08.07.2020
Quo vadis, ÖGD?
Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a. D.
Wann hatten Sie persönlich vor der Corona-Epidemie Kontakt mit einem Gesundheitsamt? Vielleicht erinnern Sie sich an Ihre Einschulungsuntersuchung oder die Ihrer Kinder? Meistens war’s dann aber schon, es sei denn, Sie verkaufen Lebensmittel, haben Prüfungsangst, sind psychisch krank oder müssen hygienische Pflichten einhalten. Die Gesundheitsämter sind ein wenig die unbekannten Stiefkinder des deutschen Gesundheitswesens, auf jeden Fall aber eine sehr dünne Säule im Dreiklang zwischen ambulanter, stationärer und öffentlicher Gesundheit.
Die rund 375 deutschen Gesundheitsämter sind rechtlich eingezwängt zwischen ihrer kommunalen Verortung, landesgesetzlichen Grundlagen und bundesgesetzlichen Spezialnormen. Sie sind abhängig von kommunalen Haushalten und Personalentscheidungen, haben keine einheitliche Struktur und müssen zum Teil Aufgaben erfüllen, für die sie kein qualifiziertes Personal auf dem freien Markt finden. Ihre Personalentwicklung und -ausstattung hängt meistens nicht vom Umfang ihrer fachlichen Aufgaben ab, sondern eher von der finanziellen Ausstattung der jeweiligen Kommune.
Kein Dezernent, kein Bürgermeister kann – außerhalb von infektiologischen Krisenzeiten – sich mit den Aufgaben eines Gesundheitsamtes großen Applaus sichern. Vor Ort konkurrieren Gesundheitsämter um Ressourcen mit anderen Ämtern, die zumeist stärker im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung oder der kommunalpolitischen Profilierung stehen, sei es die Feuerwehr, die Sozialbehörde oder das Ordnungsamt.
Hinzu kommt, dass sie wenig gesundheitsbezogenen Spielraum haben – der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist subsidiär ausgerichtet, d.h. er darf nur sehr eingeschränkt Aufgaben übernehmen, die anderen Leistungsempfängern gesetzlich zugeschrieben sind, unabhängig von der Frage, ob diese ihre Aufgaben erfüllen oder nicht. Solche ihm übriggelassenen Aufgaben werden von der Vertragsärzteschaft nicht gerade gesucht: zum Beispiel die Krisenintervention bei schwer psychisch gestörten Menschen oder die Behandlung von Prostituierten, die sich mit sexuell übertragbaren Erkrankungen infiziert haben. Falls der ÖGD vor Ort darüber hinaus gesundheitliche/medizinische Aufgaben erfüllen will, ist er zumindest, was die Finanzierung angeht, von der Gnade (= Ermächtigung) der Kassenärztlichen Vereinigungen oder der Zahlungsbereitschaft der Krankenkassen (zum Beispiel bei Impfleistungen) abhängig.
Dafür haben die Gesundheitsämter – landesspezifisch zum Teil unterschiedlich und abhängig von der jeweiligen kommunalen Ausprägung – eine schier unerfüllbare Vielfalt von Aufgaben – und dies schon in „Friedenszeiten“ ohne Corona. Die klassische Palette der Aufgaben reichen vom schul-, jugend-ärztlichen und zahnärztlichen Dienst, der Schwangeren- und Mütterberatung, hygienische Kontrollfunktionen im Bereich der Krankenhaus-, Umwelt- und Seuchenhygiene, der Trinkwasserüberwachung, Beratung und Hilfsangebote für psychisch Kranke, Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, Beratung von an AIDS bzw. mit HIV Erkrankten/Infizierten über die regelmäßige Erstellung von amtsärztlichen Gutachten und Zeugnissen bis hin zur Mitwirkung an der Gesundheitsberichterstattung. In den letzten Jahr Jahren wurde vermehrt der Anspruch an die Gesundheitsämter gerichtet, sich stärker präventiv und gesundheitsfördernd vor Ort auszurichten und dafür die kommunale Verantwortung zu übernehmen, auch als Teil und Partner des neu erlassenen Präventionsgesetzes.
