23.08.2018
RSA Regionalgutachten 2018 – Gefangen in der eingespielten Logik
Dr. Robert Paquet
Der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des RSA hat nach dem Sondergutachten zur Evaluation im Juni 2018 auch das Gutachten zu den regionalen Verteilungswirkungen des RSA vorgelegt. Geklärt werden sollten die Unter- und Überdeckungen auf regionaler Ebene, die auch beim aktuellen Morbi-RSA verbleiben. Für sie sollte der Beirat ggf. eine Ergänzung des Ausgleichsverfahrens entwickeln. Um es kurz zu machen: Der Beirat sieht Handlungsbedarf und tastet sich mit seinem eingeübten Zahlenspiel zu einer recht komplexen Lösung voran. Der folgende Beitrag versucht, diesen Argumentationsgang nachzuvollziehen. Auch wenn man sich der Logik des Gutachtens schwer entziehen kann, wächst bei der Lektüre der Verdacht auf einen Zirkelschluss.
Eine komplexe Aufgabe
Es liegt auf der Hand, dass die Morbiditätsunterschiede, die der RSA auszugleichen versucht, nicht nur interpersonal, sondern auch regional ungleich verteilt sind. Insoweit stellt der Beirat zutreffend fest: „Dabei sind regionale Ausgabenunterschiede zumeist das Ergebnis einer Vielzahl heterogener, teilweise gegenläufig wirkender Einflussfaktoren. Eine Abgrenzung zwischen den Ausgabenvariationen, die morbiditätsbedingt sind, und solchen regionalen Ausgabeunterschieden, die ihre Ursache in Ineffizienzen in den Versorgungsstrukturen oder einer regional unterschiedlich ausgeprägten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch die Versicherten haben, ist kaum trennscharf möglich.“ Darüber hinaus kämen auch weitere Gründe für regionale Ausgabendisparitäten in Frage, „wie etwa das Nebeneinander regional zuständiger Aufsichten, das etwa zu Unterschiedlichkeiten bei Satzungsleistungen und Vertragsgestaltungen führen kann“. (S. 1).
Trotz dieser Komplexität kommt der Beirat zu dem Schluss, dass die regionalen Deckungsunterschiede problematisch sind und „Handlungsbedarf“ besteht. Aus den Instrumenten zur Analyse dieser Unterschiede entwickelt der Beirat schließlich ein regionalstatistisches Modell, das „auf mittlere Sicht“ die RSA-Architektur um eine regionale Komponente ergänzen soll. Es nivelliert etwa die Hälfte der regionalen Deckungsunterschiede; nach Auffassung der Gutachter sollten jedoch auch die weiteren Über- und Unterdeckungen ausgeglichen bzw. in Form differenzierter Zusatzbeiträge berücksichtigt werden.
Der Beirat hat sich bei dieser schwierigen Aufgabe ziemlich respektabel aus der Affäre gezogen. Die Anforderungen waren spannungsreich: Das Hauptaugenmerk galt der Vermeidung (regionaler) Risikoselektion. Andererseits musste eine zu große Annäherung an regionale Ausgabenausgleiche (de facto Ist-Ausgleiche) vermieden werden, um wettbewerbliche Wirtschaftlichkeits-Anreize der Kassen zu erhalten. Diese Balance wurde gewahrt, allerdings um den Preis eines technokratischen Vorschlags, der politisch-praktisch kaum jemanden begeistern wird. Allerdings weist der Beirat noch in seiner Einleitung darauf hin, dass es zur „Schaffung von Wettbewerbsgleichheit unter den Krankenkassen … neben einem funktionsfähigen Morbi‐RSA auch der Etablierung einer bundesweit einheitlichen wettbewerblichen Rahmenordnung“ bedarf (S. 2). Immerhin finden sich dazu im Evaluationsgutachten einige Ausführungen. – Aber der Reihe nach: Was wurde eigentlich gemacht?
