Krankengeld im Risikostrukturausgleich (RSA)

Folgegutachten mit überraschender Lösung

Dr. Robert Paquet

Wer geglaubt hätte, die Reform des Risikostrukturausgleichs (RSA) zwischen den Krankenkassen wäre mit dem jüngst verabschiedeten GKV-Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (FKG) erst einmal zu einem Schlusspunkt gekommen, hat sich in jedem Fall getäuscht. Schon im FKG selbst wird der Beirat beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) beauftragt, im Jahre 2023 erstens die Konstruktion und Wirksamkeit der sog. Manipulationsbremse zu überprüfen und zweitens die Umsetzung der Regionalkomponente zu evaluieren (§ 266 Abs. 10 SGB V). Aber nicht nur das. Schon seit längerer Zeit werden zwei aus der RSA-Reform des FKG abgetrennte Probleme bearbeitet, für die das damals noch als Bundesversicherungsamt (BVA) firmierende BAS zwei inzwischen vorliegende Gutachten vergeben hat. Es geht um die Form der Einbeziehung des Krankengeldes in den RSA und den Umgang mit den Zuweisungen für die Auslandsversicherten. Hier soll zunächst das Krankengeld-Gutachten (IGES 2019) betrachtet werden[1].

Das Gutachten schlägt vor, bei den Zuweisungen neben den Alters- und Geschlechtsgruppen erstmals die Krankheitslast der Versicherten als maßgeblichen Ausgabentreiber des Krankengeldes zu berücksichtigen. Nicht gesondert berücksichtigt werden sollen dagegen die Einkommen der Versicherten, obwohl das Krankengeld eine einkommensabhängige Kassenleistung ist. Der direkte Morbiditätsbezug zeigt sich zielgenauer, als wenn eine Differenzierung in zwei Schritten vorgenommen wird, so wie es die bisherigen Gutachten zum Thema vorgeschlagen haben (zunächst Bestimmung der Mengenkomponente mit nachgelagerter Berücksichtigung des Zahlbetrags als Preiskomponente). Außerdem spricht sich das Gutachten (bis auf weiteres) gegen die Einbeziehung zusätzlicher Merkmale aus (Tätigkeitsschlüssel, Betriebsgröße etc.). Es soll beim zeitgleichen Verfahren bleiben.

 

Vorgeschichte: Wo liegt das Problem?

Das Krankengeld (KG) nimmt unter den Leistungen der GKV als Geldleistung eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zur Bedarfsabhängigkeit der medizinischen Versorgungsleistungen (im Rahmen des Sachleistungsprinzips) bemisst sich die Höhe des Zahlbetrags beim Krankengeld nach der Höhe der beitragspflichtigen Einkommen und folgt damit dem Äquivalenzprinzip. Bisher wurde beim KG-Ausgleich im RSA die Morbidität nicht berücksichtigt: Der Ausgleich wurde auch nach dem Übergang zum Morbi-RSA unverändert „nach dem schon im alten RSA verwendeten Merkmalen Alter, Geschlecht und (Nicht)-Bezug einer Erwerbsminderungsrente in einem zeitgleichen Modell standardisiert.“ Die im Einzelfall höheren oder niedrigeren Krankengeldzahlungen je Krankengeldtag (Preiskomponente) wurden (und werden) ebenso wenig berücksichtigt wie der bei einer Kasse ggf. unter- oder überdurchschnittliche Krankenstand (Mengenkomponente). So Drösler et al. schon im Evaluationsgutachten 2011 (Drösler et al. S. 192). Dabei zeige sich im Großen und Ganzen, dass höhere Zahlbeträge mit kürzeren Bezugsdauern (geringerer Morbidität) verbunden seien und umgekehrt.

Ein Problem entstehe allerdings bei Kassen, „die überwiegend Berufsgruppen mit hohem Einkommen, zugleich aber auch (alters- und geschlechtsspezifisch) überdurchschnittlich hohen Krankenständen versichern.“ Hier reichten die nach Alter und Geschlecht standardisierten Normkosten nicht zur Deckung der Krankengeldausgaben. Selbst bei einem relativ erfolgreichen Fallmanagement könne eine Kasse nur die KG-Bezugszeiträume beeinflussen, nicht aber die Zahlbeträge (Drösler et al. S. 193). Das sei bedeutsam, weil der RSA im Bereich des Krankengeldes für die Kassen Anreize setzen soll, das Kostenrisiko durch (betriebliche) Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung möglichst gering zu halten. Vor diesem Hintergrund wurde schon damals festgestellt, dass die Deckungsquoten über die Kassen sehr breit streuen und es daher „nicht überrascht“, dass die Ausgaben des Leistungsbereichs Krankengeld nur sehr unbefriedigend prognostiziert werden können (Drösler et al. S. 194).