Personalfindung für den ÖGD: ein Glücksspiel
Für viele dieser Aufgaben benötigen die Gesundheitsämter Fachpersonal. Dies zu finden, ist für die Gesundheitsämter ein Glücksspiel, weil sie insbesondere für dieses Profil nicht gehaltsmäßig konkurrenzfähig sind: Durch die erfolgreiche tarifliche Durchsetzung einer verbesserten Vergütung für ärztliches Personal in Krankenhäusern und das Beharren der öffentlichen Arbeitgeber auf einer einheitlichen Vergütungsstruktur für akademisches Personal im öffentlichen Dienst klaffen zwischen den ärztlichen „Ä“-Tarifen im Krankenhaus und den entsprechenden Gehaltsstufen im TdL/TVÖD bis zu 2500 € – wohl bemerkt monatlich – für einen/eine Arzt/Ärztin in der Weiterbildung bzw. für Fachärzte. Insofern ist ärztliches Know-how oft Mangelware. Einzig Hamburg zahlt adäquate Ä-Tarife für das ärztliche Personal im ÖGD, was spürbar die ärztliche Bewerberlage verbessert.
Gab es vor 25 Jahren noch 4.000 Ärzte in den Gesundheitsämtern, waren es 2018 nur 2.500. Hinzu kommt eine Überalterung: 2015 waren mehr als die Hälfte aller Fachärzte für öffentliches Gesundheitswesen älter als 50 Jahre. Die Besetzungsmisere zeigt sich beispielsweise an den Berliner Gesundheitsämtern mit mehr als 50 unbesetzten ärztlichen Stellen im November 2017 oder in Sachsen-Anhalt Anfang 2020 mit 32 von 88 offenen Stellen. Ärztliches Personal geht, wenn es sich mit einer vergleichsweisen unattraktiven Bezahlung abfindet, aus anderen als Karrieregründen zum ÖGD; sei es aufgrund der sozialverträglichen Arbeitszeiten, der Nebentätigkeitsmöglichkeiten oder – in den meisten Fällen – aufgrund einer großen Portion Idealismus, oft auch getriggert durch Vortätigkeiten im Entwicklungsdienst oder in anderen sozialen Bereichen. Mitte der siebziger Jahre gab es sogar einen lockeren Verbund von (Großstadt-) Gesundheitsämtern, in denen kritische ÄrztInnen die Gesundheitsämter als eine Plattform für eine neue inhaltliche Ausrichtung von Bevölkerungsmedizin nutzen wollten. Die Umsetzung der Ottawa-Charta, die Health-for-All-Bewegung oder das Gesunde-Städte-Netzwerk waren auch die Grundlagen, um sich vehement in einem jahrelangen Ringen für ein Präventionsgesetz einzusetzen. Diese Gruppe von Gesundheitsämtern stieß zudem eine bis heute noch nicht beendete inhaltliche Debatte der Vereinbarkeit von Kontrollfunktion und Beratung bzw. hoheitliche Umsetzung und gesundheitsförderliche Partizipation an – beides sehr unterschiedliche, konkurrierende Ansprüche innerhalb der Aufgabenkanons der Gesundheitsämter.
Multiprofessionalität des ÖGD ist ein Plus
Auch öffnete sich der ÖGD damals zunehmend und aus der Not geboren für andere Berufsgruppen: SozialarbeiterInnen im sozialpsychiatrischen Dienst, BiologInnen und ChemikerInnen in der Infektions- und Umwelthygiene, SozialpädagogInnen beziehungsweise PsychologInnen in der Aids-Beratung. Zusätzlich wurden pflegerische und hygienische Fachberufe (z.B. Familienhebammen oder sozialmedizinische Assistenzen) auf den ÖGD zugeschnitten, entwickelt und integriert.
Diese Multiprofessionalität ist bis heute ein Plus – es gibt kaum ein kommunales Amt, das so breit beruflich aufgestellt und qualifiziert ist im Vergleich zu anderen Partnern besonders für die Arbeit im Bereich der sozialen Determinanten für Gesundheit auf der Bevölkerungsebene.
