Ausgangslage: im „Government“-Modus

Gesundheitspolitik im Superwahljahr 2021 (Teil I)

Dr. Robert Paquet

Robin Rüsenberg

Die 19. Legislaturperiode ist auf der Zielgeraden. Sie wäre gesundheitspolitisch auch ohne SARS-CoV-2-Pandemie ereignisreich und dynamisch gewesen. Mit der Corona-Krise wurde dann eine zweite Phase eingeläutet, die – gesundheitspolitisch betrachtet – ein grandioser Stresstest ist, der immer noch andauert. Auch das Zusammenspiel der Akteure war und ist betroffen. Grund genug, einen Rückblick auf die ordnungspolitischen Weichenstellungen zu werfen und die Ausgangslage für Gesundheitspolitik im Wahljahr 2021 zu skizzieren: Welche Rahmenbedingungen und welche Optionen stellen sich im Politikfeld Gesundheit ab 2021 ff.? 

 

Rückblick: Gesundheitspolitik im Ausnahmezustand

Das Politikfeld Gesundheit fristet kein Nischendasein in der 19. Legislaturperiode. Der „GroKo“-Koalitionsvertrag von 2018 ließ allerdings nicht erwarten, welche Fülle an politischen Initiativen aus dem BMG nach der Bestellung von Jens Spahn zum Minister im März 2018 folgte. Der Minister präsentierte sich als tatkräftig – die mediale Aufmerksamkeit war entsprechend (jüngstes Beispiel von vielen: Arnold et al. 2021). Nicht übersehen werden darf, dass Jens Spahn insgesamt den langfristigen Trends der Gesundheitspolitik folgte. Auch wurde der Koalitionsvertrag recht weitgehend abgearbeitet. Die Strukturprobleme des Versorgungssystems sollten durch eine forcierte Digitalisierung angegangen werden, dem Lieblingsthema Spahns. Dass die Patienten sich nun Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) vom Arzt auf GKV-Rezept verschreiben lassen können, ist ein Novum – und eine strukturelle Neuerung, deren langfristige Auswirkungen abseits des Hypes nun abzuwarten sind. Die festgefahrenen Verhandlungen zur Rahmenvereinbarung sind ein Fingerzeig, dass der Weg mühselig werden wird. Insgesamt brachte der Minister im Bereich der Digitalpolitik die Verhältnisse jedoch zum Tanzen. Weitere Stichworte sind vor allem und endlich die elektronische Patientenakte, das eRezept, etc. Zweifellos ein Verdienst, wenn man den unguten Status quo ante der digitalen Transformation des Gesundheitssystems betrachtet.

Dies lässt sich nicht über die beiden Kommissionen, deren Einsetzung der Koalitionsvertrag vorsah, sagen: Die Ergebnisse der Honorarkommission blieben politisch ungenutzt; die Bund-Länder-AG zur sektorenübergreifenden Versorgung tagte ohne finale Beschlüsse. Die „große“ Reform der Notfallversorgung blieb aus – offiziell der Pandemie, vornehmlich aber der falsch eingeschätzten Interessenslage der Länder beim Rettungsdienst und der Planung der Integrierten Notfallzentren geschuldet. (Das einheitliche Ersteinschätzungsverfahren hat es zumindest in den Regierungsentwurf des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes, GVWG, geschafft. Die Krankenhäuser und Länder laufen Sturm). Weitere Schritte bei der Prävention oder einer Neuordnung der Kompetenzen der Gesundheitsprofessionen blieben aus; eine Novellierung der Berufsgesetze wurde aber angepackt. Im TSVG wurde konsequent die Idee verfolgt, das ambulante Versorgungssystem an den Bedürfnissen der Patienten auszurichten, wofür die Koalition viel Geld in die Hand nahm, dabei insgesamt aber eher auf bekannte Instrumente setzte (Paquet/Rüsenberg 2018).