An dieser Grundkonstellation hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. – Die Gutachter hatten damals bereits verschiedene Lösungsmodelle (Berücksichtigung des kassenindividuellen Krankengeldzahlbetrags oder eines „Grundlohnkorrekturfaktors“ etc.) durchgerechnet, kamen aber zu keinem befriedigenden Ergebnis. Die geringe Prognosegüte hing auch mit einer lückenhaften Datenlage zusammen; insgesamt wurde weiterer „erheblicher Forschungsbedarf“ konstatiert (Drösler et al. S. 216).

Im Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FQWG), das im Sommer 2014 in Kraft trat, hat der Gesetzgeber daraus die Konsequenz gezogen. Im neuen § 269 SGB V wurde das BVA verpflichtet, ein Gutachten in Auftrag zu geben, mit dem „Modelle für eine zielgerichtetere Ermittlung der Zuweisungen zur Deckung der Aufwendungen für Krankengeld“ entwickelt werden sollten. Gleichzeitig wurde das Problem der unbefriedigenden Deckungsbeiträge durch eine Zwischenlösung abgemildert: Neben dem Standardisierungsverfahren wurde für die Hälfte der Krankengeldausgaben der einzelnen Krankenkassen ein Ist-Ausgleich ermöglicht (§ 269 Abs.1).

Das damals vom BVA vergebene Gutachten („Erstgutachten“) sollte beantworten, „welche weiteren Bestimmungsfaktoren die Krankengeldausgaben maßgeblich beeinflussen“ und „demzufolge bei der Standardisierung der Krankengeldausgaben berücksichtigt“ werden sollten (IGES 2019, S.15). Es sollte die Datengrundlagen für diese Faktoren benennen und darstellen, wie sie erhoben werden können. Dieses Gutachten lag Ende Mai 2016 vor (Wasem et al. 2016). Im Ergebnis empfahlen die Gutachter die o.g. Differenzierung in Mengen- und Preiskomponente.

Praktisch zeitgleich (22. Juni) wurde ein Gutachten von Häckl et al. (2016) zum gleichen Thema veröffentlicht, das die Interesselage verdeutlicht: Offizieller Auftraggeber war der BKK Landesverband Bayern, der seinerseits im Auftrag der Audi BKK, der BKK Mobil Oil, Bosch, Daimler, Deutsche BKK, Die Schwenninger Krankenkasse, Pronova BKK, ProVita BKK, R + V BKK, Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK) und VIACTIV BKK handelte und die Datenlieferung organisierte. Hinzu kamen die Hanseatische Krankenkasse (Ersatzkasse) und die BIG direkt gesund als Innungskrankenkasse. Die beteiligten Kassen haben überwiegend hohe „Grundlohnsummen“ und hofften auf den Ausgleich ihrer subjektiv wahrgenommenen Benachteiligung (im Sinne des o.g. Problems). Erstellt haben das Gutachten Experten des IGES Instituts Berlin, des WIG² Leipzig sowie die Gesundheitsökonomen Prof. Eberhard Wille und Greiner. Empfohlen wurde im Ergebnis, vor allem die Morbidität der Versicherten, ihr individuelles Einkommen (täglicher Zahlbetrag) und eine Regionalvariable in das Ausgleichssystem einzubeziehen.

Mit dem Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG, in Kraft getreten im Frühjahr 2017) wurde die gesetzliche Grundlage für die Beauftragung eines „Folgegutachtens“ geschaffen mit dem Ziel, insbesondere die im Erstgutachten entwickelten Modelle zu überprüfen und zur Umsetzungsreife weiterzuentwickeln (§ 269 Abs. 3a SGB V). Darüber hinaus wurde mit dem Gesetz die Bereitstellung der Daten für zusätzliche Bestimmungsfaktoren geregelt („Sondererhebung“ nach § 269 Abs. 3b SGB V). Das Bundesversicherungsamt (BVA) hat im Ergebnis einer öffentlichen Ausschreibung die IGES Institut GmbH mit der Erstellung des Folgegutachtens beauftragt (IGES 2019, Seite 15).

