Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)

Bericht des Beirats: Further Research is needed!

Dr. Robert Paquet

Im Zuge der Koalitionsverhandlungen ist der Bericht des „Beirats Pakt ÖGD“, der am 28. Oktober dieses Jahres dem noch amtierenden Gesundheitsminister Spahn übergeben wurde[1], etwas untergegangen. Er dürfte aber künftig eine Rolle spielen, weil im Koalitionsvertrag der neuen Regierung explizit darauf Bezug genommen wird. Dort heißt es: „Auf der Grundlage des Zwischenberichts stellen wir die notwendigen Mittel für einen dauerhaft funktionsfähigen ÖGD bereit.“ (Randziffern 2777/8)

Was das in der Sache bedeutet, bleibt sowohl im Koalitionsvertrag als auch in dem Bericht recht offen. Dass hier ein Problem im Argen liegt, zeigt sich insbesondere an den mehrfachen Beschwörungen „bundesweit einheitlicher Regelungen und Standards“ für den ÖGD, wobei aber eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes fehlt. So enthält der 44-Seiten dünne Bericht durchaus sinnvolle Einzelforderungen und Empfehlungen. Er vermittelt jedoch kein umfassendes Bild der dem ÖGD „idealerweise“ zukommenden Kernaufgaben. Erst auf dieser Grundlage wären aber die einzelnen Kompetenzen und Personalanforderungen sinnvoll abzuleiten.

 

Vorgeschichte

Bekanntlich wurde von der MPK und der Bundeskanzlerin am 29. September 2020 der „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)“ beschlossen. Schwerpunkte sollten die personelle Verstärkung und die bessere technische und digitale Ausstattung der Gesundheitsämter sein. Dafür wollte der Bund bis 2026 finanzielle Mittel in Höhe von insgesamt vier Mrd. Euro bereitstellen. Die Gesundheitsministerkonferenz hat am 28. Dezember 2020 die Einrichtung eines „externen und unabhängigen ‚Beirates zur Beratung zukunftsfähiger Strukturen im ÖGD in Umsetzung des Paktes für den ÖGD ‘“ beschlossen, wie der offizielle Titel etwas umständlich heißt. „Es wurde festgelegt, dass sich der Beirat Pakt ÖGD aus je einer oder einem von Bund und Ländern im Einvernehmen benannten Sachverständigen für den gesundheitlichen Bevölkerungsschutz, für den ÖGD und für Rechtsfragen sowie je einer oder einem von 13 von Bund und Ländern ausgewählten Organisationen und Institutionen zu benennenden Sachverständigen zusammensetzen sollte. Als ständige Gäste des Beirates Pakt ÖGD wurden Vertreterinnen und Vertreter aus dem BMG, der Gesundheitsministerkonferenz (GMK), den Landesgesundheitsämtern und den Kommunalen Spitzenverbänden benannt.“ (S. 8)

 

Ergebnisse des Beirats

Gefordert wird an erster Stelle die „Stärkung der integrierenden und steuernden Rolle des ÖGD“. Jenseits von Pandemien und Katastrophenschutz gehören auch dazu: „Gesundheitsplanung, Gesundheitsfolgenabschätzung, Gesundheitsberichterstattung (GBE), Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen, die Themen Prävention und Gesundheitsförderung sowie der Umgang mit der Klimakrise.“ (S.11) Schon hier drängt sich die Frage auf, ob sich der ÖGD, der ja in der Pandemie alle Mühe hatte und hat, seinen Aufgaben gerecht zu werden, damit nicht überfordert. Sicher steht es um die Gesundheitsberichterstattung in Deutschland nicht zum Besten, was sich in der Corona-Krise schlagend zeigt („zeitnahe Mortalitätssurveillance“, Informationen über „betreibbare Krankenhausbetten“ etc.). Ein sinnvoller Begriff von „Planung“ kann sich jedoch nur auf die Gesundheitsversorgung beziehen. Ob hier der ÖGD, der (bisher) mit Versorgungsdaten so gut wie nichts zu tun hat, die geeignete Stelle für die Datenzusammenführung ist, darf bezweifelt werden.

Wenn er die Aufgabe der Koordinierung und Planung übernehmen soll, müsste vor allem geklärt werden, in welchem Verhältnis er zu den Kassenärztlichen Vereinigungen, den Landesausschüssen und der Krankenhausplanung der Länder agieren soll. Die Stichwortsammlung in diesem Abschnitt trägt zur Klärung dieser Frage nichts bei. Dass dem ÖGD eine wichtige Rolle bei der „Weiterentwicklung von sektorenübergreifenden strukturellen Kooperationen auf kommunaler Ebene“ zukommen soll, ist eine Aufgabe, an der bisher alle anderen Institutionen gescheitert sind. Eine gewisse Restunsicherheit bei seinen großen Plänen verrät der Beirat allerdings mit seiner abschließenden Empfehlung in diesem Abschnitt: „Mit Blick auf den zukünftigen Aufbau des ÖGD sollte zudem eine umfassende Analyse der Situation des ÖGD in Deutschland … erstellt werden. Der Stellenwert des ÖGD im Gesundheitssystem sollte dargestellt und die Aufgaben des ÖGD inklusive seiner Schnittstellen in einer sektorenübergreifenden Versorgung benannt werden.“ (S. 13) Den hohen Ansprüchen soll also die Bestandsaufnahme nachgeliefert werden. Ist das die richtige Reihenfolge?

