RSA-Reform: „Der Sommer der Entscheidung“ für eine gute und faire Gesundheitsversorgung

Experten geben beim RSA-Fachkongress 2019 Impulse für die Reform des Risikostrukturausgleiches der Krankenkassen

Benjamin Berndt

Martin Blaschka

Wie die Gesundheitsversorgung gerecht, effizient und zum Wohl der Patienten gestaltet werden kann, wird von Politik, Ärzten und Krankenkassen anhaltend diskutiert. Zentral ist dabei die faire Verteilung der Beiträge aus dem Gesundheitsfonds über den Risikostrukturausgleich (RSA). Im Referentenentwurf des „Gesetzes für eine faire Kassenwahl“ (GKV-FKG) sind umfassende Reformen des RSA geplant. Vollmodell, Regionalkomponente, Risikopool und Manipulationsbegrenzung sind dabei zentrale Stichworte. Für rund 100 Experten aus Wissenschaft, Politik und Praxis ist dies also „der Sommer der Entscheidung“. So lautete der Titel des zweitägigen RSA-Fachkongresses 2019, den das WIG2 Institut Ende Juni in Leipzig organisiert hatte.

Welche Reformen sehen die Experten als grundlegend und was sind für sie die wichtigen Implikationen für Politik und Praxis? Ihre Empfehlungen richten sich auf den Zugang zu statistischen Daten und deren Auswertung, Maßnahmen gegen Manipulationen und die stetige Evaluation des RSA-Systems. Die bestmögliche Versorgungsqualität muss sich als übergeordnetes Ziel im Patientenwohl widerspiegeln, so sind sich die Experten einig.

 

Daten sind der Schlüssel zu einem fairen Krankenkassensystem

Um den RSA wissenschaftlich fundiert weiter zu entwickeln, müssen konsistente Datengrundlagen geschaffen werden, die für alle Beteiligten transparent nutzbar sind. Prof. Dr. Richard van Kleef von der Erasmus-Universität Rotterdam nimmt die Niederlande als Beispiel. Hier werden anonymisierte Daten regelmäßig erhoben und mit anderen Gesundheitsdaten, wie zum Beispiel Umfragen und Erhebungen, über mehrere Jahre verknüpft. Diese externen Daten sind laut van Kleef besonders wichtig für die Analyse.

In den Niederlanden sind sie außerdem für Dritte, vor allem die Wissenschaft, zugänglich und helfen, die Risikobewertung zu verbessern. Hierzulande gibt es noch Nachholbedarf, wie der Volkswirt an der Universität Trier Prof. Dr. Normann Lorenz betonte. Denn dem Bundesversicherungsamt (BVA) stehen derzeit keine Daten zur Verfügung, um die Stabilität der Deckungsbeiträge personenbezogen über mehrere Jahre zu beobachten. Für externe Wissenschaftler besteht sogar überhaupt kein Zugang zu den RSA-Daten, welche die Krankenkassen an das BVA übermitteln. Zentrale Kennzahlen können so nicht konsistent berechnet werden. Daher hält es Lorenz für grundlegend, mehr Daten für das BVA und grundsätzlich für die Wissenschaft bundesweit zur Verfügung zu stellen. Eine breitere Datenbasis ist auch für die im Referentenentwurf vorgesehene regelmäßige Evaluation des Morbi-RSA nötig.

Wie neue Analyseansätze die Qualität des Systems verbessern können, zeigte Dr. Dennis Häckl vom WIG2 Institut auf. Die Güte von RSA-Analysen ist derzeit abhängig von den Stichproben, die für die Auswertung gebildet werden. Hier können innovative Methoden der Datenaufbereitung helfen, auch auf einer eingeschränkten Datenbasis belastbare Aussagen treffen zu können. Auch kann das Sichtbarmachen von regionalen Versorgungsräumen helfen, Unwuchten im Finanzierungssystem auszugleichen. Die Forschung des WIG2 Institut konzentriert sich aktuell u.a. darauf, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Leistungen regionalstatistisch abzubilden. Außerdem können neue Ansätze in der Prognose von Leistungsmengen dabei helfen, echte Unterschiede in der Performance von Krankenkassen stärker von Standortfaktoren zu trennen. So wird eine realistische Bewertung der Managementleistung von Krankenkassen möglich.

 

R2, CPM, DQ? Die Kennzahl und das Risiko

Aufgabe des Risikostrukturausgleichs ist es, den Wohlfahrtsverlust, der durch Wettbewerbsverzerrungen, Fehlanreize und ungerechtfertigte Vorteile entsteht, zu minimieren. Bisher wird in RSA-Analysen bevorzugt die Kennzahl R2 verwendet, um die Leistungsfähigkeit des Ausgleichssystems zu messen. Sie misst die Prognosegüte in Bezug auf den erklärten Anteil der tatsächlichen Ausgaben der Versicherten. Je besser der Risikostrukturausgleich funktioniert, umso mehr entsprechen die aus seinen Prognosen resultierenden Zuweisungen den tatsächlichen Ausgaben. Umso kleiner sind auch die daraus resultierenden Unterschiede in den Deckungsbeiträgen unterschiedlicher Versichertengruppen.