 

Vorgehen im Gutachten

Kern des Auftrags ist die Bearbeitung von „zehn Forschungsfragen“ des BVA mit zum Teil sehr detaillierten Unter-Fragestellungen (S. 21f.). Dabei geht es um die Beschreibung des Status quo und seiner Effekte bzw. Probleme, Verbesserungspotenziale für die Krankengeldzuweisungen (auch unter Einbeziehung weiterer Merkmale wie Tätigkeitsschlüssel, Betriebsgröße, Beschäftigungsstatus etc.) bis hin zu Fragen der legislatorischen, administrativen und technischen Umsetzung des schließlich präferierten Vorschlags. Ein Sonderproblem ist das sog. Kinderkrankengeld nach § 45 SGB V, das quantitativ im Verhältnis zum Krankengeld bei langer Arbeitsunfähigkeit nur eine geringe Rolle spielt. Hier kann schon vorweggenommen werden, dass die Gutachter (wie schon Wasem et al 2016) empfehlen, dafür einen Ist-Ausgleich vorzunehmen, weil die Anspruchsberechtigung mit den üblichen Kassendaten nicht abgrenzbar ist und vor allem weil diese Leistung von den Kassen nicht steuerbar ist (S. 19 und Kapitel 11).

Im zweiten Kapitel wird der o.g. Grund der Diskussion ums Krankengeld im RSA noch einmal dargestellt: „Wettbewerbsverzerrungen durch Zuweisungen für Krankengeldausgaben“ (S. 24). Dabei wächst das Problem in dem Maße, wie die Krankengeldausgaben der gesetzlichen Krankenkassen (auch anteilig) steigen. So gab die GKV im Jahr 2018 für Krankengeld 13,09 Milliarden Euro aus. Das entspricht 5,8 Prozent ihrer gesamten Leistungsausgaben. Die KG-Ausgaben steigen seit Jahren und lagen 2008 noch bei knapp 6,6 Milliarden Euro (4,4 Prozent der Leistungsausgaben). – Seit Mitte der 90er Jahre ging der Anteil des Krankengeldes an den GKV-Leistungsausgaben kontinuierlich zurück (1995 mit 8,04 Prozent); 2006 wurde mit einem Anteil von 4,12 Prozent der Tiefpunkt erreicht (SVR 2015, Tabelle 7).

Im vierten Kapitel folgt eine detaillierte Darstellung des aktuell verwendeten „Zuweisungsregelwerks“ des RSA für das Krankengeld. Im fünften Kapitel wird der Stand der Forschung (Wasem et al. 2016 und Häckl et al. 2016) dargestellt und im Hinblick auf das weitere methodische Vorgehen thematisiert (S. 46f.). In weiteren Kapiteln werden die Datenquellen diskutiert und die Prüfungen bzw. Plausibilisierungsschritte, die vor allem auf die Satzarten der Sondererhebung angewendet wurden.

Anders als die bisherigen Gutachter, die auf Stichproben angewiesen waren, konnte das neue Gutachten mit RSA-Daten sämtlicher Krankenkassen (Vollerhebung für 2017) sowie mit speziell für dieses Gutachten bereitgestellten Daten arbeiten. Dabei geht es vor allem um die Sondererhebung nach § 269 Abs. 3b Satz 2 SGB V. Danach stehen die Daten zur Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen, zum Tätigkeitsschlüssel, zu Ausbildungs-, Beschäftigungs- und Vertragsmerkmalen (Voll-/Teilzeit etc.) und zum Beschäftigungsbetrieb (Betriebsnummer) eines Versicherten zur Verfügung. Alles Daten, die in früheren Gutachten als (mögliche bzw. relevante) Bestimmungsgründe für die Krankengeldmorbidität diskutiert wurden. „Gemeldet werden diese Daten versichertenbezogen und nicht nur auf die Krankengeldfälle beschränkt.“ Ferner enthält die Satzart 304 „einen Marker, ob es sich um Krankengeld bei Erkrankung des Kindes (§ 45 SGB V) oder „reguläres“ Krankengeld gemäß § 44 SGB V handelt.“ (S. 49) Außerdem stehen die zu einem AU-Fall gemeldeten Diagnosen „mit dem Feststellungsdatum, dem Beginn der AU, der Diagnoseherkunft und den für eine AU-Diagnose gemeldeten Zeitraum“ zur Verfügung (S. 50).

