Organspende – „Widerspruchslösung“ läuft ins Leere

Dr. Robert Paquet

Die Politik kämpft um mehr Spenderorgane und verspricht sich davon eine starke Hebelwirkung. Der Gesetzentwurf zur sog. „Widerspruchslösung“ will außerdem die bremsende Angehörigenentscheidung gegen eine Organentnahme zurückdrängen. Eine genauere Betrachtung des Spenderpotenzials zeigt jedoch, dass die Zahl der Organspender maximal um die Hälfte gesteigert werden kann. Die Möglichkeiten dazu liegen fast ausschließlich in der Betriebsorganisation der Kliniken mit Neurochirurgie. Das jüngst verabschiedete Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes setzt hier an der richtigen Stelle an. Die „Widerspruchslösung“ wird dagegen trotz ihres massiven Grundrechtseingriffs ihr Ziel verfehlen. Die Angehörigenentscheidung wird zwangsläufig die Regel bleiben. Gesetzliche Instrumente tragen sicher zur Bewusstseinsbildung bei: Ob ihre Mechanismen aber in die erwünschte Richtung wirken oder das Gegenteil provozieren, ist keineswegs ausgemacht.

 

Vorgeschichte der Debatte und Grundrechtsfragen

Am 28. November 2018 hatten 38 Abgeordnete aller Fraktionen des Deutschen Bundestages jeweils vier Minuten Redezeit, um mitzuteilen, wie die Bürger besser dazu bewegt werden können, sich nach dem Tod als Organspender zur Verfügung zu stellen. Die Debatte verlief zwar emotional, förderte aber inhaltlich keine neuen Positionen oder Argumente zu Tage. Diese sog. „Orientierungsdebatte“ konnte dem Thema nicht gerecht werden. Möglichst viele Abgeordnete in Mini-Statements zu moralisierenden Bekenntnissen aufzufordern, führt nicht zu einer „Sternstunde des Parlaments“, sondern zu unterkomplexen Elevator-Pitches. Dabei sollen die Bemühungen der Redner um ethische Orientierung (natürlich auch vor und jenseits ihrer Parlamentsrede) nicht geringgeschätzt werden. Zur Bewertung der Erfolgsaussichten der entsprechenden Gesetzgebung sind sie jedoch nicht ausreichend und auch nicht geeignet.

Im Rahmen des am 1. April von einer Abgeordnetengruppe (um Jens Spahn und Karl Lauterbach) vorgestellten „Gesetzentwurfs Organspende – doppelte Widerspruchslösung“ sollen alle Bürger zur Organspende verpflichtet werden. Das stellt einen sehr weitreichenden Grundrechtseingriff dar. Eine solche Regelung muss im Verhältnis zu ihrer Zielsetzung bewertet werden. Ziel ist, die Zahl der Organspender bzw. der gespendeten Organe zu steigern. Die nicht zuletzt verfassungsrechtliche Frage ist, ob dieses Ziel mit der vorgesehenen Gesetzgebung überhaupt erreicht werden kann. Beziehungsweise ob dazu nicht auch „mildere Mittel“, d.h. die Grundrechte weniger beeinträchtigende Verfahren zur Verfügung stehen. Dazu sollen einerseits die einschlägigen Zahlen, vor allem der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), andererseits die Umfrageergebnisse der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) betrachtet werden.