Gleichzeitig erschwert dies aber auch die Ausbildung eines klaren Profils: Auf der Bundesebene gibt es keine einheitliche und gemeinsame Stimme der Gesundheitsämter, nur einen „Berufsverband der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst“ und zwei nur Insidern bekannte „Fort- und Weiterbildungsakademien“ (aufgeteilt für den Süden und für den Norden Deutschlands). Bis heute findet sich – bis auf ein jüngst gegründetes, kleines Institut an der Universität Tübingen – keine spezifische akademische Verankerung, die sich in Forschung und Lehre dem ÖGD verschreibt. Die in den 1980er und 1990er Jahren gegründeten Lehrstühle für Public Health haben in den allermeisten Fällen nicht den Zugang zum Gesundheitsamt gefunden und sich nachhaltig mit deren Aufgaben befasst. Auch ist es trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht gelungen, die größte (norddeutsche) Akademie für den ÖGD in Düsseldorf in eine für die Gesundheitsämter fachspezifische Hochschule zu überführen und ihr damit auch akademische Möglichkeiten zu verleihen.
Wen wundert es deshalb, dass die Gesundheitsämter nicht nur durch ihre länderspezifischen Unterschiedlichkeiten, sondern auch durch
- fehlende inhaltliche Standards und Leitlinien,
- Mangel an modernen, auf sie zugeschnittene Arbeitsmethoden,
- keine spezifische Digitalisierung,
- Fehlen einer ortsübergreifenden Qualitätssicherung oder
- – summa summarum – keine wissenschaftlichen Weiterentwicklung
imponieren.
Diese eher nüchterne Bilanz wird – besonders auffallend in Krisenzeiten wie diesen, aber auch schon häufig in der Vergangenheit – durch ein hohes Engagement der dort Beschäftigten zum Teil kompensiert, die das Selbstverständnis haben, alleinig dem Gemeinwohl und nicht in gleicher Weise anderen, parallelen ökonomischen Notwendigkeiten verpflichtet zu sein. Vieles von dieser prekären, aber auch herausragenden Rolle der Gesundheitsämter hat sich wie im Brennglas jetzt in der Corona-Epidemie offensichtlich gezeigt.
Leitbild des ÖGD bereits 2018 von GMK angenommen
Aber keiner soll sagen, dass dies nicht in den politischen Entscheidungsebenen bekannt war. Wie oft war die schlechte Lage der Gesundheitsämter Gegenstand von Gesundheitsministerkonferenzen? Zuletzt hat 2016 diese Konferenz ein Leitbild für einen modernen ÖGD in Auftrag gegeben, das 2018 vorlag und angenommen wurde unter dem Titel: „Den ÖGD stärken“. Dort hieß es unter anderem:
„Für die weitere Entwicklung des ÖGD sind drei Punkte von entscheidender Bedeutung:
- Der ÖGD braucht eine breite und nachhaltige politische Unterstützung aller Ebenen, von Kommune bis Bund. Es ist notwendig, die Personalentwicklung und Personalausstattung im ÖGD am Umfang seiner fachlichen Aufgaben auszurichten und nicht allein an finanzpolitischen oder verwaltungspolitischen Vorgaben.
- Die Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes im Zusammenspiel der Akteure im Gesundheitswesen muss entlang der genannten Kernaufgaben profiliert werden, insbesondere mit Blick auf die Stärkung der bevölkerungs- und sozialraumbezogenen Arbeit.
- Die Verbindung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit der Wissenschaft muss sowohl in der Forschung als auch in der Aus- und Weiterbildung sowie in der Praxis gestärkt werden.
Ein starker ÖGD ist eine Voraussetzung für das Funktionieren des Public Health-Systems insgesamt. Dieser Feststellung der Wissenschaftsakademien ist in einem substanziellen Entwicklungsprozess Rechnung zu tragen. Es gilt, den Öffentlichen Gesundheitsdienst zukunftsfähig zu gestalten.“
Eine klare Defizitanalyse – passiert ist wieder mal wenig: Die damaligen beschriebenen Ergebnisse des Leitbildes sind in den vergangenen zwei Jahren bundesweit nicht oder nur lokal umgesetzt worden.
