Trotz Kritikpunkten: Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz ist grundsätzlich positiv zu bewerten

Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg

Lange hat es auf sich warten lassen, mancher hat vielleicht gar nicht mehr damit gerechnet, aber nun ist es da, zumindest als Referentenentwurf: Das „Versorgungsgesetz I“, das nun als „Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz“ (GVSG) firmiert.

Die Versorgung stärken zu wollen, ist ein hehres Ziel; die Frage ist, wo man ansetzt. Oft waren Stärkungsgesetze der Vergangenheit solche, die vor allem die Finanzen stärken sollten. Und sicher braucht es weiterhin solche Ansätze, hier vermissen viele Akteure unseres Versorgungssystems – auch Krankenkassen gehören dazu – noch Aktivitäten.

Das bedeutet aber nicht, dass die Stärkung nur hier ansetzen kann und muss, im Gegenteil: In einem Gesundheitssystem, das nicht nur deklaratorisch Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt stellen möchte, sind die Verantwortlichen gut beraten, sich mit den alltäglichen Bedürfnissen und Bedarfen eben dieser Menschen zu beschäftigen. Und nein, ich bin keinesfalls der Ansicht, dass mehr Geld auch automatisch den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer dienen wird; so einfach ist es ganz sicher nicht.

 

Probleme beim Finden des richtigen Zugangs

Wie erleben Menschen gegenwärtig unser Versorgungssystem? Die AOK Rheinland/Hamburg mit ihren drei Millionen Versicherten hat täglich tausende Kundenkontakte. Vorweg: Der Wert eines solidarisch orientierten Gesundheitssystems ist den meisten Menschen bewusst, gerade denjenigen, die aus Ländern ohne ein solches System kommen. Sehr deutlich wird aber auch, dass es vielen Probleme bereitet, den richtigen Zugang zur Versorgung zu finden, und sie in der Folge Mühe haben, den richtigen Versorgungsweg einzuschlagen. Wer sich durchsetzen kann, wer gesundheitskompetent ist, sieht sich meist keinen oder zumindest überwindbaren Hürden ausgesetzt. Doch je geringer die System-, Gesundheits- oder auch die Sprachkompetenzen sind, desto schwieriger wird es. Kommt eine chronische Erkrankung oder eine Behinderung hinzu oder liegt der Wohnort in einer strukturschwachen Region, wird es wirklich schwer. Diese Situationsbeschreibung verkennt nicht, dass sich ein Großteil der Akteure unseres Systems mit großer Hingabe um die Versorgung kümmert. Manchmal fehlt schlicht die Zeit, die hinter einer Erkrankung liegenden Ursachen zu ermitteln oder gar zu beheben. Ein überaus engagierter Kinderarzt sagte mir: „Man sieht, dass da etwas Tieferes ist, aber wann kann ich mich darum kümmern, wenn das Wartezimmer immer voll ist?“ Ja, wann und – weitergedacht – wer kann sich kümmern?

Wir sehen heute, dass der Gesundheitszustand und die gesundheitlichen Perspektiven schlechter sind, je geringer der sozioökonomische Status ist. Chronische Erkrankungen sind häufiger, zum Zeitpunkt der Diagnosestellung sind diese bereits weiter fortgeschritten, die Gesundheitskompetenz ist geringer, die Orientierung im System fällt schwerer, es kommt vieles zusammen.

Ich denke, niemand wird dies bestreiten. Und wie gesagt: Wir stehen für ein solidarisch geprägtes System. Also muss man dran arbeiten. Und genau das tut das GVSG. Das ist erst einmal gut. Natürlich, nicht alle Regelungen treffen den Kern, manches ist aus der einen oder anderen Perspektive zu kritisieren. Auf einige, nicht auf alle Punkte möchte ich eingehen. Das ändert aber nichts an der grundsätzlich positiven Bewertung.