Dabei möchte der Verfasser ausdrücklich betonen, dass jedenfalls ein Aspekt an der Initiative positiv erscheint: Der Staat verlangt etwas von seinen Bürgern und bringt damit zum Ausdruck, dass jeder Bürger nicht nur Rechte, sondern auch Verpflichtungen für die Gemeinschaft hat. Trotzdem kann eine solche Verpflichtung auch durch die von einer anderen fraktionsübergreifenden Abgeordnetengruppe bevorzugte „verbindliche Entscheidungslösung“ erreicht werden. Hier beschränkt sich der Zwang gegenüber dem Bürger darauf, seine Entscheidung in der Sache zu Protokoll zu geben. Der damit verbundene Grundrechteingriff erscheint jedenfalls aus heutiger Sicht geringer und bewahrt mehr Freiheit als die pauschale Unterstellung der Einwilligung in die Organspende. Wie dieser noch nicht vorliegende Gesetzentwurf allerdings mit dem Problem des erheblichen Bürokratieaufwandes (auch wegen des „Änderungsdienstes“), der Notwendigkeit eines Gesamtregisters aller Bürger zur Organspende und auch mit der Frage z.B. von Sanktionen bei einer Verweigerung der Entscheidungsfrage umgeht, bleibt abzuwarten. Aber auch für diesen Gesetzentwurf, der in den nächsten Wochen erwartet wird, sind die folgenden Überlegungen relevant.

 

Das Potenzial der Organspende und seine Grenzen

In der Debatte wird im Allgemeinen kaum angesprochen, um welche Zahlen es geht. Die Größenordnungen sind aber wichtig für das Verständnis der Zusammenhänge.

Die Krankenhäuser sind nach dem Transplantationsgesetz verpflichtet, die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) über eine mögliche Organspende zu informieren. „Bereits bei klinischen Hinweisen auf einen endgültigen, nicht behebbaren Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms kann die DSO unterstützen und dabei helfen, die Bedingungen für eine Organspende zu klären. Bei Bedarf vermittelt die DSO Fachärzte, die die Todesdiagnostik nach den Richtlinien der Bundesärztekammer durchführen.“ (S. 41) So kam es 2018 zu 2.811 sog. „organspendebezogenen Kontakten“. Das war im Vergleich zu den Vorjahren eine Erhöhung um rund ein Fünftel. Die Verfahrensschritte sind streng geregelt. Nach der „allgemeinen Beratung“ in diesen Kontakten stellte sich bei rund der Hälfte der Fälle (1.395) ein Ausschlussgrund heraus. Bei wiederum fast der Hälfte dieser Fälle (638) war das eine medizinische Kontraindikation. Bei 202 Fällen kam es nicht zu einer Feststellung des endgültigen Ausfalls der Hirnfunktionen. Nur bei etwas mehr als einem Drittel der Fälle (498) war der Ausschlussgrund die fehlende Zustimmung im Vorfeld der Organspende. Die DSO selbst hebt hervor: „Die Anzahl der medizinischen Kontraindikationen überwiegt in allen DSO-Regionen gegenüber der Anzahl der fehlenden Zustimmung im Vorfeld der Organspende.“ (S. 55).

Von den verbleibenden „möglichen Organspendern“[1] (1.416) wurden im Berichtsjahr 67 Prozent tatsächlich Organspender (2017 und 2016: 68 Prozent). Das entspricht 955 Organspendern. Bei sieben Prozent der „möglichen Organspender“ haben weitere „medizinische Komplikationen“ die tatsächliche Organspende verhindert. Bei 24 Prozent (340 Fälle) hat eine fehlende Zustimmung der Angehörigen nach abgeschlossener Todesfeststellung die Organspende blockiert. Seit einigen Jahren – so teilt die DSO mit – sei dies der „Hauptgrund für nicht realisierte Organspenden“ (S. 56). Allerdings werden „Fälle, bei denen die Angehörigen von sich aus einer Organspende vor der Todesfeststellung ausgeschlossen haben, …von der DSO nicht erfasst“ (ebenda).

