Pharma ohne Reform: War´s das?

Sebastian Hofmann, Redakteur Observer Datenbank, Monitor Gesundheitspolitik

Betrachtet man die Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung, wirkt der Arzneimittelbereich ungewohnt entspannt. Die lustigen Talkshows mit Karl Lauterbach als „Oppositionsführer“ sind lange vorbei, berufsmäßige Pharmakritiker werden in den Medien eher am Rande zitiert, und selbst die Krankenkassen haben es mit guten Daten schwer, öffentliches Gehör zu finden. Auch der ansonsten so fleißige Gesundheitsminister scheint sich für die Erstattung von Arzneimitteln im Moment nicht zu interessieren. Sein einziges Pharmagesetz (GSAV) konzentrierte sich auf regulatorische Maßnahmen, und die Erhöhung der Sicherheit wurde – wie immer – von allen Seiten begrüßt. Nur einige wenige Änderungen haben indirekte Bedeutung für die Erstattung durch die Krankenkassen, wie z.B. der neue Vertriebsweg für Hämophilie-Produkte oder der Austausch von Biosimilars in der Apotheke.

Für pharmazeutische Unternehmen (nennen wir sie hier: PU) und Krankenkassen stellt sich nun die Frage: War´s das an Reformen? Sind die weitgehend eingespielten Regelungen für die Erstattung von rezeptpflichtigen Arzneimitteln ein Wettbewerbsrahmen, der politisch stabil ist und eine langfristige Unternehmensplanung erlaubt? Oder steht eine weitere Reform ins Haus?

Bei ungelösten Problemen könnte sich die entspannte Lage schnell als Ruhe vor dem Sturm entpuppen. Dass dies durchaus wahrscheinlich ist, sei im Folgenden an vier „Hot Spots“ und einigen Indizien beleuchtet.

 

Hot Spot Eins: Erstattung als Gnadenakt?

Die Ausgangslage seit dem AMNOG: Ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff ist in Deutschland sofort erstattungsfähig. Im ersten Jahr bezahlt die GKV den frei gewählten Einführungspreis des Herstellers. Für die Erstattung ab dem zweiten Jahr muss der Hersteller einen Preis („Erstattungsbetrag“) mit dem GKV-Spitzenverband vereinbaren. Grundlage dieser Verhandlungen ist ein Beschluss des G-BA: Der G-BA beschließt, ob er im Rahmen einer „frühen Nutzenbewertung“ einen Zusatznutzen als belegt ansieht. Das heißt: Der neue Wirkstoff wird nur dann als geldwerter Fortschritt akzeptiert, wenn der Hersteller mit Studien nachweist, dass im Vergleich zu einem anderen Wirkstoff ein relevanter Vorteil besteht. Den jeweils anderen Wirkstoff nennt der G-BA die zweckmäßige Vergleichstherapie (zVT); das ist der Komparator für die geforderten Studien; dieser wird vom G-BA frei gewählt. Die methodischen Anforderungen des G-BA an die Studien sind hoch und bekannt.

Die Geschichte vom vorbildlichen Unternehmer: Stellen wir uns folgenden Business Case vor: Ein vorbildlicher PU

  • spricht schon in der Entwicklungsphase eines neuen Wirkstoffes bei seinem Headquarter am anderen Ende der Welt vor,
  • mobilisiert dort unter Verweis auf die Erwartungen der GKV ein 50 Mio. Euro schweres Budget für eine deutsche Sonder-Studie,
  • geht frühzeitig zur G-BA-Beratung und lässt sich vom G-BA den gewünschten Komparator (zVT) für den obligatorisch geforderten Vergleich nennen,
  • führt die deutsche Sonder-Studie mit dem vom G-BA empfohlenen Komparator in einem mit Deutschland vergleichbaren Versorgungskontext durch,
  • und lässt seine Mitarbeiter über viele Monate ein Dossier für die Nutzenbewertung im G-BA auf der Grundlage der deutschen Sonderstudie erstellen.

