-Verzeichnis aufgenommene DiGA müssen sich angesichts der geltenden Rechtslage damit behelfen, dass der DiGA-Nutzer Blutzuckerwerte manuell eingibt. Es spricht für das Verantwortungsbewusstsein des Herstellers, dass er in der Gebrauchsanweisung auf die Gefahr von Fehleingaben hinweist. Besser wäre jedoch die automatische Übertragung der Werte aus dem Blutzuckermessgerät – der nutzerfreundliche und sichere Weg. Dieser Weg ist heute versperrt und erst dann gangbar, wenn § 33a SGB V geändert und die IVDR explizit einbezogen wird.

 

Fazit

Mit IVD-DiGA könnten Patientinnen und Patienten ihre Erkrankung besser managen. In der häuslichen Pflege könnten Pflegebedürftige selber oder pflegende Angehörige mit IVD-DiPA den Zustand der pflegebedürftigen Person besser überwachen und bei einer Zustandsveränderung schnell handeln. IVD-DiGA diagnostizieren keine Krankheiten. Sie erfordern eine vorherige Indikationsstellung. IVD-DiGA nutzen dann lediglich die Daten aus In-vitro-Diagnostika. Die aufgezeigten Beispiele kommen für Millionen von gesetzlich Versicherten in Frage. Der Wortlaut des § 33a SGB V bezieht sich jedoch ausschließlich auf Medizinprodukte nach der Verordnung (EU) 2017/745. In der aktuellen Fassung des SGB V sind DiGA und DiPA, die nach der IVDR in Verkehr zu bringen sind, ausgegrenzt. Hier sind Änderungen erforderlich.

Der Blick in die DiGAV und in den DiGA-Leitfaden des BfArM haben gezeigt, dass DiGA, die IVD-Daten nutzen, durch die CE-Kennzeichnung bereits wesentliche Nachweise ihrer Testgüte erbringen.

 

Maike Baluch

Referatsleiterin Market Access, VDGH

Benedikt Beyer

Referatsleiter Digitales, VDGH

Dr. Martin Walger

Geschäftsführer, VDGH


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