Die Präliminarien
Ziel war zunächst eine Bestandsaufnahme der „regionalen Charakteristika“ der RSA-Daten (Kapitel 3) und die Beschreibung der regionalen Verteilungswirkungen des RSA beim Status quo (Kapitel 4). Dabei geht es um die Leistungsausgaben ohne Krankengeld (das ja als letzte verblieben Äquivalenzleistung in einem weiteren Sondergutachten vertiefend untersucht werden soll). Die Untersuchung der Regionalaspekte wurde möglich, weil mit dem Meldejahr 2017 der amtliche Gemeindeschlüssel (AGS) erstmalig seit der Konvergenzregelung wieder als zusätzliches Merkmal der Versichertenstammdaten für das Berichtsjahr 2016 erhoben wurde. Er kodiert das Bundesland, die Kreise und kreisfreien Städte sowie die Gemeindekennziffern. Bemerkenswert ist, dass die Gemeindegröße in den einzelnen Bundesländern stark variiert und die Gemeindeverbände, die nach dem Schlüssel erkennbar sind, „einen vergleichsweise homogeneren Blick auf regionale Aggregate unterhalb der Kreisebene ermöglichen als es über die AGS selbst möglich ist.“ (S. 8). Als Kennzahlen für die statistische Auswertung wurden auf Individualebene die bekannten Gütemaße genutzt (R2, CPM und MAPE). Für Versichertengruppen werden Deckungsquoten und die durchschnittlichen Deckungsbeträge bestimmt. Als Gruppen sind vor allem solche Versicherte interessant, gegen die ggf. eine Risikoselektionsstrategie der Kasse betrieben werden könnte. Sie werden nach bestimmten Leistungsmerkmalen bestimmt (mindestens eine Verordnung; mehr als 20 Verordnungen, mindestens eine ambulante Diagnose oder eine Hospitalisierung, mit im RSA-80 berücksichtigten Krankheiten, nur ohne solche Krankheiten, „Kassenwechsler“ etc.). Dann werden Kennzahlen auf regionaler Ebene berechnet: Regionales MAPE, Variationskoeffizient und regionaler RSA-Risikofaktor.
Bemerkenswert ist, dass der Beirat die Nutzung von Moran’s I „als nicht zielführend erachtet“ hat. Dabei spielt nicht nur die „Sensitivität der Kenngröße MI, in Abhängigkeit von den Parametern Radius und Distanzgewicht“, die letztlich von den Forschern festgelegt werden müssten, eine Rolle. „Der entscheidende Grund für den Verzicht auf die Verwendung des MI als Kennzahl zur Bewertung der Auswertungen liegt … im fehlenden Bezug zu den regionalen Risikoselektionsanreizen auf Seiten der Krankenkassen, die für den Wissenschaftlichen Beirat zur Beurteilung eines Regionalmodells maßgeblich sind und die sich insbesondere aus der Höhe der regionalen Deckungsbeiträge ablesen lassen. So würde sich, bei gegebener regionaler und durch das MI gemessener Zufälligkeit der Verteilung der Deckungsbeiträge, eine Verdopplung aller Über‐ und Unterdeckungen nicht auf die Kennzahl auswirken.“ (S. 17). Trotzdem wäre es interessant gewesen, entsprechende Varianten darzustellen; Hinweise auf die Nicht-Zufälligkeit der regionalen Verteilung der Deckungsbeiträge wären heuristisch immer wertvoll.
Die Auswertungen von Kapitel 3 zeigen, „dass die für die Durchführung des Morbi‐RSA herangezogenen Versichertendaten regional z.T. stark variieren. Eine Standardisierung nach Alter und Geschlecht erklärt jeweils einen Teil dieser regionalen Variation …“ (S. 61). Bemerkenswert sind z.B. die folgenden Punkte: „Der Anteil der EM‐Rentner ist … im Nordosten Deutschlands höher als in den südlichen Bundesländern“ (S. 24), was eigentlich ein Nachdenken über die arbeitsmarktpolitische Instrumentalisierung dieses „Merkmals“ auslösen sollte. Auch wenn der Anteil der Kassenwechsler in Thüringen und Sachsen am höchsten ist (S. 26), deutet das auf eine ganz besondere Wettbewerbssituation hin. Und so weiter. – Das Gutachten lässt sich aber nicht auf eine inhaltliche Diskussion dieser Sachverhalte ein.
