03.06.2021
Training für die kommende Wahlperiode
Die TK orientiert sich und zeigt, was sie beitragen kann
Dr. Robert Paquet
Nicht nur wegen der Pandemie steht das Gesundheitswesen in den nächsten Jahren vor der „größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung“. So erklärt es Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK) und Herausgeber, in seinem Vorwort zu „Perspektive Gesundheit 2030 – Gesellschaft, Politik, Transformation.“ Daher sollen im ersten Teil des Bandes die Ziele der Gesundheitspolitik für die nächste Wahlperiode diskutiert werden. Im zweiten Teil werden die Herausforderungen konkreter beschrieben. Im dritten soll es um die Lösungsansätze gehen. Im vierten kommen die Fachleute der TK mit ihren Vorstellungen zu Wort.
Wohltuend ist dabei, dass nicht versucht wurde, die 40 Beiträge von 66 Autoren in ein gesundheitspolitisches Programm-Schema zu pressen. Sie setzen sogar teilweise recht widersprüchliche Akzente. Man sieht: Die TK hat sich im breiten Umkreis umgeschaut. Jedenfalls bieten die Beiträge viele Anregungen zum Nach- und Weiterdenken. Baas zum Schluss: Eine „Einladung zum Dialog“.
Ziele der Gesundheitspolitik
Am Anfang stehen die Versicherten und Patienten. In einer aktuellen Umfrage hat die TK die Sorgen und Wünsche der Bevölkerung nach der Pandemie-Erfahrung erhoben. Referiert wird von Kerstin Grießmeier, Pressesprecherin der TK, was sich daraus an Anforderungen an das Gesundheitssystem ergibt. Facettenreich ist das folgende Gespräch mit Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Die erste Erfahrung mit der Pandemie sei, dass wir auch im hochtechnisierten 21. Jahrhundert zur Bewältigung der Seuche noch dieselben Instrumente anwenden, „wie unsere Vorfahren anno 1348. Abstand, Quarantäne, Masken, wenn auch heute ohne Schnäbel“.
Die zweite Erfahrung sei, dass Verschwörungstheorien und die Suche nach Sündenböcken Konjunktur hätten. Das stelle in Zeiten „mentaler Überforderung“ hohe Anforderungen an eine verantwortungsvolle und transparente Kommunikation der Politik. Zur Perspektive der Sozialsysteme erinnert er an den Zusammenhang von Solidarität und Subsidiarität, „Begriffe, die gerade in den gegenwärtigen Veränderungen nach wie vor aktuell“ seien. Gerade der Begriff der Subsidiarität sei „sperrig“ und „nicht sehr sexy. In der Sache aber verbindet er zwei wesentliche Elemente einer modernen Bürgergesellschaft. Zunächst die Pflicht zu Eigenverantwortung der kleinen Einheiten … Wenn diese kleinen Einheiten nicht in der Lage sind, ihre Eigenverantwortung wahrzunehmen, dann, aber auch erst dann, kommt die nächst größere Einheit bzw. der Staat in die Pflicht zur Solidarität.“ Schon diese Feststellung entspricht nicht dem sozialpolitischen Zeitgeist. Aber Rödder setzt noch einen drauf: „Wer glaubt, dass der Sozialstaat alle Ungerechtigkeiten des Lebens korrigieren müsse, der ruiniert ihn.“
Auch Bischof Bedford-Strohm wird im Interview auf das Thema angesprochen, akzentuiert, aber genau umgekehrt: Das Subsidiaritätsprinzip könne „nie isoliert vom Solidaritätsprinzip verstanden werden. Es taugt jedenfalls nicht dazu, den Sozialstaat zu verdächtigen. Denn die kleineren Einheiten müssen auch wirklich in der Lage sein, verlässlich für alle soziale Sicherheit zu gewährleisten.“ In diesem Sinne beklagt er eine pandemie-bedingte Tendenz zur gesellschaftlichen Spaltung. Gleichzeitig werde jedoch auch „ein großes Potenzial sozialen Zusammenhalts sichtbar.“ Zur Gesundheitspolitik im engeren Sinne warnt er vor einer Eigendynamik, „die nicht in all ihren Aspekten wirklich dem Menschen dient.“ So befürchtet er, dass ökonomische Kalküle dazu führen, dass z.B. „medizinische Leistungen nicht zuletzt deswegen erbracht werden, weil damit teure Geräte amortisiert werden können.“ Damit verbindet er die Mahnung, das Gesundheitssystem darauf auszurichten, was die Menschen „wirklich brauchen“.