Im Abschnitt „Rechtliche sowie institutionelle Rahmenbedingungen…“ wird zutreffend festgestellt, dass die Aufgaben des ÖGD in den jeweiligen Landesgesetzen sehr unterschiedlich beschrieben und geregelt werden. Das gilt für die Schwerpunktsetzungen und die „strukturellen und organisatorischen Rahmenbedingungen“ ebenso wie für die „Fach- und Rechtsaufsicht über die Behörden des ÖGD“ (S. 14). Gefordert wird, dass die Ländergesetze gerade im Hinblick auf das Katastrophenmanagement vereinheitlicht werden sollen („deutschlandweit Standards für das Krisenmanagement… einheitliche Stabsstrukturen“). Erforderlich sei – diese Forderung soll hier ausdrücklich positiv hervorgehoben werden –, dass die vorgesehenen Verfahren „regelmäßig in Übungen trainiert werden“ sollen. Wie die erwünschte Vereinheitlichung zustande kommen soll, bleibt jedoch leider offen. Daher darf man auf den angekündigten „weiteren Bericht“ des Beirats gespannt sein, der Empfehlungen vorlegen soll, „wie sich länderübergreifende Aufgaben des ÖGD weiter angleichen lassen“ (S. 15).

Beim „Personal“ gibt es die weitgehend bekannten Feststellungen und die daraus abgeleiteten Forderungen. Es gebe „keine aktuellen und differenzierten Zahlen zur bundesweiten Personalausstattung im ÖGD“. „Die finanzielle Schlechterstellung aller Ärztinnen und Ärzte im ÖGD gegenüber anderen Ärztinnen und Ärzten führt zur Abwanderungen aus dem ÖGD und erschwert die Gewinnung von leistungsfähigen und verantwortungsbereiten Kolleginnen und Kollegen“ (S. 16). Die Forderungen nach einer routinemäßigen und jährlichen Personalstatistik, einem attraktiven Tarifvertrag für den gesamten ÖGD und einer „groß angelegten Imagekampagne“ sind logische Schlussfolgerungen. Dass mehr und besseres Personal aber sehr schwer zu gewinnen ist, geht – abgesehen von der Konkurrenz mit anderen Bereichen des Gesundheitswesens und der Wirtschaft – auch aus einer Bitte der Ministerpräsidentenkonferenz an die Bundesregierung hervor: Das zusätzliche Geld für Personal sollte nicht so kurzfristig ausgegeben werden müssen, weil der Markt für neue Leute völlig leergefegt sei. Sogar der Koalitionsvertrag hat auf dieses Dilemma reagiert: „Wir verlängern beim Pakt für den ÖGD die Einstellungsfristen und appellieren an die Sozialpartner, einen eigenständigen Tarifvertrag zu schaffen“ (Randziffern 2775f.)

Die „Risiko- und Krisenkommunikation“ sei „unterschiedlich bewertet“ worden, formuliert der Bericht sehr diplomatisch (S. 20). Die Informationen seien zwar umfangreich, aber „nicht ausreichend untereinander abgestimmt“ gewesen. Im Laufe der Zeit seien sie auch „unübersichtlich“ geworden. „Politische, aber auch fachlich unzureichend fundierte Entscheidungen hatten massive negative Auswirkungen auf die Risikokommunikation.“ „Die Kommunikation mit Fachleuten wurde nicht deutlich genug von der Aufklärung für die breite Bevölkerung getrennt.“ (S. 20) Wie man sich allerdings eine solche Trennung vorzustellen hat und ob sie überhaupt möglich ist, müsste aus dem Bericht einer im November vom Beirat eingesetzten Arbeitsgruppe hervorgehen. Sie soll „konkrete Vorschläge zur Risiko- und Krisenkommunikation für die Pandemie und andere bundesweite gesundheitliche Notlagen ausarbeiten“ (S. 21).

