Themen, Trends und Transformationen

Analyse über die Gesundheitsreformen der vergangenen dreieinhalb Wahlperioden

Dr. Robert Paquet

Das beginnende Jahr sollte Anlass sein, den Blick über die aktuelle Phase der Gesundheitspolitik hinauszuheben und die allgemeinen Trends über einen längeren Zeitraum zu betrachten. Vielleicht relativiert sich dabei die Kritik an den Einzelgesetzen, und die Performance der letzten 14 Jahre (von der 17. bis zur laufenden 20. Legislaturperiode des Bundestages) [1] stellt sich positiver dar als erwartet? Der Transformationsbedarf für viele Teile des Gesundheitswesens jedenfalls ist unbestritten.

 In der Tat gibt es durchgehende Themen und Bearbeitungsstränge. Das betrifft den Dauerbrenner der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der sozialen Pflegeversicherung (SPV), die Digitalisierung, die Qualitätssicherung, kontinuierliche (jedoch kleinere) Leistungsverbesserungen, die Finanzierung der stationären Versorgung und das Thema Prävention und Gesundheitsförderung. Transformationen, d.h. Veränderungen, die den Namen „Strukturreform“ verdienen, hat es dagegen in diesem Zeitraum nur zwei gegeben: das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) und die Pflegereform.

 Im Ergebnis der Durchsicht[2] verfestigt sich der Eindruck, dass in den zehner Jahren die auf der Hand liegenden Grundprobleme immer wieder ausgeklammert worden sind. Die gute Wirtschaftslage führte zu sprudelnden Beitragseinnahmen, mit denen sich vieles überdecken ließ. So wurde vor allem die Frage der nachhaltigen Finanzierung von GKV und SPV permanent verschoben bzw. weggedrückt. Die Strukturreform der Krankenhaus-Versorgung wird zwar derzeit angegangen, ein echter Erfolg ist bisher aber erst ein Hoffnungswert. Auch eine bessere Integration der Versorgungsleistungen ist – aus der Perspektive der Patienten – bisher ausgeblieben. Das Thema ist zwar nach wie vor in aller Munde. Neben kleinen Mosaikstückchen (Entlassmanagement, Lotsenmodelle und ähnliches aus dem Innovationsfonds) stagniert es jedoch letztlich beim Hausarzt-Modell, das entsprechend seiner Intention nur bei der AOK Baden-Württemberg realisiert worden ist.

 

Finanzierung

Bezeichnend war lange ein permanenter Kampf der Politik um Beitragssatzstabilität und die „gerechte“ Lastenverteilung. Großprojekte wie die Bürgerversicherung (und das Gegenmodell der „Gesundheitsprämie“) wurden zurückgestellt; um ihre jeweiligen Befürworter ist es gegenwärtig stiller geworden, obwohl die Kostentwicklung eigentlich gerade jetzt eine grundsätzlichere Debatte herausfordert. Daher spielte sich die Diskussion eine Ebene darunter ab: So wurde immer wieder mit dem allgemeinen und dem Zusatzbeitrag hantiert. Dabei war die ursprüngliche Idee des Zusatzbeitrags, dass er die individuelle Performance der einzelnen Kasse im Wettbewerb bei „Einkauf“ und Versorgungssteuerung abbilden soll. Also den Steuerungserfolg, der über den allgemeinen Beitragssatz hinausgeht. Diese Differenzierung ist im öffentlichen Bewusstsein jedoch schon längst verloren gegangen.

Die CDU/CSU/FDP-Regierung hat im GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG – 02.01.2011)[3] den einheitlichen Beitragssatz von 14,9 auf 15,5 Prozent erhöht und die Zusatzbeiträge (mit Sozialausgleich) neugestaltet. Der Beitragsanteil der Arbeitgeber wurde auf 7,3 Prozent eingefroren, der Anteil der GKV-Mitglieder auf 8,2 Prozent. Künftige Ausgabensteigerungen sollten über „einkommensunabhängige“ Zusatzbeiträge finanziert werden, die die GKV-Mitglieder (zur Steigerung des Kostenbewusstseins in einem absoluten Euro-Betrag) alleine tragen sollten. Außerdem erhielt der Gesundheitsfonds 2011 einen einmaligen zusätzlichen Steuerzuschuss von zwei Milliarden Euro. Bei solchen Zuschüssen ging es immer darum, die Sozialbeiträge unter der magischen Grenze von 40 Prozent zu halten. Erst in der laufenden Wahlperiode setzt sich die Ampel darüber hinweg und überwälzt sämtliche Reformkosten auf die GKV-Beitragszahler.

Die folgende große Koalition griff hier wieder ein. Mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG – 01.01.2015) wurde der allgemeine Beitragssatz wieder auf 14,6 Prozent abgesenkt. Der kassenindividuelle Zusatzbeitrag, den allein die GKV-Mitglieder zu tragen haben, wurde wieder einkommensabhängig erhoben (mit Finanzkraftausgleich); ein Sonderkündigungsrecht bei Erhöhungen wurde eingeführt.

In der Fortsetzung der großen Koalition in der 19. Wahlperiode gab es eine weitere Rolle rückwärts: Nach dem GKV-Versichertenentlastungsgesetz (GKV-VEG – 01.01.2019) wurde der kassenindividuelle Zusatzbeitrag ab 2019 wieder zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie den Rentnern und der Rentenversicherung getragen. Außerdem gab es beitragsrechtliche Verbesserungen für Selbständige. Zur Stabilisierung der Beitragssätze mussten die Kassen ihre Finanzreserven abschmelzen. Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG – 20.07.2021) erhielt der Gesundheitsfonds der gesetzlichen Krankenkassen für 2022 einen zusätzlichen Bundeszuschuss in Höhe von 7 Milliarden Euro, um den Zusatzbeitrag bei 1,3 Prozent zu stabilisieren.