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Zusammensetzung der Zustimmungen: Eine positive schriftliche Willenserklärung liegt bei rund 18 Prozent vor, eine „mündliche“ Willenserklärung bei 25 Prozent. Bei 45,5 Prozent wird der „vermutete Wille“ durch die Angehörigen dargelegt. „Nach wie vor hat nur eine Minderheit der Bevölkerung ihren Willen zur Organspende schriftlich festgehalten. Liegt der schriftliche Wille des Verstorbenen nicht vor und ist er den Angehörigen nicht bekannt, so müssen diese im Ermessen des Verstorbenen entscheiden. … Auf Basis der in Deutschland geltenden Entscheidungslösung ist ein erklärtes Einverständnis eine unabdingbare Voraussetzung zur Organentnahme.“ (S. 58). In 11,6 Prozent der Fälle haben Angehörige in eigenem Ermessen für die Organspende gestimmt.

Bei den 340 Fällen der Nicht-Zustimmung war dafür nur in 4,1 Prozent der schriftlich bekundete Wille des Hirntoten maßgeblich, in 32 Prozent der Fälle der mündliche Wille. In 31 Prozent der Fälle vermuteten die Angehörigen den ablehnenden Willen und in 32,6 Prozent der Fälle haben sie in eigenem Ermessen gegen die Organentnahme votiert.

 

Zwischenergebnis

Nach einer sehr hypothetischen Überlegung – ceteris paribus – hätte die Widerspruchslösung somit im Jahr 2018 maximal 498 „organspendenbezogenen Kontakte“ in den engeren Kreis der „möglichen Organspender“ befördert. Auch von diesen wäre wiederum ein Teil wegen weiterer medizinischer Komplikationen und anderer Gründe nicht wirklich zum Organspender geworden. Auch von den 340 „möglichen Organspendern“, bei denen keine Zustimmung zur Organspende vorlag, wurde bei mehr als einem Drittel die Ablehnung der Organspende vom potentiellen Spender selbst ausgesprochen. Bei knapp zwei Dritteln haben Angehörige die Ablehnung „vermutet“ oder mangels näherer Informationen durch den Verstorbenen selbst ausgesprochen. Die Wahrscheinlichkeit aus dem Kreis dieser 340 Hirntoten doch tatsächliche Organspender zu gewinnen entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit der man den Angehörigen unterstellt, den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen falsch interpretiert zu haben. Diese Wahrscheinlichkeit ist eher gering einzuschätzen. Im Ergebnis dieser Überlegung hätte die Widerspruchslösung im Jahr 2018 maximal zu einer Erhöhung der Zahl der tatsächlichen Organspender um die Hälfte geführt.

Dabei bleibt unberücksichtigt, welche Effekte die Widerspruchslösung im Entscheidungsverhalten der Bürger auslösen würde. Hier sind durchaus ruckartige Veränderungen denkbar, etwa in Abhängigkeit von der Nachrichtenlage über Medizinskandale oder über Organspenden von bzw. für Prominente.

Angesichts der Tiefe des Grundrechtseingriffs, der mit der Widerspruchslösung verbunden ist, zeichnet sich somit eher ein bescheidener „Erfolg“ ab. Auch die Gesetzgebungsalternative einer Verpflichtung aller Bürger, sich zu Organspende verbindlich zu erklären, bringt keinen schnellen Anstieg der tatsächlichen Organspender. Der Grundrechtseingriff ist jedoch deutlich milder.

Für beide Varianten gilt – gegenüber dem Status quo – ein Vorteil: Die Unsicherheit der Angehörigen – wenn keine explizite Stellungnahme des potentiellen Organspenders vorliegt – über eine Zustimmung zu entscheiden, wird verringert. Dieser positive Effekt wird sich jedoch erst nach und nach einstellen, denn bis bei der Widerspruchslösung alle Skeptiker ihren Widerspruch zu Protokoll gegeben haben bzw. bei der Alternative explizit ja oder nein gesagt haben, wird einige Zeit vergehen. In dieser Übergangszeit werden die geschilderten Probleme des gestuften Verfahrens beim Status quo ohnehin fortbestehen. Schließlich ist keineswegs sicher, dass die eine oder andere „Lösung“ die Nicht-Zustimmungen bzw. Verweigerungen einer Organspende insgesamt senken werden (siehe oben).

