Patentfreie Arzneimittel: Die Aussichten ändern sich – von unfreundlich auf nebulös

Sebastian Hofmann, Redakteur Observer Datenbank, Observer Gesundheit

Patentfreie Arzneimittel stehen selten im Fokus der Öffentlichkeit. Der unverzichtbare Beitrag zur medizinischen Versorgung wird als selbstverständlich erachtet; gelegentliche Lieferengpässe ändern daran wenig. Der Politik wurde in der Pandemie jedoch schonungslos vor Augen geführt: Wir sind in Deutschland vollkommen abhängig von Wirkstoffen, die in Asien produziert werden. Im Ernstfall ist die zentrale Säule der Versorgung mit Arzneimitteln in Gefahr. Grund genug für einen Schnellschuss der neuen Bundesregierung; der Koalitionsvertrag nennt hehre Ziele zur Sicherheit der Versorgung. Anlässlich dieses gesundheitspolitischen Neustartes bietet es sich an, die Pläne der Ampelkoalition ins Verhältnis zu setzen zu den Entwicklungen der letzten Jahre. Der Fokus richtet sich dabei auf die Rahmenbedingungen für die Industrie: Wohin könnte die Reise gehen? 

Ein Großteil der patentfreien Arzneimittel wird inzwischen über Wirkstoff-Ausschreibungen der Krankenkassen (Rabattverträge) beschafft. Die Herstellerverbände fordern seit vielen Jahren, die gesetzlichen Vorgaben für Rabattverträge zu ändern. Das Anliegen: Exklusiv-Vergaben an einen Hersteller sollen verboten werden. Stattdessen sollen immer mehrere Anbieter zum Zuge kommen („Mehrfachvergabe“). Das Argument: Mehrere Vertragspartner sorgen für ein breiteres Angebot in Deutschland und damit für Liefersicherheit. Die Logik: Sind mehrere Anbieter im Spiel, bestehen alternative Bezugsquellen bei Engpässen eines Anbieters.

Dass dieses Anliegen auch in der letzten Wahlperiode unerfüllt blieb, hat maßgeblich Jens Spahn zu verantworten. Als Gesundheitspolitiker war Spahn überzeugt, dass solche Vorgaben für Wirkstoff-Ausschreibungen nicht zu mehr Sicherheit in der Versorgung führen. Als Gesundheitsminister sorgte er dafür, dass entsprechende Bestrebungen erfolglos blieben. Die Interessenvertretung der Industrie schien zunächst höchst erfolgreich: Im Jahr 2019 erschienen in beiden Regierungsfraktionen (Union, SPD) politische Papiere, die eine Änderung des SGB V bei Rabattverträgen nahelegten. In dem Papier der Union hieß es sogar: „Rabattverträge sollten nur ausgeschrieben werden, wenn mindestens drei Anbieter und zwei Wirkstoffhersteller vorhanden sind. Um die Vielfalt und damit eine Unabhängigkeit weiterhin zu gewährleisten, sollte die Vergabe grundsätzlich auf mindestens zwei unterschiedliche Anbieter verteilt werden“. Das war eine klare Ansage.

Das BMG griff diese Forderung der Union jedoch nicht auf. Zur Bekämpfung von Lieferengpässen legte das Ministerium  stattdessen einen Änderungsantrag zum Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG) vor, der sich weitgehend auf Regelungen für die Zulassungsbehörde (BfArM) beschränkte. Zu Rabattverträgen wurde im SGB V lediglich der Austausch in der Apotheke etwas erleichtert. Um dies nicht allzu sehr als Missachtung des politischen Willens erscheinen zu lassen, begleitete der damalige Gesundheitsminister Spahn das Vorgehen seines Hauses mit einer Erklärung: Lieferengpässe seien eine europäische Angelegenheit, die er selbst im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft – und damit ganz weit weg vom SGB V – anzugehen gedenke. Die Abgeordneten fügten sich; Europa prüft noch.