Insgesamt konnte die Gesundheitspolitik aus dem Vollen schöpfen: Vor allem die gute Konjunktur, aber auch ein Zustrom an Beitragszahlern stabilisierten die GKV-Finanzen. Allerdings standen die Zeichen schon vor der Pandemie auf Sturm, da die beitragspflichtigen Einnahmen deutlich langsamer stiegen als die GKV-Leistungsausgaben. In der Pflegeversicherung war dies bereits der Fall: Struktureller Reformbedarf besteht bei den Investitionskosten sowie dem Teilleistungscharakter der Pflegeleistungen. Ausbau bei Leistungen und Personal lassen die Gesamtkosten stärker als die Leistungssätze steigen, was zu erhöhten Eigenanteile führt (Paquet 2020) – und das Thema Neuordnung der Pflegefinanzierung mit Nachdruck auf die politische Agenda setzt. Die Eckpunkte zur Pflegereform 2021 setzen auf einen Mix von Maßnahmen, die in alle Richtungen ausgreifen: Deckelung der Eigenanteile, Bundeszuschuss (Höhe noch unklar), Verlängerung des Pflegevorsorgefonds, höherer Beitrag für Kinderlose, etc. Eine parlamentarische Umsetzung bis zur Bundestagswahl erscheint aber kaum mehr möglich, Wiedervorlage also nach der Wahl. Durch die „Sozialgarantie 2021“ mit einem erstmaligen Bundeszuschuss von Sommer 2020 wurde hierfür Zeit erkauft.

 

Die Pandemie

Die Covid-19-Pandemie brachte schließlich ab Anfang 2020 eine komplett neuartige Dramatik. Bei Lichte betrachtet stärkte die Pandemie zwar langfristige Trends (z. B. bei der Digitalisierung), die insgesamt schon seit geraumer Zeit zu spüren waren, aber eben drastisch. Für die gesundheitspolitische Statik sind vor allem drei Punkte wichtig:

  • Erstens, die gestärkte Stellung des Ministeriums: Vor allem die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes verschob Gewichte zwischen Legislative und Exekutive. Das gesundheitspolitische Regieren erfolgte fasst nur noch über Rechtsverordnungen, erst später schafften es wieder andere gesundheitspolitische Vorhaben auf die Agenda, dann aber eher Tagesgeschäft, keine weitreichenden Reformen. Die in der Pandemie gewonnenen Erfahrungen des BMG im operativen Geschäft sind allerdings nicht zu unterschätzen. Die starke Stellung des BMG wird absehbar überdauern und zeigt sich auch in Ansätzen zu einer direkteren Krankenhausfinanzierung durch den Bund (Krankenhauszukunftsfonds, 3 Mrd. Euro über die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds), wobei sich diese Entwicklung für einen Paradigmenwechsel verstetigen müssten.
  • Zweitens hatte die Pandemie einnahme- wie ausgabenseitige Wirkungen für die GKV (Details bei BRH 2020), die durch das Öffnen neuer Verschiebebahnhöfe im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung verstärkt wurden. Dabei mischen sie sich mit der ausgabenexpansiven Gesundheitspolitik der Vor-Corona-Zeit; Corona trägt offenbar zu einem Fünftel zum GKV-Finanzdefizit 2021 bei (Hermann 2021). Insgesamt stellt sich die Finanzlage so kritisch dar wie seit den 2000er Jahren nicht mehr. Für 2022 wird die Finanzlücke auf 17 Mrd. Euro geschätzt, also eine vergleichbare Größenordnung, wie sie durch die „Sozialgarantie 2021“ für das laufende Jahr notdürftig bewältigt wird. Der dortige Mix an Maßnahmen (Bundeszuschuss, Rückgriff auf Kassenreserven, Beitragserhöhung) ist für 2022 aber schwierig (s. u.). Das BMG hat folgerichtig beim BMF einen Bedarf von 18 Mrd. Euro für die GKV angemeldet (Greive et al. 2021) (Nicht wenigen Kassen, vor allem Nicht-AOKen, dürfte die „Sozialgarantie 2021“ allerdings aufgrund der Wirkungen im Wettbewerb durchaus willkommen sein).
  • Aus diesem Grund gibt es mit dem (wieder stark) an der GKV interessierten Bundesfinanzministerium ein Déjà-vu: Auf absehbarer Zeit wird es ein gewichtiges Wort bei gesundheitspolitischen Entscheidungen mitreden. Dabei sind Konflikte vorprogrammiert. Ein Beispiel: Das BMG unterstützt die Heilmittelerbringer mit Soforthilfen bei wegbrechenden Einnahmen. Der Auszahlungsbetrag umfasst regelhaft 40% der Vergütung, die im 4. Quartal 2019 durch den zugelassenen Leistungserbringer mit der GKV abgerechnet wurde. Das BMG wollte eigentlich 60%, das BMF setzte aber den geringeren Ansatz durch. Erste Erkenntnisse zu den Prioritäten des Ministeriums werden spätestens bei der Veröffentlichung der Eckwerte für den Haushalt 2022 im März klar werden – wobei diese automatisch unter dem Eindruck des Wahlkampfs stehen werden. Da das entsprechende Haushaltsgesetz kaum vor September verabschiedet wird, wird der neue Entwurf (einer neuen Regierung?) nach der Wahl entscheidend.