Kapitel 8 stellt die in diesem Gutachten verwendeten Methoden zur Modellbildung und die Kriterien zur Bewertung dar. In Kapitel 9 werden die eigentlichen Forschungsfragen beantwortet. In Kapitel 10 wird detailliert der Umsetzungsaufwand geschätzt (insgesamt weniger als 100.000 Euro, vgl. S. 19).

Das Gutachten liest sich schwer, weil es auftragsgemäß vor allem durch die vorgegebenen „Forschungsfragen“ gegliedert ist und diese bis ins technische Detail beantworten will.

 

Ergebnisse

Im Ergebnis empfehlen die Gutachter die direkte Standardisierung der Krankengeldaufwendungen und gehen damit einen anderen Weg als das Erstgutachten (Wasem et al. 2016). Die Differenzierung in eine Mengen- und eine Preiskomponente (Krankengeldbezugstage und Krankengeldzahlbetrag pro Bezugstag) sei zwar „sehr gut geeignet, Entwicklungen im Krankengeldgeschehen im Zeitverlauf zu beschreiben und zu erklären“. Es sei daher auch naheliegend, diese Differenzierung für eine „zielgerichtetere Ermittlung“ der Krankengeld-Zuweisungen zu verwenden, „indem die Krankengeldbezugstage (Mengenkomponente) eigenständig standardisiert und anschließend mit einem versichertenindividuellen Krankengeldzahlbetrag bewertet werden.“

Die Überprüfung der separaten Modellierung von Mengen- und Preiskomponente auf den Daten der Vollerhebung im Rahmen des vorliegenden Gutachtens zeigt jedoch unterlegene Gütemaße und Kennzahlen im Vergleich zu einem Modelltyp, der die Krankengeldausgaben direkt standardisiert. Die Folgegutachter empfehlen daher, die Trennung von Menge und Preis nicht in den Risikostrukturausgleich des regulären Krankengeldes zu integrieren, sondern die Krankengeldleistungsausgaben direkt zu standardisieren.“ (S. 16).

Auch die Informationen zum beitragspflichtigen Einkommen und zum Tätigkeitsschlüssel tragen zur Erklärung der Über- und Unterdeckungen bei. Dabei wird zur statistischen Analyse ein Ansatz genutzt, der im Kontext der RSA-Forschung erstmalig eingesetzt wird (Classification and Regression Tree CART, vgl. auch S. 77). Eine Berücksichtigung dieser Variablen im Rahmen des gegenwärtigen Verfahrens sei aber aufgrund statistischer und methodischer Restriktionen (u.a. Endogenitätsproblem) nicht möglich und wäre auch nicht ausreichend rechtssicher. Letzteres auch deshalb, weil die Validität des Tätigkeitsschlüssels von vielen Experten in Zweifel gezogen wird. Die Folgegutachter empfehlen jedoch, „die diesbezüglichen Ergebnisse im Rahmen der mittel- bzw. langfristigen Weiterentwicklung des Verfahrens“ wieder aufzugreifen und den wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des RSA mit entsprechenden Untersuchungen zu betrauen (S. 17).

Von zentraler Bedeutung ist die Operationalisierung der Morbidität. Geprüft wurden drei Möglichkeiten: Die Nutzung der im Erstgutachten empfohlenen HMG (morbiditätsunvollständiges, aber ergänztes Modell), die den HMG zugrundeliegenden „BVA-Krankheiten“ (KNRM2Q – morbiditätsvollständiges Abbild der ambulant und stationär kodierten Morbidität mit 360 „Krankheiten“), mit dem schon Häckl et al. 2016 gute Erfahrungen gemacht hätten (S. 66f.), sowie die Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen (S. 17 und 61f.). Dabei zeigte sich, dass mit Hilfe der AU-Diagnosen zwar die höchste Zielgenauigkeit der Zuweisungen erreicht werden konnte. Mangels verbindlicher Kodier-Richtlinien für AU-Diagnosen seien diese Daten allerdings nicht ausreichend valide (Probleme der Erfassung; Umgang mit Mehrfach-Diagnosen, Krankengeld-Relevanz etc. vgl. S. 61f.). Eine angemessene Alternative stellten die HMG mit annähernd gleich guten Gütemaßen dar. Im Ergebnis bevorzugen die Gutachter die KNRM2Q, weil damit eine Annäherung an das mit dem FKG eingeführte „Vollmodell“ erreicht wird (S. 145).