Interessant ist die Untersuchung der Entwicklung der Diagnosehäufigkeiten im Zeitverlauf in den Kreisen. Berücksichtigt werden die Diagnosen mit einem sprunghaften Anstieg, die auch schon im Sondergutachten diskutiert worden sind: „Dabei ist der Häufigkeitsanstieg der Diagnosenennungen zwischen den Kreisen z.T. extrem unterschiedlich.“ Dem Beirat drängt sich aber auch nach der regionalen Betrachtung keine einheitliche Interpretation auf. Er bleibt bei der resignierenden Feststellung aus dem Sondergutachten, dass zwar „die Anstiege der Diagnosehäufigkeiten Maßnahmen zur Beeinflussung des Kodierverhaltens wahrscheinlich erscheinen lassen (vgl. Drösler et al. 2017, S. 205). Die vorliegenden Ergebnisse auf kleinräumiger Ebene, mit beobachteten regionalen Unterschieden im Jahr 2016 können diese Vermutung jedoch weder ausschließen noch bestätigen.“ (S. 41). Bedauerlich ist an dieser Stelle, dass die Daten nicht einmal ansatzweise kassenartenbezogen oder nach Größenklassen differenziert dargestellt werden. Das hätte weitere Hinweise auf vertragspolitische Einflüsse geben können.
Die regionalen Verteilungswirkungen des RSA beim Status quo werden berechnet mit den „Morbiditätsinformationen der GKV‐Versicherten im Jahr 2015 sowie deren Leistungsausgaben des Jahres 2016. Als Grundlage der Versichertengruppierung und Ausgabenschätzung und als Referenzpunkt für den Vergleich mit Modellanpassungen dient das Klassifikationsmodell des Ausgleichsjahres 2018“ (S. 63). „Als aggregierte Indikatoren zur Beschreibung des durchschnittlichen räumlichen Vorhersagefehlers dienen regionale MAPEs, die jeweils auf vier unterschiedlichen administrativen Gebietsabgrenzungen (Gemeinden, Gemeindeverbände, Kreise und Bundesländer) sowohl in ungewichteter als auch in (über Versichertenzeiten) gewichteter Form ermittelt werden.“ (S. 64). Dabei freut sich der Beirat darüber, dass sowohl die Weiterentwicklung des Klassifikationsmodells, als auch die „Aktualisierung der Verordnungs- und Diagnosedaten … die Zielgenauigkeit des Risikostrukturausgleichs positiv beeinflusst.“ (S. 65).
Weiter stellt der Beirat fest: „Je mehr Variablen im Ausgleichssystem berücksichtigt werden, die zur Erklärung der regionalen Ausgabenvarianz beitragen, desto weiter werden sich die regionalen Zuweisungen den regionalen Ausgaben annähern.“ Der Korrelationskoeffizient von Leistungsausgaben und Zuweisungen beträgt auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte r=0,918, was einen sehr starken Zusammenhang der beiden Größen zeigt. Obwohl der Risikostrukturausgleich in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung die „Regionalität“ als Ausgleichskriterium (noch) nicht explizit berücksichtige, „regionalisiere“ er „aufgrund der direkten Berücksichtigung von regional ungleich verteilten Merkmalen wie Alter, Geschlecht und Morbidität der Versicherten bereits im Status quo in hohem Maße, weil diese Größen die individuelle Nachfrage nach Gesundheitsleistungen stark beeinflussen.“ (S. 70).