Dass den Gesundheitsämtern trotzdem immer neue Aufgaben zugewiesen werden, darüber können sie sich nicht beklagen: Abhängig von der jeweiligen regionalen Entscheidung haben Gesundheitsämter über das Präventionsgesetz eine Beteiligung bei Gesundheitsförderung, Prävention in Lebenswelten und Settings übernommen. Sie sollen in einigen Ländern über Gesundheitskonferenzen die regionalen gesundheitlichen Strukturen optimieren. Jüngst erhielten sie 2018 und 2019 weitere gesetzliche Aufgaben im Prostituiertenschutzgesetz oder bei Masernschutzgesetz.
Aber erst durch die Corona-Epidemie kamen die Gesundheitsämter ganz nach oben auf der öffentlichen und politischen Agenda. Denn das Infektionsschutzgesetz weist den Gesundheitsämtern eine zentrale und konkurrenzlose Rolle bei der Infektionsbekämpfung vor Ort zu; eine Rolle, die das gesamte notwendige Spektrum umfasst: von der Prävention über die Identifikation und Ermittlung von Infektionsketten bis hin zur Nachverfolgung und Betreuung der Infizierten, von der Überwachung bis hin zu Zwangsmaßnahmen wie Berufsverboten und Quarantäneanordnung. Diese Aufgaben nahmen die Gesundheitsämter in den letzten Jahren immer schon wahr, aber meist nur punktuell und unter dem Radar der öffentlichen Beachtung. Zwar standen die Gesundheitsämter in infektiologischen Sondersituationen der Vergangenheit, wie zum Beispiel beim Beginn der HIV-Infektionen 1987, der Schweinegrippe 2009 oder dem EHEC-Ausbruch 2011 bereits kurzfristig im Fokus, aber keines dieser Ereignisse hat die Gesundheitsämter so viel und umfassend gefordert wie die jetzige Corona-Epidemie.
Corona-Krise macht Defizite des ÖGD deutlich
Organisationseinheiten innerhalb der Gesundheitsämter, die zum Teil selbst in großen Gesundheitsämtern nur mit wenigen infektiologisch fachkundigen Personen ausgestattet waren, mussten schnell auf mehr als 100 Personen aufgestockt werden – zum Teil durch eine inneramtliche Verschiebung oder auch durch die Unterstützung anderer Bereiche der Kommunalverwaltung. Auch externes Personal wie der Medizinische Dienst, Medizinstudierende und sogar die Bundeswehr halfen aus. Dass der ÖGD für seine Verhältnisse die Erwartungen im Großen und Ganzen – wenn auch nur mit überdurchschnittlichem Einsatz – erfüllte, fand starke Beachtung. Allerdings wurden die Defizite in der Kompetenz, Personalstärke, Ausstattung und Digitalisierung allzu deutlich.
In der Krise wurde eben auch klar, dass der ÖGD die einzig mögliche Instanz ist, frühzeitig „hot spots“ der Pandemie aufzuspüren, sei es in Form kritischer Wohnsituationen, sei es in Form kritischer Arbeitsumgebungen.
Auch deshalb war die Bundesregierung zum zweiten Mal in den letzten 30 Jahren im April bereit, zusätzliche Ressourcen in Form einer Investitionsunterstützung von 150.000 € pro Gesundheitsamt für eine bessere Digitalisierung auszuschütten (1987 erhielt jedes Gesundheitsamt von dem damaligen Bundesgesundheitsministerin Süssmuth je eine Personalstelle zur HIV-Prävention – damals die Grundlage der AIDS-Beratung). Noch wichtiger war es jedoch, dass sich Bund und Länder darauf verständigen, dass es einen Mindestschlüssel von fünf Stellen pro 20.000 Einwohner zur Nachverfolgung von SARS-CoV-2 Infektionen in jeder Kommune in Deutschland geben sollte. Damit wurde erstmals ein Personalstandard für alle Gesundheitsämter gesetzt.
Die Gesundheitsämter rückten somit ins Zentrum der Politik: Die Bundeskanzlerin betonte die Bedeutung des ÖGD und ihre zentrale Rolle bei der Infektionsbekämpfung. Der Bundesgesundheitsminister lud alle Gesundheitsämter zu einer Videokonferenz ein, und die Bundesärztekammer sprach sich für eine langfristige Verstärkung der Gesundheitsämter aus.