 

Differenzierte Stellungnahme

Ein zusätzliches Problem wird in der öffentlichen Debatte bisher kaum thematisiert: Die „Erklärung zur Organ- und Gewebespende“ (im normalen Sprachgebrauch „Organspendeausweis“) ermöglicht bzw. fordert eine differenzierte Stellungnahme. Neben der generellen Zustimmung zur Entnahme transplantierbarer Organe und Gewebe (oder generellen Ablehnung) können entweder einzelne Organe ausgeschlossen oder die Zustimmung kann auf einzelne Organe bzw. Gewebe eingeschränkt werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, die betreffenden Entscheidungen an eine Vertrauensperson zu delegieren. Der Gesetzentwurf zur Widerspruchslösung will diese Differenzierungen als Möglichkeit für das Widerspruchs-Register beibehalten. Das gilt vermutlich auch für den alternativen Gesetzentwurf zur „verbindlichen Entscheidungslösung“. Es wird also – wie heute – keine einfache ja/nein-Entscheidung geben, und die Aufmerksamkeit für diese Differenzierung wird in dem Maße zunehmen, wie von den Bürgern eine verbindliche Entscheidung in der Sache abgefordert wird. Welches Patchwork der Willensbekundungen hieraus entsteht, ist nicht absehbar. Aus der heutigen Nutzung des Organspendeausweises können darauf kaum Schlüsse gezogen werden, weil die BZgA in ihren Umfragen zur Organspende-Bereitschaft dieser Frage nicht detailliert nachgeht (also nicht danach fragt, wie die Ausweise tatsächlich ausgefüllt werden).

 

Übrigens: An den Angehörigen führt kein Weg vorbei

Anhand der Statistik wurde bereits gezeigt, dass die Widerspruchslösung – gegenüber dem Status quo – nur sehr begrenzte Erfolgsmöglichkeiten eröffnet. Aber auch ihre Absicht, die „Bremswirkungen“ der Angehörigenentscheidungen bei der Organentnahme zu vermindern, dürfte sich als Illusion erweisen. Es könnte also sein, dass die Widerspruchslösung (fast) vollständig ins Leere läuft.

Im DSO-Jahresbericht 2018 heißt es (S. 58): „Annähernd die Hälfte aller Entscheidungen für oder gegen eine Organspende basieren auf dem vermuteten Willen des Spenders.“ Liegt der schriftliche Wille des Verstorbenen nicht vor und ist er den Angehörigen nicht bekannt, so müssen diese im Ermessen des Verstorbenen entscheiden. Die Angehörigenentscheidungen spielen also bei der Ablehnung einer Organentnahme beim Status quo eine zentrale Rolle.

Aber auch die Widerspruchslösung kommt ohne die Angehörigen nicht aus: Sie sollen nach der Intention des Gesetzentwurfs zwar (eigentlich) nur gefragt werden, wenn der potentielle Spender keine Erklärung (d.h. vor allem keinen Widerspruch, oder ggf. eine spezifizierte Einwilligung) abgegeben hat[2]. Ihre Berechtigung soll sich auch nur darauf erstrecken, zu erklären, ob ihnen (zwischenzeitlich) ein Widerspruch bzw. eine Willenserklärung gegen die Organentnahme bekannt geworden ist. Ein eigenes Recht, über eine Organentnahme zu entscheiden, sollen sie jedoch nicht haben.

Da bei der Widerspruchslösung auf absehbare Zeit (und bei der Alternative zumindest für einen langen Übergangszeitraum) viele Bürger der Organspende nicht explizit widersprochen haben werden, müssen die Angehörigen auf jeden Fall gefragt werden, ob sie inzwischen von einer Ablehnung der Organentnahme durch den Verstorbenen erfahren haben. Das dürfte auf absehbare Zeit die Mehrheit der Fälle betreffen. Aber auch wenn der potentielle Spender eine explizite Einwilligung erteilt hat, sind die Angehörigen gefragt. Er könnte sich ja noch einmal anders entschieden haben (ohne z.B. die Veränderung des Registers veranlasst zu haben), und daher müsste man die Angehörigen auch in diesen Fällen noch einmal fragen.