Bei der Betrachtung nach „Raumtypen“ zeigt sich – wie immer wieder diskutiert – die „Großstadtproblematik als Unterdeckungen in zentral gelegenen, bevölkerungsreichen bzw. dicht besiedelten Regionen, während ländliche Gebiete tendenziell überdeckt sind.“ Dieser Befund biete einen „Ansatzpunkt für regionsbezogene Selektionsstrategien der Krankenkassen“. Die Deckungsbeitragsunterschiede hätten somit auf regionaler Ebene auch Auswirkungen auf die Wettbewerbssituation der einzelnen, in diesen Regionen tätigen Krankenkassen. (S. 99). Dabei falle auf, „dass die regionale Ausgabenvariation in den einzelnen Leistungsbereichen stärker ausfällt als die Variation der Gesamtausgaben, also der Summe der Einzelbereiche.“ (S. 100). Im Ergebnis kommt der Beirat zu dem „Schluss, dass zur Senkung der regionalen Über‐ bzw. Unterdeckungen weiterer Handlungsbedarf besteht.“ (ebenda).
Die bereits in vierten Kapitel bestätigte Einschätzung, „dass die Ergänzung des Verfahrens um weitere Morbiditätsindikatoren bzw. eine zunehmende Ausdifferenzierung der bisherigen Risikomerkmale zu einem Anstieg der Erklärungskraft der räumlichen Ausgabenunterschiede führt“ (S. 101), prägt das fünfte Kapitel: Der Beirat untersucht exemplarisch drei seiner Vorschläge aus dem Sondergutachten im Hinblick auf ihre regionalen Verteilungswirkungen. Allerdings bewirken die Einführung des Vollmodells, die Umfunktionierung der Erwerbsminderung in einen Schweregrad-Indikator und die Einführung einer Altersinteraktionsterme keinen nennenswerten Rückgang regionaler Über- und Unterdeckungen. Insoweit hält der Beirat an der Einschätzung fest, dass eine gesonderte Regionalkomponente im RSA eingeführt werden muss (S. 123).
Jetzt zur Hauptsache
Die ersten fünf Kapitel sind mehr oder weniger als Vorarbeiten für die beiden Hauptkapitel sechs und sieben zu betrachten. Im sechsten Kapitel sollen die Einflussfaktoren für die Variation der regionalen Deckungsbeiträge identifiziert werden. Im siebten Kapitel geht es um die Bestimmung der geeigneten räumlichen Bezugsgröße für einen Regionalfaktor. Für die multiple Regression wird als Erklärungsfaktoren auf Informationen der RSA‐Datenbasis als auch auf externe Datenquellen zurückgegriffen. Die zu erklärende Variable ist der regionale Deckungsbeitrag. Als „erklärende“ Variablen werden knapp vierzig regionale Merkmale herangezogen, für die die Regionalstatistik Daten hergibt und die bisher bereits als regionale Bestimmungsfaktoren im Zusammenhang mit dem RSA diskutiert worden sind. Sie beziehen sich auf die Morbidität und Mortalität (z.B. Pflegebedarf, Sterberate und -Kosten, Säuglingssterblichkeit), die Demografie (Ausländeranteil, Einpersonenhaushalte etc.), das Leistungsangebot (Arztdichte, Krankenhausbetten etc.) die Sozialstruktur (Deprivation, Altersarmut, Wahlbeteiligung etc.) und die Markt- und Wirtschaftsstruktur (u.a. BIP/1.000 Einwohner, Erwerbsquote, Anteil personenbezogener Dienstleistungen) (S. 129f.). Irritierend ist dabei, dass an erster Stelle die (regionalen) Normkosten je Versichertenjahr als erklärende Variable herangezogen werden. Obwohl doch bereits eine hohe regionale Korrelation von Zuweisungen und Leistungsausgaben festgestellt wurde. Auch die große Bedeutung der Morbiditätsindikatoren erschließt sich nicht, geht es dabei doch um Faktoren, die als RSA-Morbidität bereits in der Zielgröße partiell enthalten sind (und ggf. in einer Weiterentwicklung des RSA zum überwiegenden Teil als Individualmerkmale der Versicherten (z.B. Pflegebedürftigkeit) eingehen könnten). Überhaupt werden die erklärenden Variablen mehr beschrieben, als dass ihre Auswahl begründet würde.