Als Vertreter der „jungen Generation“ (Überschrift sehr selbstbewusst: „Die Zukunft gehört uns …“) argumentieren Roither/Wozniak in ihrem Aufsatz überraschend konservativ: Sie kritisieren die beiden vergangenen Legislaturperioden wie folgt: „Statt großflächig Gelder auszuschütten, braucht es Strukturreformen und alte Leistungen müssen vielleicht neuen weichen.“ So wollen die beiden Mitglieder der „Denkschmiede Gesundheit“ exemplarisch Handlungsfelder aufzeigen, „in denen sich junge Generationen eine zukunftsgewandtere Politik und Gesetzgebung wünschen.“ Konkret: Gegen die Minister Gröhe und Spahn wird eine Wende zur Effizienz und Sparsamkeit eingefordert. Der Anstieg der Sozialausgaben sei bedrohlich, „Kostendämpfung“ dagegen wünschenswert. Eine Reform der Pflegeversicherung „mit dem sogenannten Sockel-Spitze-Tausch“ wird abgelehnt und stattdessen der „subsidäre Charakter der sozialen Pflegeversicherung“ unterstrichen. Bei den konkreten Lösungsvorschlägen kommt es dann doch auf recht konventionelle Punkte heraus: Einige Krankenhäuser werden schließen müssen; die Ambulantisierung medizinischer Leistungen schreite voran; die „Community Nurse“ und Pflegekammern seien wichtige Beiträge zur Lösung des Fachkräftemangels, und die „Digitalisierung und schlaue Systeme“ sollen bei der Bewältigung der Zukunft helfen.
Die Jura-Professorin Indra Spiecker setzt sich mit der rechtlichen Steuerung von „Plattformen“ auseinander, vor allem im Hinblick auf den Datenschutz. Mathias Kifmann, Ökonomie-Professor an der Universität Hamburg, beschreibt die Dilemmata der künftigen Finanzierung der GKV: Das heutige Modell werde durch die zunehmende demografische Verschiebung bedroht und komme an seine Grenzen. Die Finanzierung müsse „auf eine breitere Basis gestellt werden. Insbesondere sollten weitere Einkommensarten herangezogen werden.“ Neben einer Erhöhung des Bundeszuschusses wird das Schweizer Vorbild empfohlen: Dort gebe es nicht nur Kopfpauschalen, sondern die „ältere Generationen“ leiste einen deutlich höheren Finanzierungsanteil an ihren eigenen Gesundheitsausgaben.
Herausforderungen für das Gesundheitssystem
Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte beschäftigt sich unter dem Titel „Die vorsorgende Demokratie: Eine optimistische Staatsform“ mit der Frage, wie sich die Pandemie auf die Wähler im „Superwahljahr 2021“ auswirken wird. Er erklärt: „Wähler entscheiden strategisch vorausschauend und weniger evaluationsgetrieben zurückschauend. Wähler belohnen Optimismus. Wahlen sind keine Erntedankfeste“. Im „Rausch des Positiven“ (Horx 2020) „leben die Bundesbürger mehrheitlich mit dem Gefühl der geglückten Angstüberwindung. … Die Bürger haben erfahren, dass sich unser politisches System handlungsfähig und widerstandsfähig zeigt.“ Bis hin zu der Behauptung: „Die Corona-Politik hat das Reservoir an Vertrauen als Handlungskredit der politischen Elite wieder aufgefüllt.“
Die Einschätzungen des prominenten Wahl-Kommentators wurden erkennbar im vergangenen Jahr geschrieben und waren auch schon damals überaus optimistisch. Die verkorkste Impfkampagne, der Masken-Skandal mit Politiker-Korruption und schließlich der aktuelle Betrugsverdacht gegen Testzentren etc. lassen die Dinge heute sicher in einem anderen Licht erscheinen. Ob das Ergebnis des Super-Wahltags im September Kortes Optimismus bestätigt, darf daher getrost bezweifelt werden.