Wieweit es in dieser Ausnahmesituation für die Angehörigen möglich ist, eine Differenzierung zwischen den (ggf. unklaren) Wünschen des Verstorbenen und dem eigenen Wunsch z.B. nach der Unversehrtheit seines Leichnams vorzunehmen, ist eine völlig offene Frage. Dabei ist eine Überprüfung der Aussage der Angehörigen (auch wegen des Zeitdrucks im Transplantationsbetrieb) kaum möglich und wäre auch der sozialen Situation insgesamt nicht angemessen bzw. den Angehörigen nicht zumutbar[3]. Man müsste ihnen also im Allgemeinen glauben. Die Letztentscheidung der Angehörigen bliebe daher zwangsläufig die Regel. Das Ergebnis könnte also sein, dass sich die Quote der von den Angehörigen (im Sinne des Gesetzes zu recht oder auch entgegen seiner Intention) ausgesprochenen Ablehnung einer Organentnahme gegenüber dem Status quo überhaupt nicht ändert. Welcher Arzt würde gegen das Votum der Angehörigen Organe entnehmen?[4]

 

Was kann man tun?

Nach der letzten Umfrage der BZgA[5] zur Organspendebereitschaft (November 2017 bis Februar 2018) hatten 36 Prozent der Bevölkerung einen Organspendeausweis (2012 waren es nur 22 Prozent). Generell steht die Bevölkerung der Organspende mit 84 Prozent positiv gegenüber (allerdings ohne Abfrage der eigenen Betroffenheit). 56 Prozent bekunden, eine persönliche Entscheidung getroffen zu haben. Davon „stimmen die meisten (72 Prozent) einer Organ- und Gewebespende nach dem Tod zu, 14 Prozent widersprechen ihr, 9 Prozent übertragen die Entscheidung auf eine andere Person und 5 Prozent machen eine andere Angabe“, erklärt die BZgA in ihrer Pressemitteilung vom 28. Mai 2018. Knapp zwei Drittel dieser Personen haben ihre Entscheidung im Organspendeausweis dokumentiert. (Bemerkenswert ist allerdings, dass die Entscheidung für die Organspende konditionierter wird, je näher persönlich gefragt wird.) Insgesamt muss man danach feststellen, dass der Mangel an Spenderorganen[6] in Deutschland nicht auf eine negative Einstellung in der Bevölkerung zurückzuführen ist.

Ein Ansatzpunkt sind die Krankenhäuser. Die DSO teilt sie in drei Kategorien ein: A (Universitätsklinik), B (Krankenhaus mit Neurochirurgie) und C (Krankenhaus ohne Neurochirurgie). 2018 gab es in Deutschland 35 Krankenhäuser der Kategorie A, 123 der Kategorie B und 1.090 der Kategorie C[7]. Dabei zeigt die Statistik der „organspendebezogenen Kontakte“, dass die Universitätskliniken und die Häuser mit Neurochirurgie zwei Drittel der Kontakte ausmachen. Die Krankenhäuser der Kategorie C melden im Durchschnitt weniger als einen Fall pro Haus[8]. Insgesamt wandten sich von den Krankenhäusern, die bundesweit die medizinischen Voraussetzungen für Organspenden erfüllen, im vergangenen Jahr nur 549 Häuser mit der Meldung einer möglichen Organspende an die DSO, bei lediglich 292 Kliniken kam es überhaupt zu mindestens einer Organentnahme[9]. Damit kamen nur aus weniger als 150 Krankenhäusern der Kategorie C (also mit Intensivstation, aber ohne Neurochirurgie) Organspenden.