Es führte kein Weg daran vorbei, dass es schnell eine Stärkung in den Gesundheitsämtern geben musste und wohl auch geben wird; zahlreiche Länder und Kommunen haben diese bereits eingeleitet. Durch das Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket vom 6. Juni 2020 ist der Bund zusätzlich bereit, vier Mrd. € für die rund 370 Gesundheitsämter einzustellen, erforderliche Stellen in den Gesundheitsämtern vor Ort für die kommenden fünf Jahre zu finanzieren, soweit die Anstellung bis Ende 2021 erfolgt ist. Das sind durchschnittlich immerhin rund 2,2 Mio. € pro Jahr pro Amt, eine Summe, die für rund 30 Stellen ausreichen würde. Dies ist dringend geboten, zumal befürchtet wird, dass eine zweite Welle im Herbst dieses Jahres die Gesundheitsämter wieder fordern könnte.
Bund hat keine Durchsetzungskraft bei Tarifen
Genau so bedeutend, wie die kurz- und mittelfristigen Finanzierungszusagen für technische Ausstattung und Personal, sind die Aussagen im Konjunkturpaket zu strukturellen Veränderungen: so die Entwicklung von Personalanhaltzahlen für alle Aufgaben des Gesundheitsamtes sowie die tarifliche Angleichung der Gehälter zwischen dem öffentlichen Gesundheitsdienst und den Krankenhäusern. Schleierhaft bleibt jedoch, wie der Bund diese Forderungen umsetzen will, alldieweil er für beide Fragen keinerlei Kompetenz hat. Für die Frage der Personalanhaltzahlen sind Kommunen und bestenfalls Länder zuständig, die wegen der länderspezifischen Ausprägung der Gesundheitsämter sich kaum auf einheitliche Zahlen werden einigen können; die tarifliche Frage wird zwischen den Tarifparteien und den Gewerkschaften zu verhandeln sein. Hier hat der Bund keine Durchsetzungskraft, an diesen Tarifverhandlungen werden die Gesundheitsressorts auf der Seite der öffentlichen Arbeitgeber nicht beteiligt. Vielleicht ist das der Grund, warum in dem begleitenden Beschluss der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin vom 17. Juni 2020 zum Konjunkturpaket diese Forderung im Kapitel zum ÖGD konsequenterweise auch nicht mehr auftauchen.
„Pakt für den ÖGD“ beabsichtigt
Bund und Länder wollen sich in einem „Pakt für den ÖGD“ verständigen, der durch die Gesundheitsministerkonferenz bis zum 30.8. erarbeitet werden soll. Die vorbereitenden Schritte sind über die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG), aber auch auf Bund-Länder-Ebene bis auf Ministerebene in Schaltkonferenzen eingeleitet. Beteiligt sind neben den Ländern und dem Bund u.a. auch die kommunalen Spitzenverbände und der Berufsverband. Ziel ist es, vor diesem Zeitpunkt Ende August einen gemeinsamen GMK-Beschluss zu erreichen, der den Konsens mit dem Bund manifestiert. Der Abschluss des Prozesses soll im September, so die momentanen Vorstellungen, ein Online-Kongress unter Beteiligung der Bundeskanzlerin bilden.
Es bleibt zu hoffen, dass durch das „Winken mit dem Schinken“ in Form von Bundesmitteln auch die Länder bewegt werden, sich für den Aufbau der Gesundheitsämter tatkräftig und finanziell einzusetzen. Bisher haben die Länder – wie dargestellt – sich nicht zu einer einheitlichen Stärkung der Gesundheitsämter je durchgerungen, sondern vielmehr ihre Unterschiedlichkeit betont. Grund mag sein, dass bis auf einige Ausnahmen, wie den Stadtstaaten, nicht die Länder, sondern eben die Kommunen die Entscheider über die Personalstärke in den Gesundheitsämtern sind. Die Kommunen werden mit Argusaugen auf dem Konnexitätsprinzip bestehen, das da lautet: Wer bestellt, der bezahlt auch. Allzu oft sind wohlmeinende Reformen für den ÖGD an diesem Prinzip gescheitert, wenn sinnvolle, aber personaltechnisch fordernde Maßnahmen in den Gesundheitsdienstgesetzen der Länder zwar angedacht, aber aufgrund des kommunalpolitischen Finanzierungs-Vetos nicht umgesetzt werden konnten.