Dieter Cassel und Volker Ulrich präsentieren in Kurzform ihre Auseinandersetzung mit dem Priorisierungsansatz bei den Impfungen: institutionalisiert versus personalisiert. Eine hochkompetente Diskussion, die Ende letzten Jahres von höchster politischer Brisanz war. Mit der inzwischen verbesserten Impfstoff-Versorgung und der politischen Aufhebung der Priorisierung hat das Thema jedoch nur noch historischen bzw. akademischen Charakter. Trotzdem sollte man sich weiter darum kümmern, denn die damals umstandslose und unreflektierte Entscheidung der Politik für den personalisierten Ansatz kann ja keineswegs als einwandfreier Erfolg gefeiert werden. Und: Die nächste Pandemie kommt bestimmt!
Franz Knieps kritisiert aus rechtspolitischer Sicht die fehlende Zielorientierung des gesamten Gesundheitssystems und die mangelnde ordnungspolitische Orientierung. Die Prävention komme zu kurz, Europa komme nicht vor, die Regelungen würden nicht aus der Patientenperspektive und von den Prozessen her gedacht, die immer kleinteiligeren Interventionen des Staates helfen letztlich wenig. Der gegenwärtige Rechtsrahmen verstärke die „strikte Trennung von Versorgungsformen in Sektoren und Subspezialitäten“ etc. Das Bedürfnis nach einer „abgestimmten Erneuerung des Rechtsrahmens“ sei groß, obwohl es mit einer Neukodifizierung des SGB V nicht getan sei. Der knappe Buchbeitrag bringt dazu leider nur wenige Stichworte, die zwar neugierig machen, aber nicht erkennen lassen, wie man das tatsächlich umsetzen könnte.
Den interessantesten Beitrag dieses Teils bietet Matthias Gruhl, früherer Staatsrat in der Hamburger Gesundheitsbehörde. Es geht um den Weg zur sektorenübergreifenden Versorgung und deren Bedarfsplanung. Gruhl war selbst bis Anfang vergangenen Jahres Mitglied der Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLAG), die sich mit diesem Thema beschäftigen sollte. Wer bisher dachte, das Ergebnis der BLAG seien nichtssagende Formelkompromisse, kann sich hier eines Besseren belehren lassen. Die komplexe Perspektive wird einigermaßen plastisch dargestellt. Zentral ist die Festlegung eines „gemeinsamen fachärztlichen Versorgungsbereichs“, der „künftig für den ambulanten und stationären Bereich einheitlich sektorenübergreifend organisiert wird und für Patienten in ambulanten und stationären Einrichtungen zugänglich sein wird.“ Die Steuerung dieses Bereichs soll durch die Länder mit Hilfe der „Kapazitätsvorhaltung“ stattfinden. – Das klingt sehr zuversichtlich; man wird sehen, wieweit die Reformgesetzgebung der nächsten Jahre an die Vorarbeiten der BLAG anknüpfen kann.
Die pointierteste Darstellung der künftigen Herausforderungen liefert Hans-Dieter Nolting vom Berliner IGES-Institut. Der demografische Wandel steigere die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und reduziere das Arbeitskräftepotenzial in Pflege und Medizin. Die „ausgeprägte Präferenz für eine Teilzeittätigkeit“ verschärfe das Problem des bevorstehenden Ärztemangels. Der einzig triftige Lösungsansatz sei die „Steigerung der Produktivität der ärztlichen Tätigkeit“. Dafür seien grundlegend veränderte Organisationsformen der Angebote erforderlich (Gesundheitszentren). Und eine andere Arbeitsteilung zwischen den Gesundheitsberufen: Die Mangelsituation könnte „Entwicklungsprozesse“ auslösen, die „unter saturierten Überversorgungsbedingungen nicht in Gang kommen“. Dass jedoch die Kommunen in dieser Neugestaltung der Versorgung eine entscheidende Rolle spielen (können), hält Nolting für unwahrscheinlich: „Vielleicht ist es sinnvoller, die Kommune bzw. den Landkreis auf die Bereitstellung einer adäquaten Nahverkehrsverbindung für ein Primärversorgungszentrum zu verpflichten, anstatt ihnen die Gründung einer solchen Einrichtung nahezulegen.“
Handlungsoptionen