Der G-BA stellt nun kurz vor der Bewertung fest, dass seine damalige Empfehlung bezüglich des Komparators nicht mehr dem Stand der Wissenschaft (Goldstandard in der Therapie) entspricht und ändert nachträglich die Vorgaben für den Vergleich. Schließlich ist der Stand der Wissenschaft der oberste Maßstab für den G-BA, und Empfehlungen sind immer unverbindlich (was im Übrigen auch für Empfehlungen der Zulassungsbehörden gilt). Die auf Empfehlung des G-BA durchgeführte Sonder-Studie ist damit zunächst wertlos. Die zu erwartende Bewertung lautet: Durchgefallen, weil „der Hersteller keine geeigneten Daten vorgelegt hat“. Dem PU bleibt nun nur noch eine Möglichkeit. Gibt es eine Schnittmenge zwischen den Studiendaten des neuen, vom G-BA kurzfristig gesetzten Komparators und der für den deutschen Markt eigens gefertigten Studie, ist auch ein „indirekter Vergleich“ zugelassen. Damit besteht theoretisch die Möglichkeit, indirekt einen Vorteil im Vergleich zu der neuen Studie aufzuzeigen. Das Problem: Um die hohen methodischen Anforderungen erfüllen zu können, braucht der PU aus der Studie des Komparators die Originaldaten und muss damit (um den Mangel „nur indirekt“ zu heilen) einen dramatischen Vorteil nachweisen. Die Klage der Industrie, dies sei unrealistisch, wirkt durchaus überzeugend, wozu der G-BA-Vorsitzende Josef Hecken selbst das Indiz liefert: In der Plenumssitzung des G-BA vom 21.2.2019 verkündet Hecken, erstmals (!) habe ein adjustierter indirekter Vergleich zu einer positiven Bewertung geführt und betont: „In Zukunft kann niemand mehr behaupten, der G-BA akzeptiere grundsätzlich keine indirekten Vergleiche“ – das klingt eher wie ein herausragender Erfolg für den Wirkstoff Nivolumab und nicht wie ein realistisches Standardverfahren.

Zurück zu unserem Fall: Der vorbildliche PU spricht also erneut in seinem Headquarter vor und berichtet: Um die eigens für Deutschland unternommene Studie verwerten zu können, seien nun die Originaldaten des Wettbewerbers erforderlich. Diese sind in der Regel unerreichbar; nichts ist so gut vor dem Zugriff von Wettbewerbern geschützt wie Forschungsdaten zu Arzneimitteln. Und falls doch, fallen bei einem indirekten Vergleich alle „undramatischen“ Vorteile unter den Tisch. Der Bericht ans Headquarter lautet also: Alles umsonst, vielleicht ist der GKV-Spitzenverband in den Verhandlungen entgegenkommend; die gesetzlichen Voraussetzungen für eine gute Erstattung sind nicht schlecht.

Und in der Tat: Trotz dieses unseriös wirkenden Außenauftritts des deutschen Systems hat der PU Chancen auf einen guten wirtschaftlichen Erfolg. Der Wirkstoff wird zwar voraussichtlich ohne das Label „Zusatznutzen belegt“ aus dem Bewertungsverfahren des G-BA gehen und das bedeutet: Laut Sozialgesetzbuch soll der Erstattungsbetrag höchstens dem des Komparators entsprechen. Frei nach der Logik: Wer nicht bewiesen hat, dass er besser ist, soll auch keinen höheren Preis bekommen. Die Frage ist nun: Wie hoch ist der Preis des vom G-BA nachträglich gesetzten Komparators. Da der G-BA allgemein als seriöser Akteur gilt, ist davon ausgehen, dass solche Zumutungen an den Hersteller nur in Frage kommen, wenn es in der jeweiligen Therapie tatsächlich erhebliche Fortschritte gegeben hat. Und die gibt es in aller Regel nur mit (anderen) neuen und meist hochpreisigen Medikamenten. Der Preis des Komparators, der als Obergrenze für die anstehenden Verhandlungen mit der GKV gilt, dürfte also durchaus attraktiv sein.

