Umsetzung von Digitalisierung und Innovation nicht ohne Schmerzen

Nikolaus Huss, Managing Partner KovarHuss Policy Advisors

Jetzt also „Zurück auf los”. Anders ist der Startschuss des Bundesgesundheitsministeriums mit der Auftaktveranstaltung am 7. September nicht zu verstehen. Der im Koalitionsvertrag vereinbarte Dialog zur Digitalisierung des Gesundheitswesens soll jetzt beginnen. Wieder mal.

Die Bundesregierung hat sich bereits auf ihrer Klausur eine Woche zuvor eine 32-seitige Digitalisierungsstrategie verordnet. Für den Gesundheitsbereich werden auf zwei Seiten zwölf Ansätze für eine Digitalisierung des Gesundheitsbereichs beschrieben, deren Erfolg 2025 mit sechs Indikatoren zu messen sind:

  • 80 % der Bevölkerung sollen über eine digitale Gesundheitsakte verfügen; das E-Rezept ist als „Standard in der Arzneimittelversorgung“ vorgesehen,
  • die Potentiale der Digitalisierung sollen besser genutzt werden, um dadurch die Versorgung, insbesondere vulnerabler Gruppen zu verbessern,
  • die Datenverfügbarkeit soll effizienter gestaltet werden,
  • die Freigabe der ePA soll zu einem Mehrwert aller Beteiligten führen,
  • das Pflegewesen soll entlastet werden,
  • gemeinsam mit den anderen EU-Ländern soll ein gemeinsamer Datenraum für Gesundheitsdaten entstehen.

Das beschreibt keine Strategie, sondern fasst lediglich schon lange kursierende Wunschlisten kompakt zusammen. Nur eines der Ziele, 80 % der Bevölkerung mit Gesundheitsakte, wäre empirisch zu bestätigen, greift aber zu kurz. Lediglich eine Gesundheitsakte, die Basis therapeutischer Strategien wäre, hätte Nutzen für alle, das Gesundheitssystem und die Versicherten.

 

Veränderungen zu langsam

Aber warum verändert sich das deutsche Gesundheitssystem so langsam? 2005, zwei Jahre nach dem Start der elektronischen Gesundheitskarte schreibt das Ärzteblatt unter dem Titel „Ulla Schmidt macht Druck”: „Weil sich die Selbstverwaltung blockiert, will das Bundesgesundheitsministerium die Testphase der elektronischen Gesundheitskarte per Rechtsverordnung beschleunigen.” 2005 wusste man also schon konkreter, wo der Widerstand festzumachen war.

Vor allzu großen Hoffnungen und Erwartungen wird gewarnt. Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat mit viel Geld, ohne Strategie, aber einer überzeugenden Taktik der Digitalisierung echten Schub verpasst. Er hat aus einer „closed shop”-gematik, die nur intern ihren Gesellschaftern rechenschaftspflichtig war, eine offen kommunizierende Fachbehörde mit transparenten und eigenständigen Impulse für die Weiterentwicklung der Telematik-Infrastruktur gemacht. Der Hebel dazu: Sich in einer Hau-Ruck-Aktion die Mehrheit in der Gesellschafterversammlung zu sichern und die Spitze neu zu besetzen. Gut gemacht. Mit dem Health Innovation Hub konnte er in zahlreichen Veranstaltungen zeigen, wie eine Digitalisierung des Gesundheitssystems zu besserer Versorgung beitragen könnte. Und mit einem Artilleriefeuer von Gesetzesinitiativen und finanziellen Anreizen wie dem KHZG hat er Bewegung in das Gesundheitssystem gebracht. Die gilt es zu nutzen.

 

Zusätzliches Kapital erschließen

Tatsächlich, der Wind hat sich gedreht. Auch der von Vorgänger Hermann Gröhe aufgesetzte Bundesinnovationsfonds hat Möglichkeiten besserer, integrierter und digitalisierter Gesundheitsversorgung aufgezeigt; auch wenn von Anfang an absehbar war, dass davon nichts in der Regelversorgung ankommen wird. It’s the economy, stupid! Dieser Satz, der so nur einem Amerikaner über die Lippen geht, gilt nicht im deutschen Gesundheitswesen. Da herrscht der hypokratische Eid, stetige Wiederholung der Forderungen nach weiteren öffentlichen Ressourcen und ein fröhliches „Weiter so”.

Feindbilder statt Innovationsmanagement. Aktuell wird wieder ein Feind beschworen, Amazon heißt jetzt der Teufel, der an die Wand gemalt wird. Vermeintlich hilft das, die Reihen geschlossen zu halten. Stattdessen wäre es die politische Aufgabe, darüber zu debattieren, was zu tun ist, dass zusätzliches Kapital im Gesundheitswesen zum Nutzen des Gemeinwohls erschlossen werden kann.

Disrupt Yourself? Innovation im Gesundheitsbereich heißt auch, Mauern einzureißen. Zwischen ambulant und stationär, den starren Vollzugsformen des SGB V. Innovation heißt immer auch Prozesskonsolidierung. Das eAuto wurde nicht von BMW, Daimler oder VW entwickelt, sondern von Elon Musk, einem Außenseiter. In anderen Wirtschaftsbereichen haben Digitalisierung und Innovation Unternehmen, beispielsweise XEROX, Canon oder Blackberry zum Aufgeben gezwungen. Digitalisierung wird und muss auch im Gesundheitsbereich das institutionelle Geflecht grundlegend verändern (können). Franz Knieps: „Entrümpelt den SGB V” will das noch erleben. Es ist und bleibt die Aufgabe der Politik, zu entscheiden, in welchem Rahmen das passiert. Die Zeit wird knapp.

 

Politischer Mut erforderlich

Die Aufgabe der Politik: Weichen stellen und Leitplanken setzen. Womit wir bei der Schwäche der angedeuteten Strategie und des partizipativ entwickelten Strategieprozesses wären: Digitalisierung und Innovation werden nicht ohne Schmerzen und Veränderungen umgesetzt. Innovation braucht Geschwindigkeit, eindeutige Verantwortlichkeiten und verantwortungsfähige Institutionen. Das erfordert den politischen Mut, Weichen zu stellen und auch institutionelle Veränderungen zuzulassen. Demgegenüber neigt die Politik, insbesondere im Mitte Links-Spektrum zu Partizipation und Runden Tischen, Konsenssuche also. Aber Partizipation und Entscheidungsgeschwindigkeit verhalten sich umgekehrt proportional zueinander. Und an jedem Tag, an dem der Nutzen der Digitalisierung nicht bei den Bürgerinnen und Bürgern, Versicherten und Patienten ankommt, wird von den Widerständlern ihr Scheitern beschworen. Lauterbach, übernehmen Sie!

 

Das Autorenpapier „Boosting eHealth Governance“ finden Sie hier


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