Den Ton für die Zeit nach der Bundestagswahl hat jüngst die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karin Maag, gesetzt: „Die Finanzierung wird ein richtig dramatisches Thema“ (zitiert nach Observer vom 1. Dezember 2020). Diese Aussicht ist nicht unerwartet, aber der Handlungsdruck war lange nicht mehr so einschneidend: Seitdem der einheitliche Beitragssatz in einer – in der Rückschau – Überreaktion unter Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler 2011 auf 15,5 % heraufgesetzt wurde, gab es zwischen 2014 und 2018 jährlich umfangreiche GKV-Überschüsse dank einer positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und vor allem einer dynamischen Beschäftigungsentwicklung. Im Ergebnis konnte beides gelingen: Zum einen ein Ausbau des GKV-Leistungskatalogs bei gleichzeitiger Rücknahme von Zuzahlungen (Praxisgebühr 2012), zum anderen ein Angehen des Themas Arbeitskräftemangel, in der laufenden Legislatur etwa bei den Heilmittelerbringern (TSVG 2019, auch vorher schon im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz, HHVG 2017), sehr dringlich bei den Alten- und Krankenpflegern („Konzertierte Aktion Pflege“ und Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz – PpSG 2018). Die Finanzlage machte es möglich. Dies ändert sich in den 2020ern (s. o.).

 

Optionen im gesundheitspolitischen Zieldilemma

Wenn allerdings die kommenden Jahre bald von (massiver) Finanznot geprägt sind, versperrt dies den gesundheitspolitischen Königsweg der 2010er Jahre. Vielmehr werden Erinnerungen an die tristen 2000er Jahre wach, als die Agenda 2010 eingeleitet wurde und später u. a. das GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) 2004 verabschiedet wurde. Das GMG griff zu einem Mix an Maßnahmen: moderate Einschränkung des Leistungskatalogs (nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel), Bundeszuschuss über Steuern, Ausweitung der Selbstbeteiligungen/Zuzahlungen, aber auch strukturelle Maßnahmen (Einrichtung Gemeinsamer Bundesausschuss, Etablierung Qualitätssicherung, etc.), die im Aufruhr über die Finanzierungsregeln in der öffentlichen Diskussion kaum wahrgenommen wurden. Der Stabilisierung der Krankenversicherungsausgaben wurde höchste Priorität eingeräumt. Die Lohnnebenkosten sollten wieder unter 40 % der Bruttolohnkosten gesenkt werden. In den 2010ern änderten sich, wie beschrieben, die Prioritäten – wenngleich das 40 %-Dogma weiterhin galt und auch 2021 ff. gilt (zumindest als „Ziel“, vgl. Laschet 2021).

Die künftige Gesundheitspolitik steht für das absehbare Dilemma vor einigen, oft unpopulären Optionen:

  • Beitragserhöhungen werden als wirtschaftspolitisch schädlich gesehen: Aktuell stehen die Lohnnebenkosten bei 39,95 % der Bruttolohnkosten.
  • Die noch vor zwanzig Jahren insbesondere durch die Unions-Parteien favorisierte Privatisierung von Gesundheitsleistungen sowie erhöhte Zuzahlungen sind schon lange nicht mehr Teil der Debatte, durch keine Partei. Sie würden nicht nur das Stabilitätsbedürfnis der Unions-Wählerklientel überfordern (Korte 2020), sie passen auch nicht zum neuen christdemokratischen Selbstverständnis, das die GKV-Ausgaben nun als Impulsgeber für Wirtschaftswachstum sieht (z. B. Spahn 2021) – zumindest bis zu den erwähnten 40 % in Summe aller Sozialversicherungen –, um im Umkehrschluss auch den Sozialstaat bezahlbar zu halten.
  • Dies schließt dann aber auch einen radikalen Sparkurs bei den Leistungserbringern im Gesundheitswesen aus, der – je nachdem, wo er ansetzt – die Fortschritte bei der Bewältigung des Fachkräftemangels massiv gefährden würde.
  • Kapitaldeckung ist im gegenwärtigen Niedrigzinsumfeld schwierig, und würde ohnehin erst langfristig Abhilfe schaffen (allerdings bleibt das Thema auf der Spahnschen Agenda, siehe Eckpunkte zur Pflegereform).
  • Ähnliches gilt für eine Verbreiterung der Mitgliederbasis etwa mittels Bürgerversicherung, die jedoch bekanntermaßen ein politisch heikles Thema ist – was ebenfalls für ein Herangehen an die Beitragsbemessungsgrenze wie eine Verbeitragung anderer Einkommensarten gilt. Letzteres wäre ein aufwändiges Unterfangen (mittelbar) in Kooperation mit den Finanzbehörden. Der GVWG-Referentenentwurf sah sogar ein elektronisches Abrufverfahren zur Beitragsbemessung bei freiwillig Versicherten und Versicherungspflichtigen bei den Finanzbehörden vor. Der Vorstoß war aber keine strategische Wende des BMG. Er überlebte die Ressortabstimmung jedoch nicht.
  • Einen wahrscheinlichen Königsweg, eben weil er schnell greifen könnte, hat allerdings der Chef des Bundeskanzleramtes, Helge Braun, Ende Januar 2021 in einem „Handelsblatt“-Namensbeitrag skizziert (Braun 2021): Ein weiteres Aussetzen der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse in den kommenden Jahren. Auf diesem Weg könnten, denkt man den Ansatz weiter, ausreichende Mittel bereitgestellt werden, um ausgebaute Bundeszuschüsse an GKV und SPV zu ermöglichen. Da fast alle potenziellen Koalitionspartner nach der nächsten Bundestagswahl ein Aufweichen der Schuldenbremse mittragen würden, könnte der Verlust des konservativen Tafelsilbers in Koalitionsverhandlungen für einen Verzicht auf Steuererhöhungen eingetauscht werden. Erhöhte Bundeszuschüsse könnten zudem reformpolitisch weitere Zeit erkaufen. Allerdings war der Bundeszuschuss seit der Einführung 2004 immer wieder politische Verfügungsmasse. Dabei geht es nicht nur um die Konsolidierung des Bundeshaushalts ab 2022; auch andere Politikfelder stehen künftig in harter Konkurrenz im Kampf um die staatlichen Fleischtöpfe. Der Bundesrechnungshof (BRH 2021) hat deswegen kürzlich zu Recht eine Klarstellung der versicherungsfremden Leistungen nach § 221 Abs. 1 SGB V angemahnt – auch um eine Kürzung zur Haushaltssanierung zu erschweren (was allerdings Verschiebebahnhöfe nicht ausschließen würde). Finanzierungsseitig würde sich die GKV dann schrittweise der Rentenversicherung annähern.

 