Im dritten Teil berichtet Prof. Peter Löcherbach über die Rolle und den Einsatz von „Patientenlotsen“. Die Erfahrungen der bisherigen Modellprojekte zeigten, dass die Zeit für ihre Einbeziehung in die „Regelversorgung“ (und die gesetzliche Verankerung eines Leistungsanspruchs auf Case-Management etc.) reif sei. Augurzky/Reifferscheid präsentieren „Capitationmodelle für den ländlichen Raum“. Das seien „sektorenübergreifende, populationsbezogene und weitgehend mengenunabhängige Vergütungssysteme“. Das klingt erst einmal gut, setzt aber die Übertragung der finanziellen Mittel und der Steuerungsaufgabe an eine „regionale Gesundheitsholding“ voraus. Die Vertreter der „Region“ hätten dann das Sagen. – Regionalisierung und populationsorientierte Versorgungsmodelle haben im Moment publizistische Konjunktur, und auch die Autoren empfehlen dringend, der künftige Gesetzgeber möge doch die rechtlichen Möglichkeiten zu solchen Experimenten erweitern bzw. schaffen. Dabei spricht es für die TK, dass sie das aktuelle Thema aufgreift. Andererseits irritiert etwas, dass bei solchen Modellen die Krankassen keine Rolle mehr spielen, erst recht nicht mehr in ihrer wettbewerblichen Vielfalt. „Auch bräuchte es ein einheitliches Vorgehen aller Krankenkassen bei der Bildung eines Regionalbudgets, am besten auch mit den privaten Krankenversicherern.“
Walendzik/Blase erläutern das Projekt eines „sektorenübergreifenden Vergütungssystems für ambulante und ambulant erbringbare Leistungen“, das für den von Gruhl skizzierten „fachärztlichen Versorgungsbereich“ bestimmend wäre. Schreyögg/Milstein beschreiben die Notwendigkeit einer Reform der Krankenhausvergütung und denkbare Reformoptionen. Man dürfe aber nicht in die Selbstkostendeckung der 1980er Jahre zurückfallen. Nötig sei, die Vorhaltekosten gesondert zu bestimmen und zu vergüten. Nötig sei dafür eine „bundeseinheitliche Neuklassifikation von Krankenhäusern nach Versorgungstufen, die derzeit äußerst heterogen ist und 16 unterschiedlichen Ansätzen folgt.“ Zur Förderung der Ambulantisierung sei die „identische Vergütung“ der ambulanten und ambulant erbringbaren Leistungen erforderlich (siehe oben). Dem Anreiz zur Mengenausweitung, dem auch ein modifiziertes DRG-System unterliege, müsse mit diversifizierten Zielvorgaben und Qualitätszuschlägen bzw. Budgets entgegengewirkt werden. Im Wesentlichen geben die Autoren eine Kurzfassung des von der TK in Auftrag gegebenen Gutachtens zur „Bedarfsgerechten Gestaltung der Krankenhausvergütung“ (2020). Heinz Lohmann kritisiert den Rückfall in das Selbstkostendeckungsprinzip bei der Ausgliederung der Pflegekosten aus den DRGs. Reinhard Busse zeigt mit eindrucksvollen Zahlen und einer durchaus amüsanten Argumentation die Notwendigkeit einer „Neuordnung der Krankenhauslandschaft“ auf.
Angeregt durch die Accountable Care Organizations in den USA (ACO) berichtet der Allgemeinmedizin-Professor Wilm über „vergleichbare Ansätze in Deutschland“. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass nur wenige der deutschen Ärztenetze „eine Organisations- und Managementstruktur erreicht“ haben, „die … eine Verantwortlichkeit für die Gesundheitsversorgung der regionalen Population mit Elementen der Accoutable Care ermöglicht.“ In einem Innovationsfonds-geförderten Projekt werden nun „ca. 25 empirische Netzwerke“ ermittelt, mit einer bisher nur „informellen“ Kooperation. Deren tatsächliches Steuerungspotenzial soll in dem Projekt ausgelotet werden. Diese „virtuellen“ ACOs werden durch die „passive Attribuierung der Erkrankten über Routinedaten“ abgebildet. Jedoch das Interesse der „niedergelassenen Versorger“, daraus mehr zu machen – etwa im Sinne eines aktiven Dialogs – erweist sich laut Wilm als „begrenzt“. Was daraus folgt, bleibt bei dem Beitrag ziemlich offen.