Deutschland im Fremdbild: vertretbar oder unseriös? Der (vorbildliche) PU steht damit vor der Situation: Er ist in seinem Headquarter diskreditiert und braucht für den wirtschaftlichen Erfolg seines neuen Wirkstoffes das Entgegenkommen der GKV in den Verhandlungen, die einen fairen Ausgleich ermöglichen sollen. Das ist aus Sicht der Industrie, die sich wie jedes Unternehmen nach verlässlichen Rahmenbedingungen sehnt, sehr unbefriedigend.

Die Frage ist nun: Hat das Problem irgendeine politische Relevanz? Das Bedürfnis der Industrie nach fairen Verhältnissen hat in der deutschen Gesundheitspolitik noch nie eine Rolle gespielt; die guten Renditen (und Boni) gelten als Schmerzensgeld. Sicher ist aber auch das nicht. Stellen wir uns vor, der weltbekannte CEO eines großen amerikanischen Pharma-Unternehmens kommt nach Deutschland, bekommt selbstverständlich eine Stunde Gespräch beim Minister eingeräumt und zieht dort vom Leder – so ganz persönlich von Buddy zu Buddy der internationalen Elite. Egal, ob Spahn für so etwas empfänglich ist oder nicht: Kein Minister ist gerne verantwortlich für ein System mit einer unseriösen Außenwirkung; solche Gespräche können Folgen haben. Und da es im BMG inzwischen zur Tradition gehört, dem G-BA in jedem neuen Gesetz eine kleine Kröte mitzugeben – warum nicht auch einmal eine Kröte zur frühen Nutzenbewertung, die da lautet: Was der G-BA empfiehlt, muss der G-BA auch akzeptieren. Das o.g. Missverhältnis ist so eklatant, dass die Verhältnisse nicht in Stein gemeißelt sein dürften.

 

Hot Spot Zwei: Milliarden auf die Schnelle

Die geänderte Ausgangslage durch Sprunginnovationen: Es gibt großartige Fortschritte in der Medizin: Bei neuartigen Therapieformen helfen Viren, die menschliche DNA zu reparieren, und genetisch manipulierte Eigenblut-Arzneimittel versprechen, bislang nicht behandelbare Krankheiten zu heilen. Statt lebenslanger Therapie genügt bei manchen Neuheiten eine einzige Infusion (Einmalgabe). Der Zugang ist schnell: Eine neue Therapie, auf die oft sehnsüchtig gewartet wird, kann sofort nach der Zulassung beginnen. Im ersten Jahr gilt der Preis des Herstellers. Die GKV bezahlt.

Der hypothetische Extremfall: Ein kurzfristig orientierter Investor übernimmt einen Hersteller, der für eine seltene Erkrankung eine Therapie in Einmalgabe zur Zulassung bringt. Weil das hochmoderne Arzneimittel Heilung verspricht, setzt der Investor den Einführungspreis auf 2 Mio. EUR fest. Es gibt in Deutschland 1.000 Patienten, die dringend auf Behandlung warten. Der G-BA beschränkt die Behandlung kraft seiner mit dem GSAV neu erworbenen Kompetenz auf vier Zentren, die er als geeignet für eine „qualitätsgesicherte Anwendung“ hält. Wegen des hohen Leidensdruckes behandeln die vier Zentren alle 1.000 Patienten im ersten Jahr. Hersteller und Zentren finden einen Weg, die Behandlung ambulant zu organisieren. Die GKV bezahlt im ersten Jahr für die versprochene Heilung aller 1.000 Patienten insgesamt 2 Mrd. EUR. Die Bewertung der Therapie im G-BA und die Preisverhandlung mit dem GKV-Spitzenverband entfalten ihre Wirkung dann nur noch für die insgesamt zehn Patienten, die in den zehn Folgejahren bis zum Ende der Marktexklusivität mit dieser Krankheit nachgeboren werden. Egal, wie erfolgreich die Therapie sich im Zeitverlauf erweist: Die 2 Mrd. EUR gehören dem Investor. Das ebenfalls mit dem GSAV eingeführte Recht des G-BA, vom Hersteller behandlungsbegleitende Daten einzufordern, kann hier nur noch dazu dienen, nachträglich zu überprüfen, ob sich die 2 Mrd. EUR „Investition in ein Heilsversprechen“– gelohnt haben – jedoch ohne Konsequenzen.