Nicht unbedeutend ist dazu die folgende Einschränkung: „Da die RSA‐Daten die aggregierten Merkmale nicht versichertenbezogen enthalten, war eine theoretisch mögliche, auf Individualdaten durchführbare Überprüfung der Zusammenhänge nicht möglich. Damit haben die kreisbezogenen Ergebnisse nur einen eingeschränkten Erklärungsgehalt für die Zusammenhänge auf der Versichertenebene. Teilweise liegen hier herangezogene kreisbezogene Variablen grundsätzlich auch versichertenbezogen vor (z.B. Pflege, Schulabschluss), stehen aber im Kontext der Analyse des Morbi‐RSA nicht zur Verfügung.“ Ebenso limitierend ist die (zutreffende) Feststellung, dass „die Richtung von Ursache und Wirkung nicht eindeutig geklärt werden kann. Endogenitätsprobleme sorgen dafür, dass die Interpretation der Regressionskoeffizienten als kausale Effekte nur eingeschränkt möglich ist.“ (S. 138).
Zum „Erklärungsgehalt der Bestimmungsfaktoren“ stellt der Beirat fest, „dass ein beachtlicher Teil der regionalen Deckungsbeitragsunterschiede auf räumliche Variationen bezüglich der vom RSA nicht erfassten Morbidität und Mortalität (z.B. Pflegebedürftigkeit, Sterberate, Leistungsausgaben Verstorbener) zurückgeführt werden kann.“ (S. 153). Dabei drängt sich dem Leser jedoch die (unbeantwortete) Frage auf, warum der Übergang zum Vollmodell so gut wie nichts zur weiteren Klärung der regionalen Varianz der Deckungsbeiträge geleistet hat. Und weiter lakonisch: „Kandidaten für die Ursachen der verbliebenen Variation sind bspw. Effizienzunterschiede, nicht gemessene bzw. nicht beobachtbare regionale Unterschiede hinsichtlich der Preise für Gesundheitsleistungen, des Kodierverhaltens und der Behandlungspräferenzen von Leistungserbringern oder des Gesundheits‐ und Inanspruchnahmeverhaltens von Versicherten.“ (S. 154). Auch dazu hätte man gerne etwas mehr gelesen.
Nach dem Ausscheiden einiger Faktoren wegen übermäßiger Kollinearität werden die (zehn) Faktoren für die weiteren Berechnungen anhand der statistischen Signifikanz ausgewählt. Zuvor wird noch die „Marktkonzentration“ aus (nicht wirklich nachvollziehbaren) „normativen“ Gründen ausgeschlossen (S. 158). Im Ergebnis finden sich nach der „statistisch getriebenen Variablenauswahl … fast ausschließlich direkte oder indirekte Indikatoren für die Morbiditäts‐ bzw. Mortalitätsverhältnisse und die Angebotsinfrastruktur innerhalb eines Kreises.“ Dazu stellt der Beirat fest: „Angebotsvariablen wie die Arzt‐ oder Krankenhausbettendichte haben … nur einen vergleichsweise geringen Erklärungsgehalt für die Deckungsbeiträge der Kreise.“ (S. 166). Vorausgegangen ist eine „normative“ Diskussion dazu: „Zunächst ist festzuhalten, dass … eine Zunahme an Fachärzten und Hausärzten zu mehr Behandlungen führt (angebotsinduzierte Nachfrage), diese sich, wenn diese Mehrbehandlungen mit einem Mehr an Diagnosen einhergehen, auch in höheren Zuweisungen im Rahmen des Morbi‐RSA niederschlagen. … Eine Berücksichtigung dieser Variablen im RSA würde in der Tendenz dennoch dazu führen, dass im Vergleich zum Status quo (noch) mehr Zuweisungen in die besser ausgestatteten und entsprechend weniger Zuweisungen in die weniger ausgestatteten Regionen fließen.“ (S. 164). – Damit ergeben sich für den Beirat zwei Varianten des Variablensets: M 1 mit allen zehn Variablen und M 2 ohne die beiden verbliebenen Angebotsvariablen und den Wanderungssaldo (S. 165).