Da weiß Nikolaus Huss, der Politikberater und Vorfeldarbeiter der GRÜNEN, genauer, wo es lang gehen soll. „Was schlecht ist, zeichnet sich jetzt langsam ab: mehr Staat war nie! Mehr Kompetenz- und Rollenvermischung war nie!“ – seine Lösung heißt „Dezentral. Nachhaltig. … Vor Ort. Für eine Dezentralisierung der Gesundheitspolitik gibt es gute Gründe.“ „Die zentralisierten Strukturen, Politik/Dachverbände/G-BA/wissenschaftliche Dienstleistungsinstitute haben sich, vielleicht mit Ausnahme der Nutzenbewertung von Arzneimitteln, als Flaschenhals und organisierte Widerstandsorganisation der beteiligten Institutionen erwiesen.“ So wuchtig die Kritik, so dürftig die Perspektive: Für das Gesundheitswesen brauche man „eine verantwortungsfähige Institution vor Ort, … um die Gesundheitsversorgung institutionell zu organisieren.“ Man ahnt nur: Gemeint dürfte das Regionalvertragsmodell der GRÜNEN sein (Helmut Hildebrandt et al. 2020). Aber warum spricht das Huss nicht offen aus?
Der Beitrag der TK
Im vierten Teil will die TK zeigen, was sie kann und wie sie zur Bewältigung der zuvor beschriebenen Herausforderungen beitragen will. So weiß der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Thomas Ballast, dass man künftig wegen der demografischen Entwicklung und dem zunehmenden Personalmangel im Gesundheitswesen den „gewohnten Erwartungshaltungen der Bevölkerung gegenüber dem Gesundheitswesen nicht mehr vollständig“ entsprechen kann. Daher müsse nicht nur der Prävention mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, sondern die Möglichkeiten der Digitalisierung sollten zur Sicherstellung der Versorgung (vor allem auf dem Lande) konsequenter genutzt werden. Susanne Ozegowski (mit Kollegen) skizziert die „digitale Architektur des Gesundheitswesens“. Im Mittelpunkt steht – nicht überraschend bei der TK und der Autorin – die elektronische Patientenakte (ePA). Die Kassen, die die ePA bereitstellen, müssten (mit Hilfe dieses Instruments) „Partner statt Verwalter ihrer Versicherten werden und diese rund um das Thema Gesundheit begleiten und unterstützen.“ Dafür seien die Kassen in einer „einzigartigen Position“, weil sie nicht gewinnorientiert seien und einer starken gesetzlichen Regulierung unterliegen.
Andreas Meusch beschäftigt sich mit dem Kassenwettbewerb und bemängelt das Fehlen eines „wettbewerblichen Gesamtkonzepts“ für das Gesundheitswesen. Wettbewerb bestehe zwischen den Ärzten, den Ärzten und den Krankenhäusern, unter den Krankenhäusern selbst und zwischen den Kassen etc. Es fehle aber eine „Wettbewerbsordnung, die vom Patienten her gedacht und auf Effizienz ausgerichtet“ sei. Vor diesem Hintergrund wird kritisiert, dass die Aufsichtszuständigkeit in der GKV gespalten sei. Die AOKen hätten einen weiteren Vorteil durch ihre Marktmacht: „Die Beendigung der Übermacht der AOKen auf dem Leistungsmarkt ist eine … notwendige Voraussetzung für einen funktionierenden Leistungsmarkt im deutschen Gesundheitswessen“. Auch die Regionalkonzepte der GRÜNEN würden „aus der inneren Systemlogik heraus regionale Monopole auf Kreisebene begünstigen.“ An die Stelle des jetzigen Kassenwettbewerbs trete der Wettbewerb der Kreise. Schließlich sieht Meusch die Krankenkassen durch die internationalen Plattform-Unternehmen bedroht, die die elektronische Kommunikation an sich zögen und sogar eigene Krankenversicherungs-Angebote machen könnten. Hier fordert Meusch eine nationale „Bestands- und Entwicklungsgarantie“ für die gesetzlichen Krankenkassen.
Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Kostenentwicklung bei innovativen Arzneimitteln, den digitalen Möglichkeiten der vernetzten Versorgung, der Rolle der Patientensouveränität in digitalen Zeiten und mit dem „Weg zur digitalen Pflegekasse“. Beim Beitrag zur „Reform der Krankenhausstruktur“ findet man ergänzende Überlegungen zu dem Gutachten, das die TK in Auftrag gegeben hat (vgl. Beitrag von Schreyögg/Milstein). Dabei kommen Vorschläge, die man normalerweise nicht von der Kassenseite erwartet: So sollen sich die Krankenhäuser (vor allem im ländlichen Raum) zu „Gesundheitszentren“ entwickeln, die große Teile der ambulanten Versorgung übernehmen und auch Altenpflege sowie weitere Gesundheitsdienstleistungen organisieren. „Als Folge davon könnten Ärzte in verschiedenen Zeitmodellen stationär und ambulant am selben Ort arbeiten.“ In der Zusammenfassung heißt es: „Ein Krankenhaus ist zukünftig als Ort der medizinischen Behandlung unabhängig von der Art der Leistungserbringung zu begreifen.“ Schön auch der Hinweis zur hiesigen Krankenhaus-Reformdebatte: „Indem realitätsferne Ziele diskutiert werden, wird lediglich die Diskussion um tatsächlich mögliche Veränderungen überlagert und verzögert. Beispiele aus Dänemark oder den Niederlanden taugen nicht für die Lösung der Probleme der deutschen Versorgungslandschaft.“ Wie wahr!