Das Jonglieren mit den Finanzierungselementen ging bruchlos weiter: Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG – 12.11.2022) erhöhte die Bundesregierung für das Jahr 2023 ihren Zuschuss an den Gesundheitsfonds von 14,5 Milliarden Euro um zwei Milliarden Euro auf 16,5 Milliarden Euro. Die gesetzlichen Obergrenzen für die Finanzreserven der Kassen wurden erneut abgesenkt.

Schon mit dem GKV-VEG wurde die Unterscheidung zwischen dem allgemeinen und dem Zusatzbeitrag obsolet. Die Politik scheint aber an der Terminologie Gefallen zu finden und hält daran fest. Auch die Stabilisierung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags unter 40 Prozent ist bei der Ampel-Koalition offenbar kein Ziel mehr. Die Möglichkeiten des Bundeshaushalts für zusätzliche Steuerzuschüsse sind allerdings erschöpft; das Gleiche gilt für die Auflösung weiterer Finanzreserven der GKV. Damit steigt der Gesamtsozialversicherungsbeitrag am Beginn des Jahres 2024 auf 40,9 Prozent[4]. Mit gehaltvollen Vorschlägen für eine Finanzreform der GKV ist nicht zu rechnen[5]. Das gilt auch für die Pflegeversicherung. Dort hat man sich mit gelegentlichen Erhöhungen des (gesetzlichen) Beitragssatzes beholfen und im Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege (01.07.2023) ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt: Es hatte eine weitergehende Differenzierung der Beiträge zur SPV nach der Kinderzahl gefordert.

Neben der Grundsatzdebatte gäbe es in diesem Themenbereich auch weiteren Handlungsbedarf: So gilt z.B. eine gesetzliche Versicherungspflicht für die Kranken- und Pflegeversicherung. Aber noch nicht einmal in der GKV ist das Beitragsrecht einheitlich. Die Regeln für Pflicht- und freiwillig Versicherte und die Mitglieder der sog. „Krankenversicherung der Rentner“ (KVdR) sind sehr unterschiedlich und führen zur Ungleichbehandlung gleicher Einkommenspositionen. Eine Reform des Mitgliedschafts- und Beitragsrechts wäre daher notwendig; nicht nur in der Krankenversicherung werden soziale Rollen-Stereotype des 19. Jahrhunderts fortgeschrieben. Das gilt auch für die Familienversicherung und die damit eingeschlossene Subventionierung der Hausfrauenehe.

 

Pflegeversicherung

Das Pflege-Neuausrichtungsgesetz (PNG – 01.01.2013) war in der 17. Wahlperiode ein Vorspiel für die große Pflegereform. Demenzkranke sollten danach – je nach Pflegestufe – monatlich zwischen 70 und 120 Euro mehr Pflegegeld oder entsprechend höhere Sachleistungen erhalten. Die Unterstützung für pflegende Angehörige wurde verbessert. Private Pflegezusatzversicherungen sollten mit einer Pflegevorsorgezulage in Höhe von 60 Euro jährlich staatlich gefördert werden, sofern die Versicherten einen monatlichen Eigenbeitrag von mindestens zehn Euro leisten.

In der 18. Wahlperiode folgten dann die drei Pflegestärkungsgesetze (PSG). Im ersten PSG (01.01.2015) wurde der Beitragssatz angehoben, und die Geld- und Sachleistungen wurden an die Preisentwicklung der vergangenen drei Jahre angepasst (plus 4 %). Als sog. „Sondervermögen“ wurde der „Vorsorgefonds der sozialen Pflegeversicherung“ eingerichtet (von der Deutschen Bundesbank verwaltet). Von Februar 2015 bis Dezember 2033 sollen danach jährlich 0,1 Prozent der beitragspflichtigen Vorjahreseinnahmen der SPV in den Fonds eingezahlt werden. Ab dem Jahr 2035 soll er verwendet werden, um Beitragssatzsteigerungen zu dämpfen.

Die wirkliche – rund zehn Jahre mit verschiedenen Kommissionen und Gutachten vorbereitete – Strukturreform kam dann mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II – 01.01.2016). Es führte den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein, der neben körperlichen auch kognitive und psychische Einschränkungen berücksichtigt. Damit verbesserte sich vielfach die Einstufung Demenzkranker und pflegebedürftiger Kinder. Fünf neue Pflegegrade ersetzten das bisherige System der drei Pflegestufen und der zusätzlichen Feststellung von erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Außerdem gab es diverse Leistungsverbesserungen für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige sowie grundlegende Veränderungen bei der Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität (Qualitätsausschuss etc.). Stationäre Einrichtungen müssen seitdem für ihre Bewohner einen einheitlichen Eigenanteil festlegen, der für die Pflegegrade 2 bis 5 gilt.

In nennenswertem Umfang wurde die Pflegeversicherung erst wieder mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG – 20.07.2021) verändert. Die Leistungsbeträge für ambulante Pflegesachleistungen wurden um fünf Prozent angehoben. Dann gab es eine wirkliche Innovation, auch im Sinne eines Schritts zur Pflegevollversicherung: Ab dem 1. Januar 2022 wurde in der stationären Pflege eine Zuschussregelung für die pflegebedingten Eigenanteile eingeführt. Außerdem wurde der Aufschlag auf den Beitragssatz für kinderlose Versicherte um 0,1 Prozentpunkte auf 0,35 Prozent angehoben. Ab dem 1. September 2022 sind nur noch stationäre Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen, die ihr Pflege- und Betreuungspersonal nach Tarif bezahlen. Erstmals sollte die SPV ab 2022 einen pauschalen Bundeszuschuss in Höhe von jährlich einer Milliarde Euro erhalten. Die aktuelle Ampel-Koalition ist gerade dabei, diesen Zuschuss wieder abzuschaffen.

Zuletzt wurde die SPV im schon erwähnten „Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege“ (01.07.2023) angefasst. Danach erhöhen sich (in Reaktion auf die Inflation) ab 2024 das Pflegegeld und die ambulanten Sachleistungen erneut um fünf Prozent. 2025 und 2028 sollen die Geld- und Sachleistungen entsprechend der Preisentwicklung weiter angepasst werden. 2024 steigen auch die Zuschüsse zu den Eigenanteilen um fünf bis zehn Prozentpunkte.