Im siebten Kapitel wird getestet, welchen Erklärungsbeitrag die beiden Variablensets als RSA-Regionalfaktoren für die Nivellierung der verbliebenen Deckungsbeitragsunterschiede leisten. Zu entscheiden ist dabei vor allem über die räumliche Bezugsgröße. Herangezogen werden zunächst zwei „raumtypbezogene“ Varianten, so wie sie im vierten Kapitel bereits vorgestellt wurden. Einerseits geht es um fünf „großstadtregionale Einzugsbereiche“, andererseits um vier „siedlungsstrukturelle Kreis-Typen“, für die die regionalen Risikozuschläge ermittelt werden. Eine Umsetzung „drängt sich allerdings bei der Betrachtung der empirischen Wirkungen nicht auf. Insgesamt fallen die Auswirkungen auf die regionalen Über‐ und Unterdeckungen … sehr gering aus. … Auch hinsichtlich der anderen betrachteten Bewertungsdimensionen – der versichertenindividuellen Zuweisungsgenauigkeit des Modells und der Deckungssituation der einzelnen Krankenkassen – ergeben sich keine zwingenden Argumente für die künftige Umsetzung einer raumtypbezogenen Risikogruppenbildung.“ (S. 183).
Eine weitere Möglichkeit ist die Spezifikation der Regionalkomponente in Form eines sogenannten Kreismodells. „Die Zuweisungs‐ bzw. Ausgabenregion orientiert sich dabei explizit an den administrativen Grenzen der 401 Landkreise und kreisfreien Städte (Stand: 31.12.2016). Das Kreismodell bewirkt, dass Versicherte aus überdeckten Kreisen einen Abschlag und Versicherte aus unterdeckten Kreisen einen Zuschlag erhalten.“ (ebenda). Damit führt es jedoch zu einem nahezu vollständigen Ausgabenausgleich auf Ebene der Kreise. Weil damit die Anreize der Kassen verloren gingen, im Wettbewerb wirtschaftlich zu handeln, wird dieses Modell vom Beirat abgelehnt. Eine Variante dieses Modells, die mit regionaler Gewichtung (Geographically Weighted Regression – GWR) die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch die Versicherten auch jenseits der Kreisgrenzen einbezieht, kommt zwar zu deutlich besseren Ergebnissen. Allerdings führt sie wegen der zu bestimmenden „Distanzgewichte“ für die Einbeziehung der anderen Kreise zu einem „Zielkonflikt zwischen Anreizen zur Vermeidung von Risikoselektion und Vermeidung von Anreizen zur Unwirtschaftlichkeit.“ (S. 202).
Die dritte Möglichkeit sind „regionalstatistische Modelle“, bei denen sich die regionalen Risikogruppen nicht notwendigerweise aus angrenzenden Verwaltungsgebieten zusammensetzen. „Regionalstatistische Modelle sind Bestandteile der nationalen RSA‐Verfahren in den Niederlanden und Belgien. Der Regionalausgleich im niederländischen RSA unterteilt die Versicherten in zehn regionale Cluster.“ (S. 203) Der Beirat bildet die (ebenfalls zehn) Cluster der Regionen für Deutschland mit Hilfe der Variablensets M 1 und M 2. Dem belgischen Modell entspricht eher die zweite Variante, nach der die Faktoren der Variablensets direkt als regionalstatistische Informationen einfließen („Direktmodell“). „Im Hinblick auf den gewichteten Vorhersagefehler scheint die direkte Berücksichtigung der regionalen Einflussvariablen als Risikofaktoren etwas besser als die regionalstatistische Clusterung abzuschneiden.“ (S. 215). Außerdem ist „das Direktmodell bei Verwendung des reduzierten Variablensets M2 ausnahmslos zielgenauer als das Clustermodell auf Basis des größeren Variablensets M1.“ (S. 218).