 

Kooperation statt Konkurrenz

Im Vordergrund steht eine Art Dreiklang aus Gesundheitsregion, Gesundheitskiosk und Primärversorgungszentrum, (nur) mit diesen möchte ich mich im Folgenden beschäftigen. Kerngedanke des Entwurfs ist eine Erweiterung unseres Gesundheits- und Versorgungssystems, kein Ersatz vorhandener und funktionierender Strukturen. Das ist wichtig, wird doch manchmal jede Neuerung als mangelnde Wertschätzung des Bestehenden interpretiert. Ich halte das für eine überzogene und unangebrachte Interpretation, aber es ist anzuerkennen, dass im Status quo aus Nutzersicht Defizite bestehen, und die Behebung dieser Defizite manchmal das Einziehen neuer und ergänzender Strukturen erfordert.

Diese neuen Strukturen sind keine „Doppelstrukturen“, wie manchmal geschrieben wird. Geschrieben wird dies im Übrigen nicht von Ärztinnen und Ärzten, die in räumlicher Nähe zu einem existierenden Gesundheitskiosk praktizieren. Die allermeisten pflegen eine enge Kooperation, wissen die Entlastung und den Mehrwert zu schätzen, gerade dann, wenn – siehe das Beispiel des Kinderarztes – Probleme tiefer liegen und in einer ärztlichen Sprechstunde weder zeitlich noch inhaltlich erarbeitet werden können.

Kooperation, nicht Konkurrenz, hat die Menschheit vorangebracht. Das sollte auch hier gelten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur ein Gesundheitskiosk ohne Abstimmung oder gar gegen den Willen benachbarter Ärztinnen und Ärzte medizinische Leistungen anbieten wird. Ohne Akzeptanz, ohne positive Beziehung funktioniert ein Gesundheitskiosk schlicht nicht. Im Einvernehmen ist mit Blick auf die Qualifikation des Personals aber vieles möglich und einiges sicher auch sinnvoll. Überlastete Praxen sind gerade in strukturell schwächeren Regionen an der Tagesordnung. Der Gewinn liegt im Miteinander.

Gesundheitskioske benötigen qualifiziertes Personal, keine Frage. Aber dies bedroht nicht in ansatzweise relevanter Größenordnung den angespannten Arbeitsmarkt der Pflegekräfte. Dazu ist der Personalbedarf je Standort zu gering, die Zahl der Standorte wird in absehbarer Zukunft bei 50 bis 100 liegen, sinnvolle Qualifikationen beschränken sich keinesfalls auf die Pflege, sie schließen zum Beispiel die Sozialarbeit ein. Und – so zeigen unsere Erfahrungen – häufig gelingt es sogar, Menschen, die sich längst aus dem Pflegeberuf verabschiedet haben, für die Tätigkeit in einem Gesundheitskiosk zu gewinnen.

 

Keine strikte Begrenzung und zwingende Vorgaben bei Gesundheitskiosken

Ob die Leitung, wie im Referentenentwurf gefordert, zwingend einer Pflegekraft obliegen muss? Eindeutig nein. Unsere Erfahrungen zeigen, dass andere Qualifikationen genauso gut geeignet sind, zumal die Tätigkeit vor allem ein hohes organisatorisches Geschick erfordert. Eine strikte Begrenzung und zwingende Vorgaben gehen hier deutlich zu weit, sie würden sogar seit Jahren bewährte Kolleginnen und Kollegen in „unseren“ Gesundheitskiosken um ihre berufliche Existenz bringen – aus welchem Grund?