Diese Entwicklung zeigt, dass es immer noch keine regelgebundene Anpassung bzw. Dynamisierung der Leistungen in der Pflegeversicherung gibt. Entsprechende Entscheidungen bleiben diskretionär. Das gilt auch für die Beitragssätze, die jedes Mal vom Bundestag gesetzlich an die Kassenlage angepasst werden müssen. Das einzig Gute daran mag sein, dass sich die Politik auf diese Weise immer wieder mit der Lage der SPV auseinandersetzen muss.

 

Arzneimittel

Ziel der arzneimittelbezogenen Regelungen im Krankenversicherungsrecht war seit dem Gesundheitsstrukturgesetz (1989) stets die Ausgabenbegrenzung (Stichwort Festbetragsregelung). Die Finanzkrise 2008/2009 hat auch die Krankenversicherung unter Druck gesetzt. So kam es mit dem Gesetz zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften (GKV-Änderungsgesetz – 02.01.2010) zu einem Preismoratorium für verschreibungspflichtige Medikamente. Außerdem wurden die Pharmahersteller verpflichtet, ab 1. August 2010 den gesetzlichen Herstellerrabatt für Arzneimittel von sechs auf 16 Prozent zu erhöhen. Entgegen der ursprünglichen Befristung wurden beide Maßnahmen immer wieder (mit marginalen Modifikationen bis heute) verlängert.

Ebenfalls von der Intention geprägt, bei den Medikamenten zu sparen, war das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung / Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG – 01.01.2011). Es führte die Nutzenbewertung mit der zentralen Rolle des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ein und darauf basierende Preisverhandlungen für neue Arzneimittel. In gewisser Weise unverhofft ist damit eine wirkliche Strukturreform dieses Bereichs gelungen. Die Pharmaindustrie hat sich – nach ersten Protesten – inzwischen längst mit dem Verfahren arrangiert. Es ist zum Vorbild auch für die Nutzenbewertung von Medizinprodukten geworden. Zwar wurden immer wieder Modifikationen der Verfahrensregelungen im Detail vorgenommen. Aber insgesamt hat sich die mit dem AMNOG intendierte Balance der unverzüglichen Bereitstellung von therapeutischen Innovationen und ihrer Preisregulierung bewährt. Die Ironie der Geschichte ist, dass zu dieser Zeit das Gesundheitsministerium von der FDP besetzt war (Minister Rösler und Bahr); galt doch die FDP lange Zeit (bis in die 1990er Jahren) als Schutzherrin der Pharmaindustrie. Auch das Aufkommen neuartiger Medikamente (mit Einmaltherapien), die quer zur ursprünglichen Ausrichtung des AMNOG auf chronische Krankheiten und Dauermedikation stehen, konnte in dieses System integriert werden.

Zuletzt wurde der Arzneimittelbereich – in der traditionellen Logik der Einsparungen – mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG – 12.11.2022) berührt. Der Apothekenabschlag für Fertigarzneimittel wurde auf zwei Euro je Packung angehoben (bislang 1,77 Euro). Der Arzneimittel-Herstellerabschlag für das Jahr 2023 auf zwölf Prozent (bisher sieben) erhöht. Der mit den Arzneimittelherstellern ausgehandelte Erstattungspreis für ein neues Medikament gilt künftig ab dem siebten Monat nach Marktzutritt. Die Umsatzschwelle für Arzneimittel, die zur Behandlung eines seltenen Leidens zugelassen worden sind, wurde von 50 auf 30 Millionen Euro reduziert. Verfassungsrechtlich problematisch ist: Neue zugelassene Arzneimittel, die keinen Zusatznutzen nachweisen können, werden mit einem Preisabschlag gegenüber dem Preis der Vergleichstherapie bestraft. Mit dem Zusammenwirken der verschiedenen Maßnahmen könnte die erwähnte Balance jetzt kippen.

Mit der Pandemie trat eine neue Problemstellung verstärkt ins Bewusstsein, die in gewisser Weise einen Paradigmenwechsel einleiten könnte. Die Politik hat zuletzt mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG – 27.07.2023) auf diese Entwicklung reagiert. Angelegt durch bereits vorausgegangene Gesetze[6] wurde zur Stärkung der Lieferketten und der Lagerhaltung das Frühwarnsystem beim BfArM weiterentwickelt etc. Hinzu kamen weitere Einschränkungen für die Arzneimittelrabattverträge und Sonderregelungen für Reserveantibiotika. Die Kassen sollen künftig bei der Vertragsvergabe Unternehmen mit Wirkstoffproduktion in Europa bevorzugen. Die Bundesregierung hat eine Pharmastrategie beschlossen, die Deutschland als Produktions- und Studienstandort wieder attraktiv machen soll. Die Umsetzung bleibt abzuwarten.

 

Prävention und Gesundheitsförderung

Das Thema ist bei den Gesundheitspolitikern beliebt, weil es den Schein unmittelbarer Plausibilität in sich trägt und eher wenig Konflikte verspricht. Im engeren Sinne gab es dazu zwei Gesetze. Einerseits das Krebsfrüherkennungs- und -Registergesetz (KFRG – 09.04.2013), nach dem alle gesetzlich Krankenversicherten, die älter als 18 Jahre sind, Anspruch auf Untersuchungen zur Früherkennung von Krebserkrankungen haben. Zudem sollen die Krankenkassen ihre Versicherten künftig regelmäßig auch zu div. Vorsorgeuntersuchungen einladen. Mit dem 14. SGB-V-Änderungsgesetz (01.04.2014) wurden Versicherten-Boni für Impfungen und Präventionskurse eingeführt etc..