Im letzten Beitrag des vierten Abschnitts (und des ganzen Buches) startet der Vorstandschef Jens Baas „in die digitale Zukunft“. Die Pandemie habe einerseits den digitalen Rückstand Deutschlands gezeigt. Andererseits aber auch die relativ kurzfristige Anpassungsfähigkeit seines Gesundheitswesens. Gelobt werden die Corona-Warn-App, die schnelle Entwicklung und Bereitstellung der Virus-Tests, die Etablierung des DIVI-Intensivbetten-Registers und das Hochfahren der Telemedizin-Anwendungen. Überhaupt bestimmt die „Digitalisierung“ den ganzen Artikel und ist bekanntlich Leib- und Magenthema des TK-Chefs: „Entgegen der Meinung, dass die Digitalisierung vor allem ein Werkzeug der Kostendämpfung und Effizienzsteigerung ist, ist sie in Deutschland zunächst ein klares Investitionsthema.“ Dabei spiele die ePA „als Basis der digitalen Transformation“ die zentrale Rolle. Dann ein wichtiger Hinweis: Die Daten sollten darauf künftig so gespeichert werden, dass sie „nicht nur im PDF-Format vorliegen, sondern als direkte Datenpunkte ausgelesen und verarbeitet werden können.“ Und es sei unsinnig, mehrere eigenständige Apps parallel zu betreiben (z.B. eine weitere für das elektronische Rezept etc.). Man müsse vielmehr die „Gesundheitsdaten an einer Stelle“ interaktiv zusammenführen und eine „künstliche Zersplitterung in eine App je Bereich“ vermeiden. Abgerundet wird der Beitrag mit dem Plädoyer für die Zusammenarbeit mit der Industrie (Chance, kein „Schreckgespenst“) und für die „Interoperabilität als Schlüssel zur Digitalisierung“.
Was kann ein solcher Sammelband im guten Falle leisten?
Eine Sammlung von 40 Appetizern kann nur dazu anregen, sich mit einzelnen Fragen (oder auch Autoren) näher zu beschäftigen. Wer liest das oder soll das alles lesen? Die Frage drängt sich auf, trifft aber nur einen Teil der Sache. Denn solche Sammelbände sind erkennbar Vernetzungsprojekte. Für die Herausgeber und ihre Institutionen, aber auch für die Mitautoren. Daher wird zwangsläufig viel Bekanntes – jedenfalls für die aufmerksamen Beobachter der Gesundheitspolitik – reproduziert.
Dann sind solche Bände auch eine Leistungsschau der herausgebenden Institution; die TK kann sich hier zweifellos sehen lassen. Trotzdem finden sich auch für die fachkundigen Leser immer einige Perlen, d.h. „lohnende“ Beiträge, hier vor allem der von Matthias Gruhl zum Stand der Integrierten Versorgung und jener von Schreyögg/Milstein, der eine Kurzfassung ihres TK-Gutachtens zur Reform der Krankenhausfinanzierung liefert. Schließlich ist es kein geringes Verdienst, z.B. hier den Historiker Prof. Andreas Rödder oder Bischof Bedford-Strohm, den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, für ein Gespräch über Gesundheitspolitik gewonnen zu haben. Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit Positionen von Akteuren, hier die „Denkschmiede Gesundheit“ (Roither/Wozniak), die sich zwar im Gesundheitswesen, aber jenseits der etablierte institutionellen Strukturen bewegen. Die Krankenkassen brauchen nämlich Fürsprecher und Partner in der Gesellschaft, auch außerhalb des Gesundheitssystems!
Jens Baas (Hrsg.): „Perspektive Gesundheit 2030 – Gesellschaft, Politik, Transformation.“ Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2021. ISBN 978-3-95466-605-8
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