Ganz können sich die Gutachter aber von den AU-Diagnosen nicht verabschieden und machen einen durchaus ambitionierten Vorschlag für die Zukunft: „Denkbar wäre beispielsweise, dass die AU-Diagnosen des Krankengeldfalls einen analogen Stellenwert wie stationär kodierte Hauptdiagnosen erhalten, nachdem eindeutige Kodier- und Dokumentationsrichtlinien für diese Diagnosen umgesetzt worden sind.“ Eine Verbesserung in diese Richtung ergebe sich ohnehin durch die Änderungen in § 295 Abs. 4 SGB V im Rahmen des TSVG. Danach werden zum 1.1.2022 einheitliche und verbindliche Regelungen zur Kodierung in der vertragsärztlichen Versorgung wirksam. Wenn diese Regelungen auch auf den Bereich der AU-Diagnosen erweitert würden, sollte – so die Gutachter – „eine erneute Prüfung der Eignung von AU-Diagnosen für das Krankengeld-Ausgleichsverfahren“ vorgenommen werden (S. 148).

Da auch mit dem empfohlenen Verfahren die Deckungsquoten einzelner Kassen deutlich vom Durchschnitt abweichen, empfehlen die Gutachter einen ergänzenden Ausgleich der Ist-Ausgaben. An die Stelle der Übergangslösung (§ 41 Abs. 1 Satz 3 RSAV) sollte ein Risikopool treten. Weil dafür unterschiedliche Anknüpfungspunkte denkbar sind (hohe Krankengeldausgaben einzelner Versicherter vs. hohe Unterdeckungen) und „das FKG für die übrigen Leistungsbereiche die Schaffung eines Risikopools vorsieht, empfehlen die Folgegutachter, die zukünftige Ausgestaltung für den Leistungsbereich Krankengeld“ am FKG zu orientieren (S. 18).

 

Wie geht es weiter?

Ob eine Gesetzesänderung unbedingt erforderlich wäre, kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Wahrscheinlich müsste aber die Geltung der Kodierrichtlinien in § 295 Abs. 4 auch explizit auf die AU-Diagnosen erweitert werden. Klar ist allerdings, dass das Gesetz bereits bisher die Details der Einbeziehung des Krankengeldes in den RSA der RSAV überlassen hat. Für die Umsetzung der Gutachterempfehlungen wäre deren Veränderung (mit Zustimmung des Bundesrates) daher zwingend erforderlich. Wenn man die AU-Diagnosen in die Weiterentwicklung einbeziehen will, müsste man ohnehin bis nach 2022 abwarten. Da das Thema RSA in der aktuellen Situation sicher keine Priorität genießt, ist fraglich, ob das BMG die entsprechenden Arbeiten noch vor diesem Herbst erledigt. Mit einem Inkrafttreten wäre daher frühestens gegen Ende des laufenden Jahres zu rechnen. Danach dürfte die administrative Vorbereitungszeit beim GKV-Spitzenverband und dem Bundesamt für Soziale Sicherung, das mit der vorrangigen Umsetzung des FKG vollauf beschäftigt ist, noch so lange dauern, dass an eine Wirksamkeit der neuen Regelungen im Jahr 2021 nicht zu denken ist. Wenn der politische Wille besteht, wäre das Jahr 2022 jedenfalls möglich, wenn auch nicht unbedingt wahrscheinlich.

Einen zarten Hinweis auf die Interessenlage gibt die Berechnung des Gutachtens zu den Verteilungswirkungen beim (regulatorischen) Status quo[2]. Während die Ersatzkassen 2017 positive Deckungsbeiträge pro Versichertenjahr aufweisen (reguläres Krankengeld: 23,57 €), stellt sich die Situation für die AOKn negativ dar (reguläres Krankengeld: -20,88 €). Die höchste Unterdeckung im regulären Krankengeld gibt es mit -37,66 € pro Versichertenjahr bei den IKKn. BKKn und KBS liegen hingegen mit 2,46  € bzw. 5,15  € pro Versichertenjahr knapp im positiven Bereich. Dabei sind allerdings die Kassenarten meistens heterogener strukturiert, als viele Betrachter annehmen. Im Gutachten wird auch dafür ein Beleg geliefert: Die unternehmensbezogenen BKK weisen mit 48,37 € pro Versichertenjahr beim regulären Krankengeld hohe positive Deckungsbeiträge auf. Da sie aber nur einen geringen Anteil der Versichertenjahre ihrer Kassenart ausmachen, ist der Deckungsbeitrag für die Kassenart insgesamt sehr niedrig (S. 92).