Andererseits gab es das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention / Präventionsgesetz (PrävG) (25.07.2015), das die Kassen zu Projekten in den „Lebenswelten“ verpflichtet hat. Die Kassen sollten zwingend zu diesem Zweck die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) beauftragen und finanzieren. Diese Regelung war von Anfang an umstritten; schließlich haben sich die Kassen vor dem Bundessozialgericht (BSG) erfolgreich dagegen gewehrt. Außerdem brachte das Gesetz zahlreiche neue Präventions-, Früherkennungs- und Vorsorgeleistungen bzw. deren Förderung. Die Kassen wurden zu Mindestausgaben in diesem Bereich verpflichtet. Mit der Einrichtung einer „Nationalen Präventionskonferenz“ wurde ein neuer formaler Rahmen für die Präventionspolitik geschaffen.

Hier zeigt sich schlaglichtartig ein Dilemma: Die Bundespolitik gebietet nur über die Regelungen zur Sozialversicherung. Die Kassen sind jedoch als Institutionen völlig ungeeignet für bevölkerungsbezogene Aktivitäten der Gesundheitsförderung. Die Gesundheitspolitiker auf Bundesebene wollen jedoch nicht davon ablassen, in diesem Bereich Gutes zu tun. Im Ergebnis laufen die Initiativen daher immer auf individualisierbare Leistungen der medizinischen Früherkennung etc. hinaus. Die allgemeine Gesundheitsförderung mit Bevölkerungsbezug wäre dagegen Aufgabe des (jahrzehntelang vernachlässigten) Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), wie es auch ansatzweise im Laufe der Pandemie bewusst geworden ist. Die Förderung des ÖGD ist jedoch bisher ziemlich konzeptionslos; seine Steuerung obliegt im Übrigen (nach der Verfassung) den Ländern. Die „Health in all Policies“-Politik hat in Deutschland keinen handlungsfähigen institutionellen Akteur.

Die Ampel-Koalition hat im Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland – und zur Änderung weiterer Gesetze – (12.05.2023) auf das BSG-Urteil reagiert: Die Krankenkassen sind bei der gemeinsamen Aufgabe zur lebensweltbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention nicht mehr zur Zusammenarbeit mit der (BZgA) verpflichtet. Trotzdem hält die Politik an der verfehlten Zuordnung dieser Aufgabe zu den Krankenkassen fest. Mit nennenswerten Fortschritten in der Sache ist somit nicht zu rechnen.

 

Krankenhaus – stationäre Versorgung

Neben der Finanzierung der allgemeinen Krankenhaus-Versorgung (mit ihren Fallpauschalen – DRGs) steht die Psychiatrie. Für sie wurde in zwei Schritten ein eigenständiges Finanzierungssystem eingeführt. Eingeleitet wurde der Prozess mit dem Gesetz zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen / Psychiatrie-Entgeltgesetz (PsychEntgG – 01.08.2012). Weitergeführt wurde die Reform durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG – 01.01.2017). Danach gilt seit 2018 in der Psychiatrie und Psychosomatik das neue Entgeltverfahren verbindlich (PEPP-System). Kliniken verhandeln mit den Kassen auf Ortsebene ihr individuelles Budget. Außerdem gibt es Mindestpersonalvorgaben durch den G-BA für eine bessere Versorgung in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken.

Das letzte Stichwort verweist auf neue Prioritäten in der stationären Versorgung. Zum dominierenden Problem wird die Personalausstattung der Krankenhäuser. Gleichzeitig geht es verstärkt um die Qualitätssicherung. Dafür werden Mindestpersonalvorgaben und Mindestmengen vorgeschrieben. Ein wichtiger Markstein ist dabei das 14. SGB-V-Änderungsgesetz (01.04.2014). Der G-BA wurde beauftragt, bis Ende 2016 Qualitätsindikatoren zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zu entwickeln. Die sog. planungsrelevanten Indikatoren sollten als rechtssichere Kriterien für die KH-Planung der Länder dienen. Die Länder können jedoch davon abweichend landesrechtlich gesonderte Qualitätsvorgaben machen. Diese Linie wird mit dem Krankenhaus-Strukturgesetz (KHSG) (01.01.2016) fortgeführt (näher dazu im Abschnitt Qualitätssicherung).

Zugleich stieg aber auch das Problembewusstsein zur Struktur der Krankenhausversorgung insgesamt. Als erster zarter Ansatz wurde dazu im Pflege-Neuausrichtungsgesetz (PNG – 01.01.2013) der Krankenhaus-Strukturfonds eingeführt: Krankenkassen und Bundesländer sollten jeweils 500 Millionen Euro einzahlen. Der Fonds sollte ab 2017 dazu beitragen, überflüssige Betten in Kliniken abzubauen und stationäre Leistungen zu konzentrieren (ggf. auch ganze Kliniken zu schließen).

Einschneidend war das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG – 01.01.2019). Hier wurden die Aufwendungen für den krankenhausindividuellen Pflegepersonalbedarf in der unmittelbaren Patientenversorgung aus den Fallpauschalen herausgelöst. Sie werden seitdem über ein neu einzuführendes Pflegebudget finanziert. Schon damals ein (partieller) Rückfall in die Logik der „Selbstkostendeckung“. Ab dem 1. Januar 2018 müssen die Krankenkassen auch künftige Tarifsteigerungen für die Pflegekräfte in Krankenhäusern vollständig finanzieren. Weitere Pflegepersonaluntergrenzen gelten ab 2021. Außerdem gab es Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf in der Pflege.

Eine weitere Regelung zu Gunsten der Krankenhäuser gab es mit dem Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen (MDK-Reformgesetz – 01.01.2020). Die Medizinischen Dienste (MD) wurden organisatorisch von den Krankenkassen getrennt. Vor allem aber wurde die Überprüfung der Klinikabrechnungen durch den MD neu geregelt bzw. begrenzt. Darüber hinaus gibt es genauere Regelungen zu den „Strukturprüfungen“ durch den MD im Krankenhaus.