Gesundheitspolitik im Paradigmenwechsel: der „Government-Modus“

Das absehbare Mittel der Wahl in der Finanzierung, nämlich die verstärkte Nutzung von Steuermitteln, würde in jedem Fall recht nahtlos mit dem neuen, stärker werdenden zeitgenössischen politischen Paradigma, das auf sozioökonomische und -kulturelle Regulierung durch den Staat setzt (vgl. Reckwitz 2019, Pausch/Schieritz 2021), zusammenpassen: Steuerungspolitisch ist das deutsche Gesundheitssystem zwar von einem Regulierungsmix geprägt. Daran hat sich in den letzten Jahren nichts geändert. Sehr wohl kam es aber zu Verschiebungen bei der Frage, welcher strategischen Grundrationale die Steuerung der Akteure und Prozesse vor allem des GKV-Systems folgt. Dabei hat sich in der 19. Legislaturperiode der Trend zu mehr staatlicher, genauer gesagt exekutiver Einflussnahme massiv verstärkt. Dies führt dazu, dass sowohl die Meso- wie auch die Mikroebene an Handlungsmöglichkeiten verlieren – während die Makroebene ihre Spielräume ausweitet. Es zeigt sich, dass von Seiten des BMG dabei selbstbewusst der Anspruch formuliert wird, sich nicht auf den gesundheitspolitischen Rahmen zu beschränken, sondern auch operativer tätig zu werden (prominent war der Lipödem-Vorstoß von Jens Spahn im TSVG). All dies hat 2020/2021 natürlich mit der Pandemie und ihrer Bewältigung zu tun – Stichwort Regieren mit Verordnungen, s. o. –, aber der grundsätzliche strategische Trend hin zu einer Änderung des Machtgefüges vollzieht sich bereits seit einiger Zeit und verwischt die Grenze zwischen Rechts- und Fachaufsicht. Für das gesundheitspolitische Alltagsgeschäft zeigt z.B. § 94 SGB V die Spielräume des BMG, um auf die Richtlinien des G-BA Einfluss zu nehmen.

In der Summe geht das zu Lasten der Selbstverwaltung. Diese bekommt zwar stetig mehr Aufgaben, zumindest die gemeinsame Selbstverwaltung. Sie wird dabei aber immer stärker an die Kandare genommen. Etwa durch enge, teilweise ziemlich kleinteilige gesetzliche Vorgaben für Beschlüsse bis zur Neugestaltung von Entscheidungsräumen. Bereits zuvor hatte das Wettbewerbsparadigma als Problemlöser an Attraktivität verloren – Hilfsmittel-Ausschreibungen sind ein gerne gewähltes Negativbeispiel –, so dass er heute strategisch keine Rolle mehr spielt. (Die Arzneimittel-Rabattverträge sind inzwischen ein bedrohter Restbestand.) Operativ bleibt er gleichwohl wichtig: Entgegen dem strategischen Trend wurden die Möglichkeiten für Selektivverträge (§ 140a SGB V) im Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) erheblich ausgeweitet. Auffällig ist, dass viele Erwartungen, die heute an die Digitalisierung gerichtet werden, früher an den Wettbewerb adressiert wurden: Effizienz, Transparenz, etc. Dabei wird es nicht zuletzt entscheidend sein, wer wiederum die virtuellen Plattformen organisiert, die künftig Versorgungspfade und -angebote steuern. Mit der gematik bringt sich – noch als Diskussionsentwurf – ein staatlich kontrollierter Player als Konstrukteur und Schiedsrichter einer Arena für digitalisierte Medizin ins Spiel (gematik 2020).

Die immer stärker dominierende Steuerungsrationale könnte man als Government-Modus bezeichnen (ähnlich Pfeiffer/Grunenberg 2020), der auch durch den erwähnten Bundeszuschuss das BMF ins Spiel bringt, aber nicht im gleichen Maße wie das BMG. In jedem Fall handelt es sich um eine Form der hierarchischen Steuerung, die auch bereit ist, operativ „durchzuregieren“. Für das BMG ist das insgesamt eine noch recht ungewohnte Vorgehensweise (vgl. Spahn 2020). Um die Nachteile hierarchischer Steuerung abzumildern, bieten sich Verhandlungen der von den Entscheidungen unmittelbar betroffenen Akteure unter direkter staatlicher Aufsicht an. Der Expertenbeirat nach dem COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz ist ein passables Beispiel, wie im Government-Modus zur Entscheidungsvorbereitung des Ministeriums praktischer Sachverstand eingeholt und anschließend Legitimation sichergestellt wird.