Im „Folgegutachten“ wurden die greifbaren Daten zu allen im Zusammenhang mit dem KG diskussionswürdigen Faktoren zusammengetragen, sehr sorgfältig diskutiert und in Modellrechnungen getestet. Das war auch der Auftrag des BVA. Trotzdem dürfte es die Arbeit bei der Politik schwer haben. Die Kernempfehlung erscheint überraschend und ist „nur“ statistisch begründet. Der Vorschlag der Erstgutachter (zwei Schritte mit Mengen- und Preiskomponente) war dagegen intuitiv verstehbar und schien plausibel. Schon eine Regressionsrechnung ist nicht einfach nachzuvollziehen. So dürfte es das von den Gutachtern für die Zukunft empfohlene CART-Verfahren noch schwerer haben; es stellt erst recht eine Black Box dar. An solche Dinge gehen Politiker nur mit spitzen Fingern ran, wie z.B. die Diskussion um den Regionalfaktor im RSA schon gezeigt hat.

Jedenfalls für die Wissenschaft ist gesorgt: Die Krankengeld-Frage im RSA wird wegen der Zunahme der entsprechenden Ausgaben sicher noch viel wichtiger werden; und sie ist mit diesem Gutachten keineswegs abschließend gelöst. Die eigentliche Botschaft ist: Wir machen mit diesem Vorschlag einen ersten Schritt. Für die Weiterentwicklung des RSA in diesem Bereich gilt aber: „further research ist needed“. Damit zeigt sich wieder einmal: Der RSA ist eine Dauerbaustelle. Sie wird uns noch viel Freude machen.

 

[1] So weit im Folgenden Seitenzahlen ohne Autor angegeben werden, beziehen sie sich auf das Folgegutachten.

[2] Die quantitativen Verhältnisse können sich in den Folgejahren natürlich (etwas) verändert haben.

 

Literatur

Drösler S, Hasford J, Kurth B-M, Schaefer M, Wasem J & Wille E (2011): Evaluationsbericht zum Jahresausgleich 2009 im Risikostrukturausgleich. https://www.bundesversicherungsamt.de/fileadmin/redaktion/Risikostrukturausgleich/Wissenschaftlicher_Beirat/Evaluationsbericht_zum_Jahresausgleich .pdf [Abruf am: 15.04.2020].

Häckl D, Neumann K, Greiner W, Wille E, Dietzel J, Kossack N & Degenkolbe B (2016): Verbesserung der Deckungsquoten im Krankengeld. Berlin. https://www.wig2.de/fileadmin/content_uploads/PDF_Dateien/WIG2_IGES_Greiner_Wille_Gutachten_Verbesserung_der_Deckungsquoten_im_Krankengeld.pdf [Abruf am: 15.04.2020].

IGES (2019): Folgegutachten zu Zuweisungen zur Deckung der Aufwendungen für Krankengeld nach § 269 Abs. 3b SGB V i.V.m. § 33a Abs. 3 RSAV Bericht zu ZVS-41/2017 (Guido Schiffhorst, Martin Albrecht, Jean Dietzel), Berlin im Dezember 2019 https://www.bundesamtsozialesicherung.de/fileadmin/redaktion/Risikostrukturausgleich/Weiterentwicklung/20200331Folgegutachten_Krankengeld.pdf [Abruf am 16.04.2020].

Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2015): Krankengeld – Entwicklung, Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten. Sondergutachten 2015. Göttingen: Hogrefe. ISBN: 9783456857053.

Wasem J, Schillo S, Lux G & Neusser S (2016): Gutachten zu Zuweisungen für Krankengeld nach § 269 Abs. 3 SGB V i.V.m. § 33 Abs. 3 RSAV. https://www.bundesversicherungsamt.de/fileadmin/redaktion/Risikostrukturausgleich/Weiterentwicklung/Gutachten_Krankengeld.pdf [Abruf am: 15.04.2020].


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