Auffällig sind die großen Unterschiede in den Meldequoten der sechs DSO-Regionen bzw. Bundesländer. Eine bessere Ordnung der Krankenhauslandschaft in Deutschland könnte ggf. die Krankenhäuser der Kategorie C befähigen, z.Z. nicht entdeckte potentielle Organspender zu erfassen. Hier sind sicher die Transplantationsbeauftragten von Bedeutung, deren Rolle mit dem jüngst verabschiedeten Gesetz gestärkt worden ist. Allerdings dürfte ihre Rolle in den Krankenhäusern der Kategorie C – mangels Masse – eher frustrierend sein, obwohl das Gesetz verspricht, ggf. auch die Intensivstationen kleiner Krankenhäuser mit mobilen Transplantationsteams zu unterstützen. Hier dürften sich die Zuwächse an neuen Organspendern in engen Grenzen halten.

Positiv an diesen Zahlen ist allerdings, dass die in Frage kommenden Patienten offenbar in die richtigen Krankenhäuser eingeliefert werden. Denn als Organspender – nach dem Hirntod-Konzept – kommen nur Menschen mit schweren Kopfverletzungen oder Schlaganfällen in Frage, bei denen die übrigen Organe noch intakt sind. Bei den spezialisierten Kliniken der Kategorien A und B sieht denn auch Dr. Axel Rahmel, medizinischer Vorstand der DSO, noch Potenziale, um mehr Organspender ausfindig zu machen[10]. Darauf deutet auch eine Studie hin, die der Frage nachgeht, wie viele potentielle Organspender es wirklich gibt[11].

Mithilfe eines Programms der DSO wurde in teilnehmenden Krankenhäusern der DSO-Region Ost (Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen) für das Jahr 2016 analysiert, warum bei Verstorbenen mit einer primären oder sekundären eingeleitet wurde. „In 128 der 144 Entnahmekrankenhäuser der Region Ost wurden 7889 Verstorbene mit einer primären oder sekundären Hirnschädigung detektiert. Bei 7389 Patienten kam aus verschiedenen Gründen eine IHA-D nicht in Betracht.“ Bei den verbleibenden 500 Fällen wurde in 232 Fällen „eine IHA-D aufgrund der Patientenverfügung nicht erwogen. In 195 Fällen wurde die Therapie aufgrund einer infausten Prognose limitiert, ohne die Option einer Organspende zu besprechen; in 73 Fällen wäre die Einleitung der IHA-D indiziert gewesen wäre, erfolgte aber nicht.“[12] Becker in der FAZ rechnet weiter: „In der Summe stehen den 121 umgesetzten Organspenden in den untersuchten ostdeutschen Kliniken also 79 Spenden gegenüber, die möglich gewesen wären, aber nicht verwirklicht wurden – das ergibt eine geschätzt Steigerung um 65 Prozent[13]. Auch hier zeigt sich, dass das Verbesserungspotenzial limitiert ist und mehr von den Betriebsabläufen der Kliniken abhängt als von gesetzlichen Druckmechanismen.

 

Ergebnis

Im Ergebnis zeigt sich, dass alle gesetzlichen Maßnahmen, die i.S. Organspendebereitschaft Druck auf die Bevölkerung ausüben sollen, an der eigentlichen Problematik vorbei gehen. Das kürzlich verabschiedete Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes geht dagegen die richtigen Punkte an: mehr Aufmerksamkeit in den Kliniken, bessere Finanzierung der Transplantations-Infrastruktur, Stärkung der Transplantationsbeauftragten etc. Die beiden Gesetzes-Initiativen können allerdings dazu beitragen, dass mehr Menschen ihre persönliche Haltung zur Organspende explizit machen. Das erleichtert jedenfalls den Angehörigen ihre Stellungnahme, die auch in Zukunft in jedem Falle erforderlich bleibt. Dass im Ergebnis die bekundete Organspendebereitschaft steigt bzw. die Widersprüche zurückgehen, ist dabei jedoch keineswegs ausgemacht. Druck, auch wenn er „volkspädagogisch“ gut gemeint sein mag, erzeugt bekanntlich Gegendruck. Daher sollten sich die Protagonisten der Widerspruchslösung nicht wundern, wenn sie ggf. schon jetzt zu einer Steigerung der Organspende-Verweigerung beigetragen hätten.