Die Dominanz des Government-Modus ist ein prägnanter Unterschied zu den 2000ern, als ordnungspolitisches Leitbild vor allem der Vertragswettbewerb war. Dessen Hochzeiten sind vorbei (parallel dazu ist auch die programmatische Gruppe, die Wettbewerb als Leitbild vorangetrieben hat, am Karriereende. Eine kohärente programmatische Gruppe, die nachfolgt, fehlt allerdings; Hornung 2021). Insgesamt steht die Gesundheitspolitik mit dem Government-Modus aber noch immer eher am Anfang eines steuerungspolitischen Paradigmas. Da derartige Paradigmen das parteipolitische Spektrum in Gänze prägen, gibt es folgerichtig eine rechte wie eine linke Ausprägung des Paradigmas. Für den Government-Modus scheint die rechte Lesart schon halbwegs klar, zumindest aus Sicht des Spahn-BMG, nämlich zentralisiertes hierarchisches „Durchregieren“. Für die linke Seite des Parteienspektrums ist die genaue Ausprägung noch diffus. Dass die staatliche Rolle in der Sicherung der Daseinsfürsorge angepasst werden soll, ist unstrittig. Unklarer aber scheint noch, wie das Instrumentarium dafür neu geordnet werden soll.

Die Pläne der SPD für den ÖGD geben aber zumindest eine Idee davon: mehr Bundeskompetenz, Etablierung als „zentralen Versorgungsbaustein“ neben ambulant und stationär (Mattheis 2020). Bei den Grünen stehen die Zeichen eher auf dezentrales Kooperieren in den Regionen bei gleichzeitiger Stärkung der Kommunen. Grundrationale ist in jedem Fall ein stärkerer staatlicher Fußabdruck, der für die Output-Performance des Gesundheitswesens dann in der Pflicht steht (für die die Bevölkerung im Übrigen durchaus die traditionelle meso-korporatistische Steuerung bevorzugt, Bandelow et al. 2013).

 

Fazit

Gesundheitspolitik in der 19. Legislaturperiode war nicht nur dynamisch, sie stand auch wie selten im Rampenlicht. Dies hatte zunächst nicht zuletzt mit der Person des Ministers zu tun, anschließend hingegen mit der Corona-Krise, in der sich das deutsche Gesundheitssystem insgesamt bewährte, aber eben auch deutliche Mängel und (altbekannten) Reformbedarf offenbarte.

2021 ist ein Superwahljahr. Ob mit Gesundheitspolitik Wahlen nicht nur nicht verloren, um ein Bonmot Horst Seehofers aufzugreifen, sondern vielleicht sogar gewonnen werden können, wird sich unter anderem am 26. September 2021, dem Tag der Bundestagswahl, zeigen. Unter dem Rubrum von Pandemiebekämpfung wird die Gesundheitspolitik nicht nur dann, sondern auch schon vorher im Mittelpunkt stehen. Verstanden als Krankenversicherungspolitik wohl eher nicht. Für diese stellen sich dabei die Rahmenbedingungen nach der Bundestagswahl als harsch dar.

Das absehbare Mittel der Wahl in der Finanzierung, nämlich die verstärkte Nutzung von Steuermitteln, würde in jedem Fall recht nahtlos mit dem neuen, stärker werdenden zeitgenössischen politischen Paradigma einhergehen, das auf sozioökonomische und –kulturelle Regulierung durch den Staat setzt.

Der „Government“-Modus lässt in der Umsetzung gleichwohl einige Freiheiten. Wo die Parteien hierbei stehen und wie diese zur Bundestagswahl 2021 aussehen (könnten), dazu Teil II der Analyse.

 