Im Ergebnis empfiehlt der Beirat, den RSA um eine Regionalkomponente zu ergänzen. „Er regt an, die genannten Variablen in Form eines Direktmodelles im RSA auszugleichen, da dieses eine etwas höhere regionale Wirkung als ein Clustermodell aufweist.“ (S. 227) Trotzdem bleibe „ein erheblicher gewichteter Vorhersagefehler auf Kreisebene weiterhin bestehen …, bspw. bei der direkten Berücksichtigung des Variablensets M1 rd. 45,8 % des bislang nach dem Morbi‐RSA im Status quo verbleibenden gewichteten Vorhersagefehlers.“ Daher stelle sich „im Lichte möglicher Risikoselektionsanreize und Wettbewerbsverzerrungen die Frage, ob sich aus diesen Deckungsbeitragsunterschieden ein zusätzlicher Handlungsbedarf ergibt bzw. wie den verbleibenden Unterschieden prinzipiell begegnet werden könnte.“ (ebenda).
Im achten Kapitel wird dieser Frage nachgegangen. Und siehe da, der Beirat hält die verbleibende regionale Deckungsbeitragsvariation für zu hoch. – Zur Lösung des Problems kommt entweder ein (partieller) Ist-Ausgleich der verbleibenden Unter- und Überdeckungen in Frage oder eine regionale Differenzierung der Zusatzbeitragssätze. Für eine „sachgerechte Entscheidung“ über diese Alternative seien nicht nur „Kenntnisse über die Determinanten der verbleibenden regionalen Deckungsunterschiede hilfreich, sondern insbesondere auch darüber, ob und inwiefern diese durch die Krankenkassen gesteuert werden können.“ (S. 229). Erwähnt werden z.B. regional differierende Preisniveaus, Patientenpräferenzen und Behandlungsstile sowie weitere regionale Effizienzunterschiede in der Versorgung. Angesichts der vielfältigen Variationen dieser Einflussgrößen dürfte es dafür keinen erklärenden „Generalfaktor“ geben. Eine ergänzende Ausgleichsstufe im RSA sei daher umso eher erforderlich, je größer der Anteil der von den Kassen nicht beeinflussbaren Faktoren bei der Erklärung der verbleibenden Deckungsbeitragsvariation sei. (S. 231). Zu diesen Fragen seien weitere Forschungsarbeiten notwendig.
Um die unerwünschten Effekte eines de-facto Ausgabenausgleichs (wie schon beim „Kreismodell“) zu vermeiden, schlägt der Beirat schließlich vor, „Deckungsbeitrags‐Cluster“ auf Basis der Gemeindeverbände zu bilden. Damit würden weitere zehn Dummy-Variablen gebildet, die zu einer deutlichen Verringerung des Vorhersagefehlers auf regionaler Ebene führen, ohne den Kassen Handlungsanreize für eine wirtschaftliche Steuerung in den Regionen zu nehmen. Zur Variante der differenzierten Zusatzbeiträge konnte der Beirat nur die entsprechenden Probleme benennen: Risikoselektionsanreize gegenüber Versicherten aus Gebieten mit negativem Deckungsbeitrag, Bestimmung der Beitragssatzregionen, obligatorische oder optionale Erhebung von regionalen Zusatzbeitragssätzen etc. Im Ergebnis ist die „Empfehlung“ des Beirats sehr vorsichtig: Auf „mittlere Sicht“ soll es „ergänzende Regelungen in der regionalen GKV‐Finanzarchitektur“ geben, „die eine weitere Reduktion der aus den verbleibenden Über- und Unterdeckungen resultierenden Risikoselektionsanreize und Wettbewerbsverzerrungen bewirken.“ (S. 247)
Einschätzung und Kritik