Die Lösung der Industrie: Die Industrie kontert dieses düstere Orakel mit dem Hinweis auf „Pay for Performance“ – Verträge. Dabei vereinbaren die Hersteller mit den Krankenkassen erfolgsabhängige Vergütungsbestandteile, v.a. Rückzahlungen für den Fall des Therapieversagens (z.B. Patient trotz Therapie tot – halbes Geld zurück). Solche Verträge sind freiwillig. Für die zwei bereits verfügbaren Therapien einer neuen Wirkklasse (CAR-T-Zelltherapien) haben die Hersteller entsprechende Verträge geschlossen. Viel weiß man nicht darüber, die Vereinbarungen werden von beiden Seiten vertraulich behandelt. Das Problem der GKV: Für den hypothetischen Extremfall (s.o.) ist nicht ersichtlich, warum der Investor auf die maximale Rendite nach Rechtslage verzichten sollte. Eine kurzfristige Renditeerwartung ist heutzutage auch im Gesundheitswesen denkbar. Verträge mit erfolgsabhängigen Vergütungen bieten damit eine Möglichkeit, keinesfalls aber eine Gewähr für eine angemessene Vergütung einer neuen Therapie.

Die Gemengelage der Kassen: Durchaus interessant ist hier die angespannte Gemengelage innerhalb der GKV. Die Krankenkassen haben sich in den letzten Jahren hochprofessionelle Abteilungen für Arzneimittel aufgebaut. Sie wissen daher ganz genau, was auf sie zukommt und wollen das Heft des Handelns im Zweifelsfall selbst in die Hand nehmen. Eine nachgeordnete Rolle zur operativen Umsetzung von zentral vereinbarten Pay-for-Performance-Verträgen dürfte zumindest den großen Einzelkassen sehr widerstreben. Als Argument für den Vorrang dezentraler Vereinbarungen zwischen Hersteller und Kasse dient dabei u.a. die regionale Komponente. Der GKV-Spitzenverband dagegen unterhält ein großes Team an Verhandlern, das mit den vielfältigen Aspekten der neuen Therapien umgehen kann und dabei – wie es sich für eine Körperschaft des öffentlichen Rechtes gehört – gleiches Vorgehen in vergleichbaren Fällen sicherstellt. Diese Aufgabe erfüllt der Verband offensichtlich sehr gut. Trotz inhaltlicher Differenzen mit der Industrie – ernsthafte Kritik am GKV-SV als Verhandler ist nicht einmal hinter vorgehaltener Hand zuhören. So ein Pfund prädestiniert für höhere Aufgaben. Wird der Gesetzgeber also tatsächlich in Richtung Pay-for-Performance-Verträgen aktiv, stellt sich die Frage: Wer bekommt auf Seiten der Kostenträger das Verhandlungsmandat? Das könnte letztlich auch davon abhängen, ob solche Verträge dauerhaft als eine Art Bypass für die stationäre Therapie mit Arzneimittelneuheiten dienen sollen. Einige der neuartigen Therapien können bisher nur im stationären Kontext angewandt werden (womit das träge DRG-System völlig überfordert ist).

Der Schwarze Peter: Die grundsätzliche Frage, ob diese (durch erfolgreiche Forschung entstandene) faktische Lücke in der Preisregulierung eine politische Relevanz birgt, erübrigt sich. Die Politik hat das Grundvertrauen in die forschende Industrie im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends verloren; die erste Reaktion war das AMNOG. Die zweite Reaktion erscheint daher so sicher, wie das AMEN in der Kirche. Völlig offen ist bisher aber, wie eine Lösung aussehen könnte. Die Pharma-Verbände verteidigen bisher das erste Jahr freier Preisbildung als Garantie für einen schnellen Zugang zu neuen Therapien; bekannte Argumente – möglicherweise mangels alternativer Konzepte. Neue Konzepte wären allerdings auch im originären Interesse der Industrie. Weil der GKV-Erstattungs-Kuchen nur einmal verteilt werden kann, müssten die Folgen solcher Extremfälle alle Hersteller tragen. Die GKV ihrerseits will den schnellen Zugang für Patienten in Deutschland weiterhin erhalten („keine vierte Hürde!“), für dieses Privileg aber möglichst nicht bezahlen, indem beispielsweise der verhandelte Rabatt nicht wie bisher nach einem Jahr, sondern rückwirkend zum Markteintritt gewährt werden soll. Überzeugend ist das auch nicht; dem PU könnte der Eindruck entstehen, man wolle ihn für dumm verkaufen. Damit liegt der schwarze Peter wieder einmal beim BMG. Wenn die Zeit gekommen ist, wird das zuständige Referat händeringend und möglicherweise unter Zeitdruck nach einer Lösung suchen, die einerseits ungerechtfertigte Extremrenditen im ersten Jahr verhindert und gleichzeitig den schnellen Zugang für die Patienten garantiert. Ausgang sehr ungewiss. Vielleicht beflügelt diese Aussicht beide Seiten nochmal zu konzeptionellen Vorschlägen mit handfester Aussicht auf Verwirklichung.