Im Abschnitt zur „Aus-, Fort- und Weiterbildung und Lehre“ (S. 22) (ebenso wie im Abschnitt „Forschung und Wissenschaft“ (S. 28)) weist der Beirat auf verschiedene Mängel und Zielsetzungen hin. Da er überwiegend mit Mitgliedern aus ÖGD-nahen Institutionen besetzt ist, soll hier naturgemäß die Professionalisierung im ÖGD vorangetrieben werden („Facharztstandard“ „Zusatzbezeichnungen“, Rolle in der akademischen Lehre etc.). Zur „Digitalisierung“ heißt es: „Fehlende bzw. unzureichende Ausstattung und digitale Anwendungen, die nicht miteinander kommunizieren konnten, erschwerten die Arbeit und den Informationsaustausch zwischen den Gesundheitsämtern, bremsten die Reaktionsfähigkeit und führten zu einer hohen Arbeitslast.“ (S. 25) Bekanntlich dauern die Probleme trotz einiger Verbesserungen an. „Durch das aktuell laufende Projekt der Entwicklung eines Reifegradmodells zur Digitalisierung der Gesundheitsämter soll ein einheitlicher Rahmen für die Digitalisierung des ÖGD unter dem Leitbild ‚Digitales Gesundheitsamt 2025‘ aufgestellt werden.“ (ebenda) Auch hier kommt immer wieder der Verweis auf die Notwendigkeit einheitlicher und gemeinsamer IT-Systeme, Standards und Verfahrensweisen.

Im Abschnitt „Finanzierung“ soll die dauerhafte Personalaufstockung „auch nach der Laufzeit des Paktes für den ÖGD“ nachhaltig finanziert werden. Von wem, das wäre ja die politisch entscheidende Frage, bleibt aber offen. Statt einer Antwort darauf wird die Forderung nach einer umfassenden Bestandsaufnahme zum ÖGD – auch in Bezug auf seine Finanzierung – wiederholt (S. 33). Die Formulierung im Koalitionsvertrag legt nahe, dass der Bund „diese Finanzierung“ dauerhaft übernehmen soll. Aber ohne eine Regelungskompetenz für den ÖGD zu haben?

 

Wie weiter?

Im „Fazit“ unterstreicht der Beirat noch einmal das „wichtige Ergebnis“: Für ein „effektives Krisenmanagement (ergebe sich) die Notwendigkeit einer Zentralisierung und Vereinheitlichung im ÖGD in der Datenerfassung, Kommunikation und insbesondere der Qualifikation des Personals“ (S. 36). Dieser Appell an die Einheitlichkeit zieht sich durch den gesamten Bericht und ist selbst ein Symptom. Nur in der Krise wird danach gerufen. Nur in der Krise gibt es auch eine gewisse Bereitschaft zum abgestimmten Handeln. Sobald sich die akute „Lage“ aber entspannt, macht wieder jeder was er will. Daher kommt auch die einzige Lösung für dieses Problem im Bericht nicht vor, nämlich eine Regelungskompetenz des Bundes einzuführen.

Im Übrigen krankt der Bericht – mehr oder weniger selbst eingestanden – daran, dass es kein klares Bild von den Aufgaben des ÖGD und seiner Rolle im Gesundheitswesen gibt. Die mehrfache Einforderung einer Bestandsaufnahme zum ÖGD mit Vorschlägen zur Weiterentwicklung zeigt, dass der Beirat bei dieser Frage selbst noch auf der Suche ist. Auch das erwähnte „Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)“[2] der GMK (S. 28) bietet dazu nicht viel mehr als eine Stichwortsammlung.

Zum Ausgleich dieses Defizits kündigt der Beirat fast zu jedem seiner Sachkapitel einen weiteren Bericht an, der das Nähere präsentieren soll. Und zu den „Perspektiven“ heißt es noch mal allgemein: „Diesem Bericht sollen weitere Berichte mit anderen thematischen Schwerpunkten folgen“ (S. 36). Dass man für dieses anspruchsvolle Berichtsprogramm auch mehr Zeit und Geld braucht, liegt auf der Hand. Daher ist die ultimative Feststellung des Beirats, es sei „notwendig, dass der Arbeitsauftrag für den Beirat Pakt ÖGD über die bisherigen zwei Jahre hinaus bis zum Ende der Paktlaufzeit verlängert wird“ (S. 37). Dem gewohnheitsmäßigen Leser von diversen Gutachten kommt das bekannt vor. Mit die häufigste Schlussfolgerung lautet: „Further Research is needed.“

Die eigentlich bedeutenden Fragen zum ÖGD bleiben zwangsläufig offen. Sie sind politischer Natur. Dazu konnten (und durften wohl) die Beiratsmitglieder nichts sagen.

[1] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/modernisierung-des-oeffentlichen-gesundheitsdienstes-beirat-pakt-oegd-legt-empfehlungen-vor.html

[2] https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?id=730&jahr=2018

 

Lesen Sie zu diesem Thema auch im Observer Gesundheit:

Matthias Gruhl: „Ein Wums für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“, Observer Gesundheit, 14. September 2020 sowie

Matthias Gruhl: „Quo vadis, ÖGD“, Observer Gesundheit, 8. Juli 2020.  


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