Literatur

  • Arnold, Jakob/Gathmann, Moritz/Marguier, Alexander: Münsterländer Machtmensch. In: Cicero 18 (3), S. 38-40.
  • Bandelow, Nils/Eckert, Florian/Rüsenberg, Robin (2013): Wie möchten die Wähler verarztet werden? Gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse im Urteil der Bevölkerung. In: Böcken, Jan/Braun, Bernard/Repschläger, Uwe (Hg.): Gesundheitsmonitor 2012. Bürgerorientierung im Gesundheitswesen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, S. 14-27.
  • Braun, Helge (2021): Ein Pakt für Deutschland nach der Pandemie. In: Handelsblatt vom 26. Januar.
  • BRH – Bundesrechnungshof (2020): Bericht nach § 88 Absatz 2 BHO über die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung; Teil 1: Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die gesetzliche Krankenversicherung. Unveröffentlichtes Dokument vom 13. November.
  • BRH – Bundesrechnungshof (2021): Bericht nach § 88 Absatz 2 BHO über die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung; Teil 2: Gegenstand und Auskömmlichkeit des Bundeszuschusses an die gesetzliche Krankenversicherung. Unveröffentlichtes Dokument vom 1. Februar.
  • gematik (2020): „Arena für digitale Medizin. Whitepaper Telematikinfrastruktur 2.0 für ein föderalistisch vernetztes Gesundheitssystem“, Berlin, Dezember 2020, https://www.gematik.de/news/news/weichenstellung-fuer-mehr-zusammenspiel-im-gesundheitswesen/ [27.02.2021]
  • Greive, Martin/Hildebrand, Jan/Waschinski, Gregor (2021): Teure Attacke auf den Etat. In: Handelsblatt vom 26. Februar.
  • Hermann, Christopher (2021): Spahns exekutiver Dirigismus vor dem Offenbarungseid. Online verfügbar unter: https://observer-gesundheit.de/spahns-exekutiver-dirigismus-vor-dem-offenbarungseid/, [26.02.2021].
  • Hornung, Johanna (2021): The (mis)fit of policy programs to political institutions and its influence on programmatic action – How crisis has differently hit French and German health policy. In: European Policy Analysis 7 (1), S. 1-19.
  • Korte, Karl-Rudolf (2020): Über den elastischen Sicherheitskonservativismus der CDU-Wähler. In: Lammert, Norbert (Hg.): Christlich Demokratische Union. Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU. München: Siedler, S. 335-359.
  • Laschet, Armin (2021). Interview. In: MIT Online vom 17. Februar. Online verfügbar unter: https://www.mit-bund.de/content/armin-laschet-im-interview-buerokratieabbau-muss-ein-kernthema-im-wahlkampf-sein, [26.02.2021].
  • Mattheis, Hilde (2020) (zum Beschluss der Arbeitsgruppe Gesundheit der SPD-Bundestagsfraktion vom 3.11.2020): Am Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) wird deutlich, wie wichtig Daseinsvorsorge ist. Daseinsvorsorge stärken heißt: Sozialen Zusammenhalt und Vertrauen in unseren Staat stärken. https://www.docdroid.net/KwRBwEm/beschluss-ag-gesundheit-ogd-03112020-pdf#page=7 [01.02.2020].
  • Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp.
  • Paquet, Robert (2020): Struktureller Reformbedarf in der Pflegeversicherung – ein Vierteljahrhundert nach ihrer Einführung. In: Jacobs, Klaus/Kuhlmey, Adelheid/Greß, Stefan/Klauber, Jürgen/Schwinger, Antje (Hg.): Pflege-Report 2020. Neuausrichtung von Versorgung und Finanzierung. Springer: Berlin, S. 3-20.
  • Paquet, Robert/Rüsenberg, Robin (2018): Fördern und Fordern: Was bringt das TSVG für die ambulante Versorgung? Online verfügbar unter: https://observer-gesundheit.de/foerdern-und-fordern-bringt-das-tsvg-fuer-die-ambulante-versorgung/, [26.02.2021].
  • Pausch, Robert/Schieritz, Mark (2021): Mehr Staat, weniger Markt? In: Die Zeit vom 18. Februar 2021.
  • Pfeiffer, Doris/Grunenberg, Markus (2020): Selbstverwaltung im Gesundheitswesen: Von Governance zu Government. In: Hofmann, Claudia Maria/Spiecker gen. Döhmann, Indra/Wallrabenstein, Astrid (Hg.): Mehrwert der Selbstverwaltung, Frankfurt/Main: Peter Lang, S. 15-39.
  • Spahn, Jens (2020): Interview. In: Ärztezeitung vom 18. Dezember.
  • Spahn, Jens (2021): Interview. In: Süddeutsche Zeitung vom 15. Februar.

 

Dr. Robert Paquet

freier Journalist, Berlin

 

Dipl.-Pol. Robin Rüsenberg

Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig und Geschäftsführer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä) e.V., Berlin.

Der Autor vertritt seine private Meinung.


Observer Gesundheit Copyright
Alle politischen Analysen ansehen