Die Linie des PpSG wird mit dem „Gesetz zur Pflegepersonalbemessung im Krankenhaus sowie zur Anpassung weiterer Regelungen im Krankenhauswesen und in der Digitalisierung“ (01.01.2023) fortgesetzt. Kern des Gesetzes ist die Einführung eines neuen Instrumentes zur Personalbemessung im Krankenhaus. Die ursprünglich nur als Übergangslösung gedachte Pflegepersonalregelung 2.0 (PPR 2.0) wird mit dem Gesetz künftig verbindlich. Sog. „Tagesbehandlungen“ in den Kliniken mit einer speziellen sektorengleichen Vergütung werden eingeführt. Es gibt eine besondere finanzielle Förderung von Pädiatrie- und Geburtshilfestationen. Mit dem Ziel zeitnaher Abschlüsse werden die Budgetverhandlungen der Krankenhäuser beschleunigt (Fristen gestrafft, Einrichtung von Schiedsstellen). Mit der Förderung der Ambulantisierung von (bisher) stationär erbrachten Leistungen kommt hier ein neuer Aspekt in die Krankenhaus-Gesetzgebung.

 

Ambulante Versorgung

In diesem Bereich ist vergleichsweise wenig passiert. Zwar wurden mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG – 01.01.2012) z.B. die Arztnetze aufgewertet; sie können seitdem durch Honorarzuschläge gefördert werden. Es gab neue Regelungen für die Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) (Verbot der Gründung durch Kapitalinvestoren, Unabhängigkeit des ärztlichen Leiters etc.) etc. Zentral in diesem Gesetz war jedoch die Reform der vertragsärztlichen Bedarfsplanung durch den G-BA. Sie wurde neu geordnet (Berücksichtigung der demografischen Entwicklung, Mitberatungsrecht der Bundesländer bei Beschlüssen des G-BA etc.). Hier geht es allerdings um einen Regelungskomplex in der Tiefe des Maschinenraums des Gesundheitswesens, hochkomplex, für die Patienten unsichtbar, für fast alle (auch die Beteiligten) kaum verständlich und nach Ansicht vieler Fachleute auch insgesamt unwirksam. Außerdem wurde in diesem Gesetz die ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV) neu eingeführt. Dieses Kooperationskonzept für hochkomplexe Versorgungsfälle wird in der gemeinsamen Selbstverwaltung (G-BA) klein gehalten, weil die Beteiligten die Voraussetzungen und Nachweispflichten hochtreiben.

Ein nächster Schritt war das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG – 23.07.2015). Mit ihm wurden die Terminservicestellen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) eingerichtet, mit denen die KVen erstmals eine Servicefunktion für die Patienten erhielten. Außerdem bekamen die Versicherten in diesem Gesetz einen Rechtsanspruch auf eine ärztliche Zweitmeinung vor planbaren medizinischen Eingriffen. Um die hausärztliche Versorgung zu sichern, sollten künftig jährlich 7.500 Stellen (bislang 5.000) in der allgemeinmedizinischen Weiterbildung finanziell gefördert werden. Klinikärzte dürfen/sollen seitdem bei der KH-Entlassung erforderliche Medikamente, häusliche Krankenpflege und die Versorgung mit Heilmitteln verordnen (für maximal sieben Tage). Schließlich gab es weitere Öffnungsmöglichkeiten der Krankenhäuser für die Teilnahme an der ambulanten Versorgung (als Beitrag zur Sicherstellung).

Bedeutsam erschien damals eine andere Regelung, die zu vielen Diskussionen führte: Die bisherigen Vorgaben zur integrierten Versorgung sowie zur besonderen ambulanten Versorgung wurden unter der Überschrift „Besondere Versorgung“ zusammengefasst (§ 140a SGB V). Kassen und Vertragspartner sollten – so hieß es – bei der Ausgestaltung der Verträge mehr Gestaltungsspielraum bekommen. In der Rückschau muss man feststellen, dass die Wirkung dieser Neuregelung kaum merkbar ist; die integrierte Versorgung führt mehr denn je ein Schattendasein. Von einer wettbewerblichen Vertragsgestaltung durch die Kassen ist man seitdem immer weiter entfernt. Die in der Ampel aktiven Gesundheitspolitiker interessieren sich kaum noch für den ambulanten vertragsärztlichen Sektor und tendieren durch die Bank zu vertragspolitischen Einheitslösungen.

Die Linie der GKV-VSG wurde mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG – 11.05.2019) fortgesetzt. Kernziel war die schnellere Terminvergabe für gesetzlich Versicherte. Dazu gab es entsprechende Verpflichtungen und Anreize für die Vertragsärzte: mindestens 25 Sprechstunden pro Woche, „offene Sprechstunde“, von Terminservicestellen vermittelte Patienten sollen extrabudgetär vergütet werden, Neupatientenzuschlag etc. Dieser Regelungskomplex war auch bedeutsam, weil er der SPD als Kompensation für das Zurückstellen ihrer Forderung nach einer Bürgerversicherung im Koalitionsvertrag von 2018 galt. Für die Ausgestaltung hatte Karl Lauterbach höchstselbst das Urheberrecht in Anspruch genommen. Außerdem soll es künftig für jeden Heilmittelbereich (Physiotherapie, Logopädie etc.) nur noch einen für alle Kassen bundesweit geltenden Vertrag geben. Das setzt die generelle Entwettbewerblichung der GKV-Verträge fort, die bereits mit dem Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) (11.04.2017) verstärkt wurde. Dort wurde die Vergütung von Physio- und Ergotherapeuten, Podologen etc. von der Anbindung an die „Beitragssatzstabilität“ gelöst und in Einheitsverträge für alle Kassen überführt.

Im GKV-FinStG (12.11.2022) wurde die mit dem TSVG eingeführte Neupatientenregelung ab dem 1. Januar 2023 wieder gestrichen. Für demnächst angekündigt sind zwar zwei sog. „Versorgungsgesetze“, die sich auch der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung widmen sollen. Ob dabei mehr herauskommt als die im Koalitionsvertrag angekündigte Förderung der Hausärzte (Entbudgetierung), ist unwahrscheinlich. Dem Minister selbst und den wichtigeren Gesundheitspolitkern der Ampel kann unterstellt werden, dass sie langfristig die fachärztliche Versorgung tendenziell durch die Kliniken sicherstellen wollen und ambulant dazu nur ein Hausarztsystem für notwendig erachten. Die wolkigen Ausführungen zu den Level-Ii-Krankenhäusern bzw. den „sektorenübergreifenden Versorgern“ im Eckpunktepapier zur Krankenhausreform zeigen die Richtung dieser Wunschvorstellungen[7].