 

Hot Spot Drei: Patienten (und Apotheker) ohne Arzneimittel

Auch wenn das öffentliche Interesse für Arzneimittel derzeit schwach ist: Einen festen Platz in TV-Magazinen hat seit Jahren das Thema Lieferengpässe. Man kann es als beachtlichen Erfolg für die Pharmaverbände verbuchen, dass der Schwarze Peter in der Berichterstattung nicht automatisch der Industrie zugeschoben wird. Und in der Tat: Die Gründe sind vielschichtig und i.d.R. nicht von der Industrie zu verantworten:

  • Sicherheit geht über alles. Bei der kleinsten Verunreinigung (oder gar einer gesehenen Maus) muss die Produktion gestoppt werden, bis die Ursache gefunden und behoben ist. Das kann mehrere Monate dauern. Die Aufsichtsbehörden sind sehr genau, und die Produktion gerade biologischer Arzneimittel ist sehr komplex. Ausweichen auf andere Orte ist keine Option, weil die Produktionsanlage Teil der Zulassung ist. Ist die Produktion gestoppt, ist der Output Null.
  • Wirkstoffe sind knapp. „Die Pharmaindustrie“ gibt es schon lange nicht mehr. Von der Suche nach neuen Therapien bis hin zur generischen Massenproduktion gibt es sehr heterogene Unternehmen mit verschiedenen Wertschöpfungskonzepten. Die Herstellung der „aktiven Substanzen“ (Wirkstoffe) ist aufwändig; daher werden die Wirkstoffe für die Herstellung von generischen Standard-Arzneimitteln meist zugekauft. Das ist der Normalfall. Der weltweite Kostendruck bei patentfreien Arzneimitteln hat zu einem breiten Outsourcing der Produktion von Wirkstoffen geführt. Für die meisten Wirkstoffe gibt es nur noch wenige, teils sogar nur ein oder zwei Anbieter in Asien. Wenn ein Anbieter aus Asien nicht nach Deutschland liefern kann oder will, wird hier nichts produziert. Gründe für ausbleibende Lieferungen aus Asien können sein: Der Anbieter hat selbst einen Produktionsengpass wegen Qualitätsmängeln, die Nachfrage ist gestiegen, weil China selbst mehr Wirkstoff braucht, oder anderswo wird mehr bezahlt, und die knappe Ware folgt dem Preis.
  • Anbieter geben auf. Rabattverträge mit europaweiter Suche nach dem billigsten Anbieter haben den Krankenkassen hohe Einsparungen in Milliardenhöhe gebracht und im Gegenzug alle Beteiligten zu maximaler Rationalisierung gezwungen. Dazu gehört auf Seiten der Hersteller nicht zuletzt eine Konzentration auf bestimmte Artikel; das Sortiment wird bereinigt. Manche Anbieter geben sogar ganz auf. Immer neue Auflagen, z.B. aus dem Umweltbereich, beschleunigen die Konzentration. Damit sinkt laufend die Zahl der Anbieter, was bedeutet: Fällt einer aus, kann keiner mehr einspringen. Das ist normal. Eine effiziente Versorgung kennt per se keine Reserven; was im Normalbetrieb „übrig“ ist, wird als ineffizient wegrationalisiert. Ähnliches gilt für Generika in den Bereichen, die (noch) nicht durch Rabattverträge geregelt sind; dort sorgen Festbeträge und das seit 2009 gültige Preismoratorium für entsprechenden Kostendruck.