Meine Hauptkritik am vorliegenden Entwurf bezieht sich auf eine zu „enge“ inhaltliche Aufstellung des Gesundheitskiosks. Krankenkasse und Kommune sind zwingend beteiligt, aber unsere Erfahrungen mit fünf derartigen Einrichtungen über inzwischen mehrere Jahre zeigen, dass neben gesundheitlichen Themen sehr häufig Fragen der beruflichen und gesundheitlichen Rehabilitation und Eingliederung eine Rolle spielen, ergänzt um Fragen der wirtschaftlichen Existenzsicherung. Daraus leitet sich unsere Forderung ab, von Anfang an weitere Sozialleistungsträger verbindlich zu beteiligen. Sicherlich auch an den anfallenden Kosten, die im Entwurf deutlich überproportional und nicht den tatsächlichen Beratungsanteilen entsprechend der gesetzlichen Krankenversicherung auferlegt werden. Zumindest sollte auf Basis einer umfassenden Evaluation, die die Beratungsinhalte analysiert, schnellstmöglich nachgesteuert werden. Ziel ist eine nicht nur sektoren-, sondern auch sozialleistungsträgerübergreifende Betreuung. Das muss sich in der Finanzierung der Aufwände widerspiegeln, was im Entwurf nur absolut unzureichend geschieht.

Dies alles ändert nichts an unserer Einschätzung, aber auch an der Erfahrung, dass niedrigschwellige Beratungsangebote in sozioökonomisch schlechter gestellten und strukturell schwächeren Gebieten eine signifikante Verbesserung für die Bewohnerinnen und Bewohner darstellen. Auch wenn der Entwurf keine expliziten Kriterien bezüglich geeigneter Regionen enthält (sinnvoll wären diese zwecks Identifikation wirklicher Bedarfsregionen allemal), ist doch klar, dass Bevölkerungs-, Morbiditäts- und Versorgungsstruktur die Bedarfe definieren. Gerade für die schlechter gestellten Regionen eröffnet sich über die niedrigschwelligen Beratungsangebote ein neuer, zielgruppenorientierter Zugang zum Thema Prävention, ob primär, sekundär oder tertiär. Die entsprechenden Mittel können so viel zielgerichteter eingesetzt werden als heute.

Der Gesundheitskiosk ist im Idealfall ein Element einer Gesundheitsregion. Versorgung findet in aller Regel vor Ort, im näheren Wohnumfeld, statt. Je besser die persönliche und die technische Vernetzung der Akteure, desto leichter ist der Weg für die Patientinnen und Patienten, das ist fast trivial. Auch heute sind regionale Versorgungsmodelle bereits möglich, einer zusätzlichen Rechtsgrundlage hätte es vielleicht nicht zwingend bedurft. Wir begrüßen aber die explizite rechtliche Verankerung, wirft sie doch ein besonderes Licht auf regional und damit patientennah orientierte Versorgungsnetzwerke. Und der Verzicht auf die Einschreibung, die heute eine nicht zu unterschätzende Barriere darstellt, ist ein Gewinn.

 

Kreis der Akteure sehr weit fassen

Wir interpretieren eine Gesundheitsregion als bevölkerungs- bzw. populationsbezogenen geographischen Raum (Stadt/Stadtteil/Landkreis/Quartier), in dem eine durch eine fundierte Bedarfsanalyse identifizierte Unter- oder Fehlversorgung durch das Zusammenwirken der für die Gesundheit der Bevölkerung (bzw. definierter Subgruppen nach Alter oder Indikation) relevanten Akteure vor Ort kompensiert wird, indem der Versorgungsprozess insgesamt verbessert wird. Lang, aber unseres Erachtens treffend. Wir schlagen vor, den Kreis der Akteure sehr weit zu fassen. Neben Leistungserbringern, Gesundheitsdienstleistern, Kommunen, GKV und anderen Sozialleistungsträgern können und sollten große Arbeitgeber, Sportvereine, regionale Initiativen etc. einbezogen werden. Sinnvoll erscheint uns zudem, andere Dimensionen der Daseinsvorsorge wie Soziales, Mobilität, Stadtentwicklung, Bildung und Forschung bewusst zu beteiligen. Es gilt, die Region in ihren Bezügen in den Blick zu nehmen.