 

Kontinuierliche Leistungsverbesserungen

Hier ins Detail zu gehen, würde den Rahmen dieser Betrachtung sprengen. Genannt sei für die Krankenversicherung nur die Abschaffung der Praxisgebühr (Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen – 28.12.2012). Immerhin unter der fachlichen Verantwortung eines Gesundheitsministers der FDP, für die die Selbstbeteiligung bis dahin eine gesundheitspolitische Zentralforderung gewesen war. Seit diesem Vorgang dürfte die Erhöhung von Zuzahlungen etc. jedenfalls für dieses Jahrzehnt in der Gesundheitsgesetzgebung verbrannt sein.

Im Hospiz- und Palliativgesetz (HPG – 08.12.2015) wurde die palliative Versorgung am Lebensende fester Bestandteil der Krankenversorgung nach dem SGB V. Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) wurde neu in die vertragsärztliche Versorgung mit aufgenommen.

Im Bereich der Pflege sei exemplarisch das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf (01.01.2015) genannt, das das Pflegeunterstützungsgeld zum 1. Januar 2015 als neue Lohnersatzleistung eingeführt hat (maximal zehn Tage). Es enthält weitere Regelungen zur Unterstützung der Angehörigen, ihrer Rechte zur Freistellung bzw. Jobsicherung etc. Das korrespondiert mit dem Familienpflegezeitgesetz vom 6. Dezember 2011, für das ein anderes Ressort zuständig ist (Familienministerium).

 

Qualitätssicherung

Als Konsequenz aus der wettbewerblichen Gestaltung der GKV mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (1993) und dem zunehmenden Wettbewerb der Leistungserbringer wurde die Qualitätssicherung immer wichtiger. Billigleistungen im Dumping-Wettbewerb sollten verhindert werden. Daher gibt es seit 25 Jahren intensive Bemühungen in diesem Bereich. In unserem Betrachtungszeitraum wurden z.B. mit dem 14. SGB-V-Änderungsgesetz (01.04.2014) für die Hausarzt-Verträge besondere Regelungen zur Qualitätssicherung getroffen, die über die allgemeine hausärztliche Qualitätssicherung hinausgehen.

Mit dem GKV-FQWG (01.01.2015) wurde die Gründung des neuen wissenschaftlichen Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG) durch den G-BA initiiert. Durch das Krankenhaus-Strukturgesetz (KHSG) (01.01.2016) wurde der G-BA beauftragt, bis Ende 2016 Qualitätsindikatoren zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zu entwickeln. Außerdem ging es um die Weiterentwicklung der Qualitätsberichte der Krankenhäuser, von Qualitätsverträgen und des Hygieneförderprogramms. Für vom G-BA bestimmte Krankenhausleistungen wurden Mindestmengen eingeführt.

Nach dem GVWG (20.07.2021) soll der G-BA ab 2023 einmal jährlich risikoadjustierte Qualitätsvergleiche von Vertragsärzten und ambulanten medizinischen Versorgungszentren veröffentlichen. Die bisherige Dokumentationspflicht von Kliniken im Rahmen der einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherung wird nun auch auf ambulante Leistungserbringer ausgeweitet.

 

Digitalisierung

Dieses Thema zieht sich über den gesamten Zeitraum durch. Schon im GKV-VStG (01.01.2012) gab es erste Ansätze zur Förderung der telemedizinischen Erbringung ärztlicher Leistungen. Im Folgenden beschleunigte sich die Entwicklung. Das Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen (E-Health-Gesetz – 01.01.2016) regelte die Speicherung medizinischer Daten auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und brachte den Medikationsplan. Bis Mitte 2018 sollte danach als erste Online-Anwendung der eGK ein modernes Stammdaten-Management eingeführt werden. Die elektronische Patientenakte (ePA) wurde vorbereitet (u.a. mit dem Interoperabilitätsverzeichnis). Das Gesetz brachte auch die Förderung elektronischer Arztbriefe (statt Fax), bei Verwendung des elektronischen Heilberufsausweises mit elektronischer Signatur.

Weiter ging es mit dem Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation / Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG – 01.01.2020). Es führte die digitalen Gesundheitsanwendungen ein. Die elektronische Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln sowie häuslicher Krankenpflege wurde möglich. Seitdem wird die Videosprechstunde honorartechnisch gefördert. Weitere Förderungen gibt es für Telekonsile und den elektronischen Arztbrief. Die in (Zahn-)Arztpraxen und Krankenhäusern verwendete Soft- und Hardware soll standardisiert werden. Das Gesetz entfaltet Druck auf die Ärzte, sich an die Telematikinfrastruktur anzuschließen. Auch die Krankenhäuser wurden bis zum 1. Januar 2021 dazu verpflichtet.

Im Gesetz zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur / Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG – 20.10.2020) wurden digitale Angebote wie das E-Rezept oder die ePA (als Opt-in-Modell) weiterentwickelt bzw. gangbar gemacht. Zugleich gab es speziellere Regeln für den Datenschutz und die Datensicherheit. Das Gesetz brachte finanzielle Anreize für Ärzte und Krankenhäuser, die ePA zu befüllen und eine Weiterentwicklung (Erweiterung) der Telematikinfrastruktur. Ab dem 1. Januar 2022 muss jede Krankenkasse eine Ombudsstelle einrichten, an die sich Versicherte mit ihren Fragen und Anliegen im Zusammenhang mit der ePA wenden können.