Prof. Dr. Normann Lorenz empfiehlt, den Risikostrukturausgleich nicht im Hinblick auf die Minimierung der tatsächlichen Deckungsbeitragsunterschiede zu optimieren. Vielmehr sollen die durch die Krankenkassen vorhersagbaren Unterschiede möglichst klein werden. Darüber hinaus sollte individuell in Abhängigkeit von der verwendeten Methodik bestimmt werden, welche Kennzahl die höchste Voraussagekraft liefern kann. Neben dem R² wird von Prof. Dr. Normann Lorenz hierfür das CPM vorgeschlagen.

Prof. Dr. Konstantin Beck von der Universität Luzern führt das Schweizer Rechenmodell als Beispiel für alternative Herangehensweisen an einen Risikostrukturausgleich an. Hier werden Behandlungen im stationären Sektor gezielt mit einer „Spital-Pauschale“ subventioniert. Diese Subventionen werden in die Kennzahlen bei der Berechnung integriert. Mit allen Kosten in der Gleichung ergeben sich folglich viel präzisere Vorhersagen des Risikos. Subventioniert man speziell hohe Risiken, sinken außerdem die Anreize zur Manipulation von Diagnosen.

 

Ohne Anreize keine Manipulation

Der Vorwurf, Krankenkassen und Ärzte würden Diagnosen manipulieren, um höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten, sorgte in den vergangenen Jahren immer wieder für Schlagzeilen. Manipulationen gefährden den sachgerechten Einsatz von Ressourcen im Gesundheitssystem und verzerren den Wettbewerb zwischen den Kassen. Nicht zuletzt können falsche Diagnosen auch den Patienten schaden. Der Anteil und die Anzahl gesicherter Diagnosen sind für RSA-relevante Erkrankungen seit Einführung der Morbiditätsorientierung im Jahr 2009 signifikant stärker gestiegen als für vergleichbare Nicht-RSA-Krankheiten, so die Volkswirtin Prof. Dr. Amelie Wuppermann von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zwar ist damit noch nicht nachgewiesen, ob unsachgemäßer Einfluss auf die Kodierung genommen wurde, allerdings liegt dieser Schluss nahe.

Ohne externe Anreize hätten niedergelassene Ärzte geringes Interesse daran, zusätzliche gesicherte Diagnosen von RSA-Krankheiten zu kodieren. Aktuelle Untersuchungen des WIG2 Instituts stützen die Befürchtung, dass die Krankenkassen selbst Einfluss zu nehmen versuchen. Wuppermann betont, dass es schon jetzt Möglichkeiten gibt, Manipulationen vorzubeugen. Ausreichend umgesetzt werden sie noch nicht. Die Prüfmöglichkeiten für das BVA wurden 2017 erweitert und ein Verbot der Kodierberatung durch die Kassen eingeführt. Neue Kodierrichtlinien aus diesem Jahr dämmen außerdem Manipulationen bei Diagnosen ein.

Weitere Schritte in diese Richtung werden nun im Referentenentwurf zum Faire-Kassenwahl-Gesetz gegangen. Wuppermann hebt besonders die vorgesehene Manipulationsbremse, erweiterte Prüfrechte des BVA insbesondere bei Selektivverträgen und eine einheitliche bundesweite Aufsicht hervor. Die Entkoppelung von Diagnosen und Selektivverträgen und ein gesondertes Prüfrecht dieser Vertragskonstrukte kann eine rechtswidrige Praxis ebenfalls eindämmen. Außerdem würden in Zukunft die Krankenkassen in der Pflicht stehen, bei einer Prüfung die Plausibilität ihrer Daten nachzuweisen. Damit kommen sie in die Beweispflicht und werden von vornherein zu Transparenz angehalten.

 

Wissenschaft und Praxis begrüßen regionalen Ausgleichsfaktor im RSA

Bisher bleiben regionale Versorgungs- und Finanzunterschiede im deutschen RSA unberücksichtigt. Für einen fairen Ausgleich müssen, so Prof. Dr. Volker Ulrich von der Universität Bayreuth, regionale Faktoren jedoch in verschiedenen Dimensionen einbezogen werden: für eine zielgenaue Kostenvorhersage, zur Vermeidung von regionaler Risikoselektion sowie für bundesweit gerechte Wettbewerbsbedingungen im Krankenkassenmarkt.

Die weitreichenden Reformpläne im GKV-FKG werden daher als umfassende Paketlösung begrüßt und sollten in Anlehnung an die beiden Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des RSA schnellstmöglich umgesetzt werden. Dieser Ansicht stimmen nicht nur weitere Vertreter der Wissenschaft im Rahmen des RSA-Fachkongresses 2019 zu, sondern ebenfalls Sprecher aus der Praxis, beispielsweise Thomas Czihal vom Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi), sowie die Diskutanten und Diskutantinnen der Krankenkassen.