Und ganz wichtig: Das Bundesprogramm ist auf fünf Jahre befristet. Die Länder und Kommunen möchten nicht einen ungedeckten Scheck auf die Zukunft ausstellen. Personalanhaltzahlen, die sich insbesondere in Kommunen, die eine wachsende Bevölkerung aufweisen, gerade an dieser Zahl orientieren, wären notwendig, um den einmal erreichte Aufbau der Gesundheitsämter nicht wieder schleichend abzubauen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Kraft der Krise groß genug ist, dass der Ernst der Lage zu Taten führt.
Mit den zugesagten vier Mrd. € aus dem Konjunkturpaket des Bundes besteht also Hoffnung, dass es diesmal gelingt, das arme Stiefkind ÖGD zu einem etwas vollwertigeren Mitglied in der Familie der Gesundheitsinstitutionen aufzubauen.
Schade wäre es, wenn wieder nur der übliche Weg der Bund-Länder-Kompromissfindung als Minimalkonsenses eingeschlagen wird: Der Bund bietet das Geld und die Stellen an, die Länder können – müssen aber nicht – das Geld abrufen, wenn sie bereit sind, die Folgefinanzierung zu übernehmen: Damit die notwendige Stärkung des ÖGDs abhängig von der Kassenlage erfolgen wird. Damit wird der ÖGD nicht systematisch, sondern nur punktuell gestärkt.
Allerdings wäre es viel zu kurzsichtig, die Stärkung des ÖGDs allein an den Notwendigkeiten der jetzigen Corona Epidemie auszurichten. Denn auch unabhängig von SARS-CoV-2 sterben in Deutschland jährlich Zehntausende an Infektionskrankheiten, sei es in den jährlichen Grippewellen oder durch nosokomiale Infektionen meist im Krankenhaus. Und auch für diese Infektionen haben die Gesundheitsämter Verantwortung. Viele diese Infektionen sind hinreichend durch präventive Maßnahmen zu verhindern. Bei den nosokomialen Infektionen zeigen uns die Niederlande und Dänemark, dass die Infektionsrate bis zu 80 % gesenkt werden kann, und die Influenza ist bekanntlich durch Impfungen zu verhindern.
Es bedarf also dringend eines besser ausgestatteten, stark präventiv ausgerichteten ÖGD in Deutschland, der Prävention von Infektionskrankheiten ex ante umsetzt. Auf die Bedeutung spezifischer Präventionsansätze gerade bei der Verhinderung von Herdausbrüchen unter den Bedingungen sozialer, gesellschaftlicher, ökonomischer und architektonischer Restriktion sei verwiesen. Einer Gesellschaft, die soeben gelernt hat, dass Infektionen schwerste Folgen für das persönliche und gesellschaftliche Leben haben können, sollte Prävention eine deutlich stärkere Rolle im Gesundheitswesen wichtig sein.
Gesundheitsämter als zentrale Instanz der Prävention stärken
Dabei endet aber Prävention nicht nur bei infektiologischen Fragestellungen, sondern umfasst mit der gleichen Bedeutung für die Gesundheit und das gesellschaftliche Wohlergehen auch präventives Handeln für eine gesunde Lebensweise, Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz der Bürger. Mehr Investitionen in Prävention machen sich auch in harten Fakten bemerkbar – so bei den abnehmenden vermeidbaren Todesfällen. Bisher werden jährlich nur rund 3,5 % der Ausgaben für Gesundheit für Prävention und den ÖGD aufgewendet.