Das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG – 01.01.2021) knüpft an das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) und an das Patientendaten-Schutzgesetz (PDSG) an. Versicherte erhalten einen Anspruch auf die Versorgung mit digitalen Pflegeanwendungen (DiPA). Versicherte sollen auf Wunsch von Ihrer Krankenkasse als Alternative zur bisherigen Identifizierung mit der eGK eine sichere digitale Identität erhalten (für Videosprechstunde und DiGAs). Sie bekommen den Anspruch auf die Erstellung eines elektronischen Medikationsplans. Ärzte und Psychotherapeuten müssen verschreibungspflichtige Arzneimittel (ab dem 1. Januar 2023, die Frist wurde dann auf den 01.01.2024 verlängert) künftig elektronisch verordnen etc..

Dass dieselben Themen öfter vorkommen, hat viel damit zu tun, dass der Gesetzgeber immer wieder nachbessern und sich korrigieren musste, vor allem mit den Entwicklungs- und den verbindlichen Einführung-Fristen. Die technischen Probleme haben ihn immer wieder eingeholt. Das Zusammenspiel in der Selbstverwaltung (und mit bzw. in der gematik) war nicht optimal. Das führte dazu, dass mit dem TSVG (11.05.2019) die gematik faktisch verstaatlicht wurde.

Die aktuellen Projekte (Gesundheitsdatennutzungsgesetz GDNG und Digital-Gesetz DigiG) werden voraussichtlich am 2. Februar 2024 im zweiten Durchgang vom Bundesrat gebilligt. Die Datennutzung für die Wissenschaft ist in der angedachten Bedeutung ein neuer Aspekt. Die Umgestaltung der ePA zur Opt-out-Logik erfordert feingranulare Bestimmungen zur Datennutzung und zum Datenschutz. Der Übergang zum Opt-out-Verfahren ist nur möglich geworden, weil sich vor allem die GRÜNEN in ihrer Programmatik gewandelt haben: Im Laufe der vergangenen Wahlperiode haben sie den Wert der digitalen Vernetzung im Gesundheitswesen und der Datennutzung zur Verbesserung der Versorgung erkannt.

 

Organisation und institutionelle Aspekte

Wir haben uns bei diesem Durchgang vor allem auf zwei Gesichtspunkte konzentriert: Was sind wirkliche Strukturveränderungen und was ist für die Versicherten merkbar. Regelungen zur Binnen-Organisation der Institutionen, auch Honorierungsfragen bei den Vertragsärzten etc. wirken sich nur hinter den Kulissen aus und werden allgemein kaum wahrgenommen. Selbst eine Reform wie die Umgestaltung des Medizinischen Dienstes geht am Interesse der Bevölkerung weit vorbei.

Mindestens erwähnt werden sollen aber – wegen ihrer Wichtigkeit für die Kassen und ihren Beitragssatz-Wettbewerb – erstens das GKV-FQWG (01.01.2015) mit der Weiterentwicklung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (RSA), vor allem in den Bereichen Krankengeld und Auslandsversicherte. Zweitens ist im Hinblick auf den RSA das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der GKV / Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) (01.04.2020) anzuführen. Damit wurde das „Vollmodell“ mit der Einbeziehung aller Krankheitsarten umgesetzt, Außerdem wurden die Regionalkomponente, die Manipulationsbremse und der Risikopool etc. eingeführt. Das alles hat die Insider – jedenfalls der Krankenversicherung – in den letzten 15 Jahren sehr beschäftigt.

Ein noch größerer Kreis von Akteuren im Gesundheitswesen kam mit dem vom GKV-VSG (23.07.2015) eingeführten (und mehrmals verlängerten und modifizierten) Innovationsfonds beim G-BA in Berührung. Seine Fördermöglichkeiten haben alle Kassen und die gesamte innovationsorientierte Szene der Gesundheitswissenschaftler und Hochschulen gereizt. In inzwischen Hunderten von Projekten wurden viele gute und weniger gute Ideen erprobt und weiterentwickelt. Bislang hapert es aber an der (gesetzlich vorgesehenen) Umsetzung positiv bewerteter Projekte in die Regelversorgung. So ist der Innovationsfonds bisher Quelle für Hoffnungen, aber auch für viele Frustrationen.

Dann gab es im Betrachtungszeitraum noch einige Einzel-Gesetze, die ziemlich genau das geregelt haben, was ihr Name anzeigt (was bekanntlich keineswegs die Regel ist):

  • Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung (02.08.2013).
  • Apothekennotdienst-Sicherstellungsgesetz (ANSG – 01.08.2013).
  • Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz – 26.02.2013). (Das Gesetz soll mit Regelungen auf dem Gebiet des zivilrechtlichen Behandlungs- und Arzthaftungsrechts (Aufklärungspflichten, Einwilligung, Dokumentation etc.) sowie der gesetzlichen Krankenversicherung ein Mehr an Rechtssicherheit, Orientierung und Gleichgewicht zugunsten der Patientinnen und Patienten in Deutschland schaffen.)
  • Gesetz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen (04.06.2016). (Bestechlichkeit und Bestechung im Gesundheitswesen werden für alle Heilberufe als neue Straftatbestände im Strafgesetzbuch eingeführt).
  • Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland – und zur Änderung weiterer Gesetze (12.05.2023). (Mit der Neugründung der „Unabhängigen Patientenberatung Deutschland“ (UPD) als rechtsfähiger Stiftung bürgerlichen Rechts).

 

Fazit: Gesundheitspolitik zwischen Revolution und Pfadabhängigkeit

Der Überblick zeigt die große Kontinuität und enge Gebundenheit der Gesundheitspolitik. Viele Dinge lassen sich offenbar nur in kleinen Schritten bewegen. Sie sind komplex, und viele sind beteiligt, bzw. müssen mit einem Mindestmaß an Good-Will mitmachen. Das gilt jedenfalls für Querschnittsthemen wie Qualitätssicherung und Digitalisierung. Gerade bei letzterer hat Minister Spahn die maximal erreichbare Dynamik entwickelt (z.B. durch den Health Innovation Hub) und damit für die Gesetze der Ampel den Boden bereitet.