 

Die Ampel ändert vorerst nichts

Auch nach der Bundestagswahl ist für die Industrie keine wirkliche Änderung der Verhältnisse in Sicht. Im Koalitionsvertrag der Ampel heißt es:

Die Engpässe in der Versorgung bekämpfen wir entschieden. Wir ergreifen Maßnahmen, um die Herstellung von Arzneimitteln inklusive der Wirk- und Hilfsstoffproduktion nach Deutschland oder in die EU zurück zu verlagern. Dazu gehören der Abbau von Bürokratie, die Prüfung von Investitionsbezuschussungen für Produktionsstätten, sowie die Prüfung von Zuschüssen zur Gewährung der Versorgungssicherheit.“

Demnach will die Koalition Engpässe in der Versorgung bekämpfen und dafür den Produktionsstandort Deutschland stärken. Die sozialrechtlichen Vorgaben für Rabattverträge sind dabei nicht erwähnt, nicht einmal als unverbindlicher Prüfauftrag. Die Industrie mag das – auch angesichts der langen Vorgeschichte – als „dröhnendes Schweigen“ empfinden. Die unausgesprochene Botschaft ist klar: Die Koalitionäre sind sich einig, dass sich bei Rabattverträgen nichts Wesentliches ändern soll.

Vom Gesetzgeber kann die Industrie (zu Rabattverträgen) somit wenig erwarten – mit einer Ausnahme: Sollten die Krankenkassen sich bestimmten Forderungen der Industrie anschließen, wäre die politische Debatte wieder offen. Die Krankenkassen halten jedoch (überwiegend) an dem bestehenden Rechtsrahmen im SGB V fest und haben dafür solide Argumente:

  • Exklusivverträge bieten dem Vertragspartner berechenbare Absatzmengen. Dies ermöglicht dem Hersteller planbare und damit sichere Lieferungen (exogene Faktoren ausgenommen).
  • Krankenkassen verzichten bei bestimmten Wirkstoffen auf Exklusivverträge und decken den Bedarf über Mehrfachvergaben oder Open-house-Ausschreibungen.
  • Die Rationale „mehrere Vertragspartner bringen mehr Liefersicherheit“ bietet keine Lösung für das Problem, dass sich die Herstellung der Wirkstoffe weltweit auf sehr wenige Zulieferer (meist in Asien) konzentriert. Fällt der weltweit einzige Zulieferer aus, können auch mehrere Hersteller nicht produzieren.
  • Daseinsvorsorge und Standortpolitik sind staatliche Aufgaben; die GKV ist nicht zuständig.

 

AOK als „game changer“?

Angesichts dieser (komfortablen) Position war es ein Donnerhall, als die AOK im Jahr 2020 eine Wirkstoff-Ausschreibung erweiterte um neue Kriterien: Die Bieter sollten eine umweltfreundliche Produktion und robuste Lieferketten belegen. Die Kassenart, die als erste das System der Wirkstoff-Ausschreibungen perfektioniert hatte, schien nun der Industrie entgegenkommen zu wollen. Nicht bei deren Hauptforderung, Exklusivverträge abzuschaffen. Sehr wohl aber bei dem omnipräsenten Anliegen der Hersteller, es dürfe nicht immer nur der Allerbilligste zum Zuge kommen.