Genervte Apotheker, alarmierte Politiker: Kommt es schließlich zu Lieferengpässen, schaffen es Apotheker in Offizin und Krankenhaus in den allermeisten Fällen, für gleichwertigen Ersatz zu sorgen. Diese Art von Versorgung ist bei den Apothekern aber höchst unbeliebt: Kein Heilberufler mag sich um Arzneimittel bemühen müssen, was dazu führt, dass deren Verbände das Thema seit Jahren in der Öffentlichkeit halten. Und stetig schwebt das Damokles-Schwert über allen Verantwortlichen, dass eines Tages jemand ernsthaft Schaden erleidet, weil eine benötigte Therapie nicht verfügbar war.

Diese Mischung schafft politische Brisanz auf hohem Niveau. Deutliches Indiz für die Bedeutung des Problems sind die Aktivitäten des CDU-Abgeordneten Michael Hennrich. Der für Arzneimittel zuständige Gesundheitspolitiker ist seit vielen Jahren im Bundestag und dennoch selten aufgefallen durch Positionen, Konzepte oder Ziele. Stattdessen verweist der Schwabe in Debatten routiniert auf den Widerstand der anderen, wie z.B. die SPD, das BMG, den G-BA, die Kassen etc. Beim Thema Lieferengpässe scheint es nun anders. Im GSAV hatte sich die Koalition noch beschränkt auf einen zahnlosen Satz: „In den Vereinbarungen nach Satz 1 (Rabattverträge) sind die Vielfalt der Anbieter und die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung der Versicherten zu berücksichtigen“. Dieser Satz ist überflüssig. Jede Krankenkasse wird natürlich für sich reklamieren, dies bereits seit Jahren zu praktizieren. Wie sollte sie auch anders? In einem aktuellen Entwurf für ein Positionspapier der Union zu Lieferengpässen werden nun erstmals auch konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. Das Papier liegt in Hennrichs Verantwortung und folgt einem Interview, das er am 30. August der DAZ gegeben hatte.

Absicherung und Gesichtswahrung: Es tut sich also konzeptionell etwas im Bundestag; das ist ungewöhnlich. Michael Hennrich hat sich allein durch den Entwurf des Papiers politisch abgesichert. Passiert tatsächlich ein Unglück, kann er immer auf seine Initiative verweisen. Ob wirklich politischer Gestaltungswille dahinter steckt, bleibt abzuwarten. Beispielsweise wird in dem Papier gefordert, dass bei Rabattverträgen immer mindestens zwei Anbieter den Zuschlag erhalten sollen. Diese „Mehrfachvergabe“ war bereits im Pharmadialog als gemeinsames Ziel formuliert worden, was Hennrich jedoch nicht davon abhielt, das Industrie-Petitum für eine Mehrfachvergabe während der Gesetzgebung zum GSAV als „zu kurzfristigen Vorschlag“ abzulehnen. Dieser Schlingerkurs könnte nun in einer klar formulierten Forderung der AG Gesundheit einer Regierungsfraktion münden. Dann müsste wohl auch das BMG – zumindest gesichtswahrend – mit irgendeiner Initiative nachziehen.

 

Hot Spot Vier: Die Marke ist tot, es lebe der Parallelimport

Weit unter dem Radar von Politik und Öffentlichkeit wurde kürzlich eine „Bombe aus Versehen“ scharfgeschaltet: Nach fünf Jahren Verhandlungen trat im Juli der neue Rahmenvertrag zwischen GKV und der Apothekerschaft in Kraft. Darin wird u.a. geregelt, wie sich ein Apotheker verhalten muss, um von den Krankenkassen nicht per Retax bestraft zu werden.