Die meisten Reformen haben den Charakter von Reaktionen auf Probleme bzw. auf starke Forderungen betroffener Akteure. Große Reformen brauchen viel Kraft, den Druck einer großen Krise (z.B. AMNOG) oder einen sehr langen Vorlauf (Pflegereform). Von den beiden „Strukturreformen“ im Betrachtungszeitraum hatte dabei nur die Pflegereform direkte Auswirkungen auf die Versicherten. Prägend für die drei Wahlperioden waren

  • in der 17. WP das AMNOG (und das Ausbremsen der von der FDP angestrebten „Gesundheitsprämie“),
  • in der 18. WP die große Pflegereform und
  • in der 19. WP der Turbo für die Digitalisierung (und die Bewältigung der Pandemie).

Offenbar gelingt in unserem gesundheitspolitischen System pro Wahlperiode nur eine größere Reform. Jetzt könnte das die Krankenhaus-Reform werden (oder ihr Scheitern).

Auffallend sind die Veränderungen der institutionellen Zuständigkeiten. Ob die Selbstverwaltung hier tatsächlich die Reformen blockiert hat, ist eine offene und strittige Frage. Jedenfalls hatte der Gesetzgeber diesen Eindruck. So hat er die gematik ans Bundesgesundheitsministerium gezogen und beabsichtigt, daraus demnächst ein nachgeordnetes Bundesamt zu machen. Ob eine solche „Regulierungsbehörde“ – analog zu anderen Infrastruktur- bzw. Netzbereichen – im vielgliedrigen Gesundheitswesen erfolgreich arbeiten kann, wird die Zukunft zeigen. Entscheidend wird dabei die Frage sein, ob die Institution demnächst besser in der Lage ist, Standards durchzusetzen und Konsense bzw. Mitwirkungsbereitschaft bei den Beteiligten zu erwirken.

Auch bei der Verselbständigung des Medizinischen Dienstes ging es wohl weniger darum, dem Eindruck der Befangenheit entgegenzuwirken, der (angeblich) durch die Trägerschaft der Kassen entstanden ist. Im Ergebnis viel wichtiger: Damit haben sich der Bund und die Länder einen direkten Zugriff auf diese Behörden gesichert.

In ihrer Sehnsucht nach Übersichtlichkeit, Vereinheitlichung und Zentralisierung nimmt die Politik schleichend Abschied von der Idee einer wettbewerblichen Ausrichtung des Gesundheitswesens (Selektivverträge, Wettbewerb der Leistungserbringer etc.). Dadurch wandelt sich auch die Rolle der Kassen. Sie erleben einen Machtverlust auf Raten. Nach der Jahrtausendwende sah sich die GKV dagegen als das Steuerungszentrum des Gesundheitswesens. Von dieser Gestaltungsmacht sind die Kassen immer weiter entfernt. Das führt sichtlich nicht nur zu Desillusionierung, sondern partiell zur Resignation auf dieser Seite.

Fast alle Probleme, von denen die gegenwärtige Bundesregierung behauptet, sie würden endlich oder überhaupt erstmalig angepackt, haben bereits eine längere Bearbeitungsgeschichte[8], zumeist unter Regierungsbeteiligung der SPD. Das spricht noch nicht gegen Minister Lauterbach, relativiert aber den von ihm beanspruchten Heldenstatus.

Die meisten Gesetzesvorhaben folgen somit vorgegebenen Pfaden. Nur die Krankenhaus-Reform hat einen höheren Anspruch. So wie sie der Minister angefangen hat, vor allem mit der mehrfachen Brüskierung der Länder, ist jedoch ein schneller Fortschritt unwahrscheinlich. Man könnte die größte Reform des vergangenen Jahrzehnts, die große Pflegereform, die ebenfalls mit ausgiebiger Kommissionarbeit vorbereitet wurde, als Maßstab nehmen. Zur Umsetzung gelangte sie erst rund ein Jahrzehnt nach dem Beginn der damaligen Expertengremien. Mit einer Wirksamkeit der Krankenhausreform könnte es also bis in die Mitte der 30er Jahre unseres Jahrhunderts dauern.

 

[1] Warum dieser Zeitraum? Bis 2009 war die Gesundheitspolitik durch sozialdemokratische Kontinuität geprägt. Ulla Schmidt verantwortete das Gesundheitsressort (über fast neun Jahre hinweg) bis zu dieser Zäsur. Mit der neuen Konstellation der CDU/CSU-FDP-Koalition eröffneten sich neue Perspektiven. Vieles hätte sich von da an verändern können.

[2] Materialgrundlage ist die Zusammenstellung „Gesundheits- und pflegepolitische Reformen seit 1989“ des AOK Bundesverbandes: https://www.aok.de/pp/reform/ .

[3] Im Folgenden bei den Gesetzen jeweils ergänzend das Datum des Inkrafttretens.

[4] https://www.lohn-info.de/sozialversicherungsbeitraege2024.html

[5] In diesen Tagen wurden die Empfehlungen des BMG für eine nachhaltige Finanzierung der GKV (das im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz geforderte Konzept) bekannt. Sie enthalten einerseits die kühne Behauptung, dass alle Gesetzesvorhaben bei den Leistungsausgaben (mittel- und langfristig) zu größerer Kosteneffizienz führen. Initiale Mehrkosten und der (kurzfristige) Investitionsbedarf werden nicht berücksichtigt. Andererseits werden die im Koalitionsvertrag geplanten Verbesserungen der Einnahmeseite angeführt, allerdings unter dem stereotypen Vorbehalt, damit erst beginnen zu können, „sobald es im Lichte der wirtschaftlichen Entwicklung die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen zulassen“.

[6] Namentlich das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) (16.08.2019).

[7] Siehe Seite 11ff. in
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/Eckpunktepapier_Krankenhausreform.pdf

[8] In der vergangenen Wahlperiode gab es sogar einen Referentenentwurf für ein „Gesetz zur Reform der Notfallversorgung“ (Januar 2020).


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