Das eigentliche Problem in Deutschland ist, dass wir zu wenig Patienten haben, die als potentielle Organspender in Frage kommen[14]. Hier wird kein Mensch eine größere Anzahl Hirntod-Fälle wünschen. Aber auch eine bessere „Nutzung“ der vorhandenen Potenziale wird nur zu einer Anderthalbfachung der tatsächlichen Organspenden führen. Das ist eine Größenordnung, um die sich zu kämpfen lohnt. Aber mit den richtigen Mitteln und ohne damit weitergehende Illusionen zu verbinden.

 

[1]Als mögliche Organspender werden Verstorbene bezeichnet, bei denen der Tod nach den Richtlinien der Bundesärztekammer festgestellt worden ist und keine medizinischen Ausschlussgründe zur Organspende aufgrund der Organfunktion oder der Gefährdung des Empfängers durch übertragbare Krankheiten vorliegen.“ (DSO-Jahresbericht 2018, S. 56)

[2] Das Gesetz bezeichnet sich selbst als Vorschlag zu einer „doppelten Widerspruchslösung“. Diese Bezeichnung legt die Vermutung nahe, die Angehörigen könnten auch einer expliziten Einwilligung des potentiellen Spenders widersprechen. Nach dem Gesetzentwurf ist gerade das jedoch verboten. Deshalb ist nach dem Selbstverständnis des Gesetzentwurfs die Bezeichnung „doppelt“ grob irreführend (worauf u.a. der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Peter Dabrock in der Frankfurter Allgemeinen Woche Nr. 15 vom 4.4.2019 (S. 21) hingewiesen hat. Er hat es „Verschleierung“ genannt). – Unabhängig davon dürfte dieses Verbot im wirklichen Leben keine Wirkung entfalten.

[3] Die Patienten sind typischerweise Unfallopfer oder haben einen Schlaganfall erlitten. Für die Angehörigen kommt die Situation daher unvorbereitet.

[4] Ganz egal, welche Verfügungen der Verstorbene pro Organentnahme getroffen haben mag, die Angehörigen leben und könnten dem Arzt und seinem Krankenhaus bei einem Verstoß gegen ihre Aussage unendlichen Ärger machen. Aus diesem schlichten Grund ist auch erklärlich, dass in Spanien zwar die Widerspruchslösung auf dem Papier steht, aber tatsächlich die „Entscheidungslösung“ wie in Deutschland praktiziert wird.

[5] https://www.bzga.de/presse/daten-und-fakten/organ-und-gewebespende/ Abruf 25.4.2019, 12.12 Uhr

[6] Deutschland ist im Eurotransplant-Verbund seit Jahren „Importland“ (DSO Jahresbericht 2018, S. 73).

[7] DSO Jahresbericht 2018, S. 41

[8] DSO Jahresbericht 2018, S. 50

[9] Kim Björn Becker: „Auf Herz und Nieren“, FAZ vom 14.2.2018, S. 4

[10] Ebenda.

[11] M. Brauer et al.: „Wie viele potenzielle Organspender gibt es wirklich?“, in Der Anaesthesist, November 2018. https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs00101-018-0510-x (Zugriff am 25.4.2019, 13.30 Uhr)

[12] Auffallend ist allerdings auch hier die hohe Quote der Ablehnungen von Organspenden.

[13] Kim Björn Becker, a.a.O.

[14] Gemessen an der Zahl der rund 9.400 Menschen, die auf der Warteliste stehen.


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