Es geht bei der Prävention auch um Gesundheitsförderung, Compliance, Gesundheitskompetenz einer Bevölkerung, die immer älter und immer mehr mit chronischen Krankheiten belastet wird. Prävention bedeutet Verhältnis- und Verhaltensänderung vor Ort. Man ändert Menschen nicht primär mit bundesweiten Kampagnen. Vielmehr muss man die Bevölkerung dort erreichen, wo sie lebt, arbeitet oder sich anderweitig in einer gewohnten Umgebung (Setting) aufhält. Wir erlebten dies gerade bei Corona, wo es ganz besonders darum ging, bestimmte Settings vor Ort besonders in den Fokus zu nehmen und hier nicht nur ex-post, sondern auch ex ante tätig zu werden (zum Beispiel in den Langzeitpflegeeinrichtungen). Diese Einbindung vor Ort, die Kenntnisse von Settings und lokalen Netzwerken ist die Stärke des ÖGD. Insofern ist es notwendig, die Stärkung des Gesundheitsamtes auf das gesamte Feld der Prävention auszuweiten und es keinesfalls nur auf eine seuchenprophylaktische Prävention zu beschränken. Es ist das Gebot der Stunde, vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Corona-Epidemie der Gesundheitsämter als zentrale Instanz für Prävention zu stärken. Wer sollte es denn sonst übernehmen, dieser Zukunftsaufgabe eine starke und bevölkerungsbezogene Stimme zu geben?
Fazit
- Es bedarf einer besseren Ausstattung der Gesundheitsämter. Die Unterstützung des Bundes und ein möglicher Pakt für den ÖGD zwischen Bund, Ländern und Kommunen wären ein starkes Signal. Aber auch Länder haben mit eigenen Mitteln diese Stellen in den kommunalen Gesundheitsämtern abzusichern. Dies könnte und sollte auch mit einer stärkeren Vereinheitlichung bei der Aufgabenausübung der Gesundheitsämter, zumindest auf der jeweiligen Landesebene, verbunden werden.
- Um diese zusätzlichen Stellen auch fachgerecht besetzen zu können, muss die strukturelle tarifliche Unterschiedlichkeit z.B. zwischen der ärztlichen Vergütung im Krankenhaus und im ÖGD fallen.
- Im geplanten „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ muss es auch eine Einigung auf eine einheitliche digitale Plattform zu Übermittlung infektionsrelevanter Daten und auf eine grundlegende Digitalisierung aller Gesundheitsämter geben – mit klaren zeitlichen Vorgaben. Dabei geht es in erster Hinsicht um die bereits in der Einführung befindliche infektionsbezogene Software zwischen RKI Laboren und Gesundheitsämtern, aber auch um eine über die infektionsepidemiologischen Belange hinausgehende Kompatibilität.
- Der ÖGD braucht wissenschaftliche Unterstützung, die Leitlinien und Standards für die zahlreichen Aufgabenfelder des ÖGDs entwickelt und zum Aufbau einer internen und externen Qualitätssicherung führen kann. Eine wissenschaftliche Durchdringung und Weiterentwicklung der Aufgaben des ÖGDs umfasst auch einheitliche Personalanhaltzahlen für die einzelnen Aufgabenfelder des ÖGD und deren verbindliche Umsetzung, um die Kommunen von der Versuchung zu befreien, ihre Gesundheitsämter in ruhigeren Zeiten wieder personell zu reduzieren. Die Akademien für öffentliches Gesundheitswesen bieten sich als Nucleus und fachkundigste Institutionen für eine solche hochschulisch-wissenschaftliche Durchdringung an, soweit nicht an anderer Stelle akademische Strukturen entwickelt werden.
- Der ÖGD ist gelebte Prävention. Wir brauchen einen ÖGD, in dem Prävention wahrnehmbar umgesetzt werden kann. Dies beginnt bei der seuchenhygienischen Prävention, aber ist notwendiger Weise auch auf eine breite bevölkerungsbezogene Prävention auszudehnen, die der ÖGD anwaltlich in unserer Gesellschaft als Zukunftsaufgabe für ein gesünderen Leben und Überleben übernehmen soll.
Dieser Kommentar ist eine Langversion eines Kapitels aus: „Thesenpapiers 3.0 – Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 – eine erste Bilanz – Strategie: Stabile Kontrolle des Infektionsgeschehens, Prävention: Risikosituationen erkennen, Bürgerrechte: Rückkehr zur Normalität“ der Autoren: M. Schrappe, H. François-Kettner, M. Gruhl, D. Hart, F. Knieps, H. Pfaff, K. Püschel, G. Glaeske, Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 28. Juni 2020.
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