Ein „One size fits all“-Ansatz ist nicht zielführend, zu heterogen sind die regionalen Gegebenheiten. Trotzdem sinnvoll ist ein Standardset an konstitutiven Elementen, die zudem eine Skalierbarkeit und Vergleichbarkeit gewährleisten. Analyse, Entwicklung von Versorgungszielen, Maßnahmenplanung, Koordination, Umsetzung und Evaluation sind komplex, ein professionelles Management ist daher unverzichtbar und im Referentenentwurf auch vorgesehen. Wünschenswert wäre eine öffentliche Förderung der entsprechenden Kosten gewesen, da regionale Lösungsansätze auch hier nicht auf die Gesundheitsversorgung allein begrenzt sind, im Gegenteil: Der mögliche Gewinn besteht ganz wesentlich in einer jegliche Zuständigkeits- und Ämtergrenzen überschreitenden Abstimmung in allen direkt und indirekt versorgungsrelevanten Fragen.

 

Kommunale Politik muss unterstützen

Wie bereits bei der Etablierung von niedrigschwelligen Beratungsangeboten geht es um den unmittelbaren Patientennutzen, eine Gesundheitsregion ist weder Selbstzweck noch politisches Prestigeprojekt. In die Evaluation ist die Nutzerperspektive daher zwingend einzubeziehen, ebenso werden technische Neuerungen wie die elektronische Patientenakte Bestandteil der Versorgungsansätze sein müssen. „Per Brief“ werden solche Ansätze jedenfalls nicht funktionieren. Voraussetzung ist zudem ein aktiv gestaltender und unterstützender Einsatz der kommunalen Politik. Diese muss vollends hinter dem Konzept stehen, ein reines Akzeptieren oder Tolerieren reicht gerade in der Aufbauphase sicher nicht.

Ein an dieser Stelle abschließender Gedanke zu den Gesundheitsregionen: Entwicklungen in anderen Bereichen können Impulse setzen. So ergibt sich aus bevölkerungsbezogen definierten Vorhaltebudgets der Krankenhäuser bereits eine Art „stationäres Regionalbudget“. Eine sektorenübergreifende Perspektive ließe sich integrieren, regional begrenzte Capitation-Modelle wären auch jenseits der Psychiatrie realisierbar. Wir beschäftigen uns gerade in einem somatischen Indikationsgebiet und in regionaler Begrenzung mit einem solchen Modell.

Nur kurz zu den Primärversorgungszentren: Auch hier geht es darum, nicht gegen, sondern gemeinsam mit den vorhandenen Versorgungsstrukturen und Anbietern die Weiterentwicklung anzugehen. Dort, wo die ambulante Versorgung funktioniert, besteht keinerlei Handlungsdruck. Aber in einigen Regionen Deutschlands zeigen sich bereits Lücken; hier können neue Kooperationsmodelle, die Ärztinnen und Ärzten auch andere Rollenmodelle als die Vollzeit-Selbstständigkeit ermöglichen, Chancen bieten. Damit solche Strukturen wirklich entstehen, fehlt es möglicherweise für etablierte Niedergelassene noch an Anreizen.

Betrachten wir das GVSG als Rahmen, der die Versorgung in der Kommune fördert, ohne funktionierende Strukturen zwingend zu verändern, stellt es eine Chance dar: die Chance, Patientenbedürfnisse stärker zu akzentuieren, Vielfalt zuzulassen, Kooperation zu fördern. Nicht jeder Ansatz wird funktionieren, das muss er aber auch nicht, man darf auch einmal etwas ausprobieren: Wichtig sind ein hohes Maß von (bundesweiter) Transparenz bezüglich der verschiedenen Ansätze und eine sorgfältige Evaluation, um erfolgreiche Ansätze zu identifizieren und damit multiplizieren zu können. Dass zuvor in einigen Punkten noch Detailarbeit erforderlich ist, sollte den Wert der Gesetzesinitiative nicht schmälern, das ist alles machbar.

Patientinnen und Patienten erleben Versorgung fast immer in regionalen Bezügen. Diese zu stärken, nicht alles zentral vorzugeben, sondern regionale Handlungsräume zu eröffnen, gleichzeitig aber eine gewisse Verbindlichkeit zu bewirken, ist eine Gratwanderung. Meines Erachtens aber eine erforderliche.


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