Markenhersteller auf dem Abstellgleis: Im generischen Markt war der Apotheker früher auf der sicheren Seite, wenn er entweder das tatsächlich verordnete Präparat oder eine der drei günstigsten Alternativen abgegeben hatte (vorausgesetzt es liegt kein Rabattvertrag vor; der geht im Zweifelsfall immer vor). In der neuen Version des Rahmenvertrages zählt die konkrete Verordnung des Arztes nun gar nichts mehr; diese gilt grundsätzlich als unwirtschaftlich. Stattdessen muss eines der vier günstigsten Präparate mit dem gleichen Wirkstoff abgegeben werden. Das bedeutet für den Bereich der GKV: Es ist endgültig egal, mit welchem Markennamen ein Arzt einen Wirkstoff assoziiert; die Verordnung eines konkreten Arzneimittels hat keine Auswirkung mehr. Oder aus Unternehmenssicht: Die Marke ist tot. Dies ist für Markenhersteller eine unerfreuliche Entwicklung, die sich aber logisch einfügt in die seit Jahren anhaltende Tendenz: Der Preis ist das einzige Kriterium.

Der Schildbürgerstreich, den niemand wollte: Diese Neuregelung wird in Kombination mit einer schlampigen Definition zu der o.g. Bombe. Aus Verhandlungskreisen verlautet dazu: Keiner hat es gewollt! Trotzdem lautet die geltende Rechtslage: Patentgeschützte Arzneimittel, die in Co-Marketing von zwei verschiedenen PU angeboten werden, werden dem generischen Markt zugeordnet (weil: es gibt ja mehr als einen Anbieter). Im generischen Markt gilt die o.g. Regel: Es muss immer eines der vier günstigsten Arzneimittel abgegeben werden. Das ist gerade bei patentgeschützten Arzneimitteln immer ein Parallelimport. Was bedeutet: Für alle Produkte, die im Co-Marketing vertrieben werden, dürfen jetzt nur noch Parallelimporte abgegeben werde, sonst wird der Apotheker wegen unwirtschaftlichen Verhaltens bestraft.

Damit entsteht die groteske Situation: Einerseits herrscht ein breiter Konsens, dass der Import von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln nicht gewollt ist. Lediglich die saarländische Lobby (Peter Altmaier, Annegret Kramp-Karrenbauer) hat bislang verhindert, dass die politischen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ein Verbot des (Re-) Importes beschließen. Gleichzeitig wirkt die Vereinbarung zwischen GKV und Apothekerschaft wie ein Booster für den Handel mit importierten Packungen (obwohl die Arzneimittel in Deutschland problemlos verfügbar wären).

Nachbesserung oder Änderungsantrag? Dies hat inzwischen auch das BMG auf den Plan gerufen. Dem Vernehmen nach hat der zuständige Abteilungsleiter, Thomas Müller, die Verhandlungspartner offiziell aufgefordert, für patentgeschützte Arzneimittel im Co-Marketing eine gemeinsame Lösung zu finden. Die üblichen Nachverhandlungen zur Bereinigung von Kinderkrankheiten des Vertragswerkes laufen bereits. Da nun aber die Mühlen der Selbstverwaltung langsam mahlen, während in der Industrie ganze Geschäftsmodelle vor dem Zusammenbruch stehen, könnte das BMG auch nach einem schnelleren Weg suchen. Ein emotional so aufgeladenes Thema wie Importarzneimittel kann das BMG schließlich nicht lange liegen lassen, und für einen kleinen Änderungsantrag findet sich immer ein passender Omnibus. Für die Zukunft stellt sich weiterhin die grundsätzliche Frage: Müssten bei solchen „Verträgen zulasten Dritter“ die belasteten Dritten nicht irgendwie beteiligt werden? Und sei es nur durch die Möglichkeit zur Stellungnahme. Auch wenn das jetzt keiner mehr hören will: Dann hätten es zumindest alle vorher merken können.

 

Fazit

Die vier geschilderten Hot Spots legen eine Schlussfolgerung nahe: Hersteller, Krankenkassen und Apotheker müssen sich auf weitere Eingriffe des Gesetzgebers in erstattungsrelevanten Bereichen der Arzneimittelversorgung einstellen. Neben ungelösten strukturellen Problemen dürfte auch im operativen Geschäft immer wieder neuer Handlungsbedarf erkennbar werden. Man kann allen nur empfehlen: Bleiben Sie informiert!


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