 

Der Patient muss im Mittelpunkt stehen

Die Versorgungsqualität für den Patienten ist das oberste Ziel eines Gesundheitssystems. Der ehemalige Gesundheitsminister der Niederlande, Professor Ab Klink, empfahl in seinem Vortrag, die Versorgungsqualität stärker in den Fokus zu rücken. In den Niederlanden wird dies bereits durch systematisches Feedback und qualitätsbasierte Versorgungsverträge mit Leistungserbringern erreicht.

Die Kassen werben hier mit der besten Versorgung um Patienten. Auch der Wettbewerb zwischen den Kassen entscheidet sich über Qualität, Preis und zusätzliche Leistungen. Passgenaue Versorgung wird hier als einziger Weg gesehen, die Qualität zu verbessern und die Kosten langfristig zu senken. Die Logik dahinter ist einfach, so Klink: Bessere Qualität verhindert falsche oder unnötige Behandlungen. Dies reduziert Kosten und spart Zeit, die wiederum in bessere Behandlung und Diagnostik investiert werden kann. Ein Kreislauf, der die Versorgungsqualität stetig verbessert.

Prof. Dr.  Klink sieht darin das niederländische Erfolgsgeheimnis. Fokussiert man sich zu sehr auf den Preis, sinkt zwangsläufig die Qualität für den Patienten. Fehl- und Überversorgungen machen in den Niederlanden bis zu einem Drittel der Leistungen aus, zeigte Klink in seinen Daten und empfiehlt, diese Schieflage für Deutschland zu untersuchen und systematisch anzugehen. Anreize für Fehl- und Überdiagnosen sind für Patienten riskant und erhöhen schließlich auch die Kosten unnötig. In den Niederlanden haben die Reformen seit 2006 zu mehr Kostentransparenz, gesunkenen Preisen und exakteren Diagnosen geführt.

 

Innovative Therapien und Arzneimittel – Was sind sie uns wert?

Einen interessanten Blickwinkel auf die Versorgung von Patienten mit hochpreisigen, innovativen Arzneimitteln warf zudem Professor Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen auf: Was ist es unserer Gesellschaft finanziell wert, bestimmte  therapeutische Innovationen flächendeckend und ohne Rationierung anzubieten? Und welche Rolle sollte der RSA hierbei einnehmen?

Aufgrund der zeitversetzten Ausgestaltung des Ausgleichssystems – die rechnerische Ausgleichsgrundlage wird auf der Datenbasis des Vorjahres geschaffen – führen teure Therapien häufig zu großen Unterdeckungen für Krankenkassen. Letztere haben also derzeit nur wenige Anreize, diese Therapien zu fördern. Die aktuellen Reformansätze sollen diese Barrieren zwar abbauen, dennoch stellt sich die gesellschaftliche Frage: Inwiefern ist der Einsatz sehr teurer Arzneimittel überhaupt politisch gewollt und gesellschaftlich begründet?

 

Ein gutes System wird ständig evaluiert

Die Experten sind sich einig, dass der regelmäßige Austausch zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik sowie weiteren staatlichen Institutionen notwendig ist, um den RSA stetig weiterzuentwickeln und zu verbessern. In den Niederlanden arbeiten die Versicherer mit Ärzten, Krankenhäusern und Unternehmen zusammen, um gemeinsam Qualitätsinitiativen zu entwickeln. In einem Netzwerk werden Ideen in kleinem Rahmen getestet und für den breiten Einsatz optimiert. Die gesetzlichen Krankenkassen stellen sie dann dem gesamten System zur Verfügung.

Prof. Dr. Richard van Kleef stellt als weiteres erfolgreiches Praxismodell die niederländische Arbeitsgruppe zum Risikoausgleich vor. Hier versammeln sich mehrmals jährlich Experten des Gesundheitsministeriums, der Versicherer, von Verbänden und Forschungsinstituten. Auch Patientenverbände und andere Interessengruppen werden gehört. Sie beraten das Ministerium, überwachen Forschungsprojekte und entwickeln Evaluationskriterien für die Risikobewertung. Dazu gehört, Anreize für die Risikoselektion zu reduzieren, Manipulation zu verhindern sowie ein valides und messbares System aufzustellen. Ein vergleichbares, institutionalisiertes Austauschformat existiert in Deutschland bislang nicht. Mit Veranstaltungen wie dem RSA-Fachkongress möchte das WIG2 Institut daher die Chance ergriffen werden, das hiesige System in diese Richtung zu ergänzen.

Alles in allem sehen die Experten den RSA durch die in Aussicht gestellten Reformen des GKV-FKG jedoch auf einem guten Weg. Mit ihren Impulsen haben sie jedoch eindrücklich gezeigt, dass auch darüber hinaus weitere Potenziale für die Weiterentwicklung eines fairen und effizienten RSA existieren, die intensiv untersucht und diskutiert werden sollten.

 

Dipl.-Pol. Benjamin Berndt
Projektleiter Gesundheitspolitik und Beratung am WIG2 Institut

Martin Blaschka, M.A.
Leiter Innovationsnetzwerk und Veranstaltungen am WIG2 Institut


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