Insgesamt ist das Gutachten klar gegliedert und lässt sich überraschend gut lesen. Es zieht einem in seine Logik, die der Beirat bereits in seinem Evaluationsgutachten verfolgt hat, förmlich hinein. Die wichtigsten Schritte werden statistisch begründet und erscheinen damit nachvollziehbar. Andererseits kommen doch immer wieder Auswahlentscheidungen vor, die „nach ausführlicher Diskussion im Beirat“ getroffen wurden. (Man wäre gern dabei gewesen.) Deren Begründung aber im Text nicht überzeugend dargelegt wird. Beispielsweise: Warum werden gerade diese „erklärenden“ Variablen ausgewählt? Warum werden sie so gruppiert? (Eine andere Sortierung hätte die endgültige Auswahl beeinflusst.) Warum bleiben davon am Schluss nur 10 in der Auswahl? Warum gerade nur 10 Cluster? Etc. Auch an anderen Punkten fragt man sich, ob nicht andere Entscheidungen möglich gewesen wären: So ist etwa die Auswahl der Gebietsbezüge restriktiv, und es wurde z.B. nicht versucht, das (theoretisch prädestinierte) GWR-Modell durch eine Variation der Parameter zu optimieren. Bedauerlich ist schließlich, dass es keinerlei Analysen gibt, die nach Kassenarten oder Kassengrößen differenzieren. Zu manchen beiläufig erwähnten Aspekten hätte man sich ausführlichere Überlegungen gewünscht.
Im Laufe der Lektüre kumuliert auf diese Weise eine gewisse Bedenklichkeit, obwohl sich kein Ansatzpunkt für harte und grundsätzliche Kritik ergibt. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, dass noch ein (externer) „Generalfaktor“ gefunden wird, der die regionalen Deckungsunterschiede überwiegend erklären könnte. Trotzdem bleibt der Verdacht des Zirkelschlusses: Die regionalen Deckungsunterschiede im Morbi-RSA haben wohl viel mit Unterschieden in der regionalen Morbidität zu tun. Das ist die verblüffende Botschaft, die (verkürzt) beim Leser hängen bleibt. Das macht doch stutzig und erzeugt auch Skepsis gegenüber dem Lösungsvorschlag, der im Übrigen die Politik mit seiner Komplexität wohl überfordert. – Man darf gespannt sein, was das BMG und die Koalitionäre daraus machen werden.
Zum Thema insgesamt, also der Weiterentwicklung des RSA, stellt sich dabei mehr und mehr ein mulmiges Gefühl ein: Wenn es um den fairen Wettbewerb der Kassen geht, erleben wir z.Z. ein groteskes Missverhältnis: Gearbeitet wird an der Perfektionierung der Ausgleichsmechanismen; der Beirat bewegt sich in der eingespielten Logik und im Raster seiner statistischen Maßzahlen. Über Sinn und Zweck des angestrebten Wettbewerbs, seine Instrumente und Rahmenbedingungen wird dagegen kaum noch nachgedacht. – Wenn die Politik jedoch nicht endlich klar definiert, dass und warum sie den Wettbewerb der Kassen will und wie er ausgetragen werden soll, gibt es nur zwei Alternativen: Man kann den Monopolisierungstendenzen weiter freien Lauf lassen (mit und ohne Umsetzung der Gutachter-Vorschläge). Man könnte aber auch gleich zu Landes-Einheitskassen übergehen (mit oder ohne einen Bundes-Finanzkraftausgleich). Wenn man aber andererseits dem Wettbewerb wieder einen Sinn geben will, müsste die Politik die Rahmenbedingungen grundlegend ändern und vor allem ihre Fixierung auf die Einheitlichkeit der „Regelversorgung“ aufgeben. Das würde auch der Diskussion um den RSA eine neue Richtung geben.
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