Dieser proaktive Vorstoß der AOK lief allerdings zunächst ins Leere. Die Ausschreibung wurde von indischen Herstellern (vergaberechtlich) beklagt, und die AOK verlor vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Nach Meinung von Experten besteht hier kein Problem mit dem Vergaberecht der EU; im Wege war eine weltweite Rahmenvereinbarung (Government Procurement Agreement). Es wäre möglich, dass dies nur eine Kinderkrankheit von erweiterten Ausschreibungen ist; in der Bewältigung solcher Probleme hat die AOK viel Erfahrung. Trotzdem entsteht hier politisch eine neue Gemengelage. Gelingt es der AOK nicht, diese Ausschreibung vergaberechtlich korrekt zu gestalten, wäre die Politik mit dem Problem konfrontiert: Eine Krankenkasse, die Umweltschutz und Liefersicherheit freiwillig in ihren Ausschreibungen berücksichtigen will, wird in Deutschland durch die Rechtslage ausgebremst. Diese Erkenntnis könnte die Debatte um Rabattverträge wieder in Schwung bringen – mit einer Besonderheit: Die Industrie müsste sich dann entscheiden, ob sie Seit an Seit mit der AOK in die Schlacht zieht für zusätzliche Kriterien neben dem Preis – dann aber ohne das ersehnte Verbot von Exklusivverträgen.

 

Zuschüsse für Investitionen: Prüfauftrag für ein Abenteuer

Dass der Koalitionsvertrag zusätzlich „Investitionsbezuschussungen für Produktionsstätten“ in Aussicht stellt, kommt reichlich überraschend. Vor der Corona-Pandemie sind staatliche Investitionszuschüsse an private Unternehmen auf Krankenhäuser beschränkt gewesen; deren Investitionen sollen aus Haushaltsmitteln der Bundesländer finanziert werden.

Bislang kam niemand auf die Idee, die Bundesrepublik Deutschland sollte gemeinsam mit pharmazeutischen Unternehmern private Produktionsanlagen für Arzneimittel bauen. In der Pandemie hat sich jedoch vieles geändert, u.a. wurde der deutsche Staat im (Angebots-) Markt für Impfstoffe zum eigenständigen Akteur, der sich mit 300 Mio. Euro an einem Unternehmen beteiligte. Hinzu kam ein erfolgreicher Vorstoß in Österreich, wo sich der Staat mit 50 Mio. Euro an einer Werksmodernisierung beteiligte und damit das Abwandern der Penicillin-Produktion vom alpenländischen Kundl ins ferne Asien verhindern konnte. Angesichts dieser Entwicklungen wirkt die deutsche Gesundheitspolitik beflügelt und prüft ihre Rolle als „Investorin in Liefersicherheit“.

Die Koalitionäre scheinen sich ihrer Sache jedoch nicht wirklich sicher zu sein; für entsprechende Zuschüsse findet sich nur ein unverbindlicher Prüfauftrag im Koalitionsvertrag. Das signalisiert eine eher vage Absicht, was nicht verwundert. Hier drängen sich Fragen auf:

  • Wer soll das entscheiden? Gibt es ein neues Amt für „Pharma-Investitionen“, das für den Staat Investitionsbedarf sucht, prüft, priorisiert, die Konditionen mit den Unternehmen verhandelt und letztlich über Steuermittel in Millionenhöhe entscheidet?
  • Wer soll die Millionen bekommen? Das Ziel, „die Herstellung von Arzneimitteln inklusive der Wirk- und Hilfsstoffproduktion nach Deutschland oder in die EU zurück zu verlagern“, ist für sich genommen endlos. Um daraus Politik zu machen, braucht es eine inhaltlich schlüssige und rechtsfeste Eingrenzung. Eine Eingrenzung nach Wirkstoffen ist noch relativ einfach: Das BfArM führt eine Liste mit besonders gefährdeten („versorgungskritischen“) Wirkstoffen, die über 200 Positionen umfasst. Damit könnte man anfangen. Für die konkrete Priorisierung innerhalb dieser Liste muss aber klar sein: Nach welchen Kriterien wird eine Option als vorteilhaft gewertet? Die Entscheidung der Republik Österreich für die Investition in Kundl kann hier nicht als Richtschnur dienen. Hier gab es keine Alternativen; die letzte Produktionsstätte für Antibiotika in Europa stand auf dem Spiel. Zukünftige Investitionsentscheidungen der Bundesrepublik Deutschland werden dagegen im Konzert der tausend Möglichkeiten stehen. Konzepte? Fehlanzeige.
  • Wer soll das bezahlen? Die strukturellen Defizite in der Kranken- und Rentenversicherung sind riesig. Die beiden zuständigen SPD-Minister Karl Lauterbach und Hubertus Heil werden größte Mühe haben, FDP-Finanzminister Christian Lindner zu überzeugen, zusätzliche Milliarden für die Sozialversicherung in den Bundeshaushalt einzustellen. Klimapolitik und Schuldenbremse lassen zumindest aus heutiger Sicht wenig finanziellen Spielraum für die Sozialversicherung. Es scheint daher fraglich, ob auch noch Mittel für Investitionen in Arzneimittel-Produktionsanlagen bereitgestellt werden können – wohlgemerkt für ein Ziel, das eher abenteuerlich erscheint: die Drift der Arzneimittel-Produktion nach Asien umzudrehen.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Ampelkoalition bei ihrer avisierten „Prüfung“ zum gleichen Ergebnis kommt wie ehemals Jens Spahn: Lieferengpässe können – weil schwierig und weltweit – nur auf der europäischen Ebene wirksam angegangen werden. Das würde bedeuten: Der deutsche Gesetzgeber kann das Problem nicht lösen und braucht daher nichts zu unternehmen. Oder die Regierung reicht den schwarzen Peter gleich weiter an die Herstellerverbände mit der Aufforderung, man möge selbst umsetzungsreife Konzepte erarbeiten und diese in den Pharma-Dialog einbringen. Die Folge einer solchen Delegation politischer Konzeptarbeit wäre: Wenn die offenen Fragen von der Industrie nicht befriedigend gelöst werden können, dann stehen die Schuldigen schon vorher fest. Angesichts dieser Ausgangslage keimen erste Zweifel auf an der Ernsthaftigkeit der Ampel-Pläne.

 

Schuldzuweisung oder Rabatt-Reform

Der zweite im Koalitionsvertrag genannte Prüfauftrag perfektioniert das Prinzip „Problem delegieren“. Geprüft werden sollen „Zuschüsse zur Gewährung der Versorgungssicherheit“. Die Rationale: All die vielfältigen Probleme, die im Einzelfall zu einem Engpass führen können, soll die Industrie selbst lösen; als Belohnung gibt es einen Zuschuss. Diese freundlich klingende Idee gleicht bei genauerer Betrachtung einem Frontalangriff. Schließlich wird hier unterstellt, die Industrie könne Engpässe verhindern, wenn sie das nur wollte. Das impliziert eine Schuldzuweisung für die Engpässe der letzten 15 Jahre. Dabei ist die Liste an möglichen Ursachen für Lieferengpässe lang: Produktionsanlagen nehmen Schaden durch Wetter und Unfälle, Rohstoffe sind knapp, oder die weltweiten Lieferwege werden blockiert. Oft sind es auch die strengen Qualitätsvorgaben, die zu Verzögerungen führen. Bei kleinsten Verunreinigungen muss die Produktion gestoppt werden – bis die Ursache gefunden und nachweisbar behoben ist. Die Aufklärungsarbeit der Herstellerverbände zu dieser vielfältigen Problematik scheint die Koalition zu ignorieren. Das dürfte wehtun.

Oder: Die Ampel erwägt, die Rabattverträge durch Zuschüsse zu ergänzen. Zuschüsse würden gezahlt für Kriterien, die in der Ausschreibung selbst nicht berücksichtigt sind: Maßnahmen, die der Liefersicherheit dienen. Das wäre insofern interessant, als der Gesetzgeber schon vor Jahren versucht hat, das Problem der Lieferengpässe den Krankenkassen aufzubürden. Dazu wurde mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) 2019 der Paragraf 130 a Abs. 8 SGB V ergänzt um eine Verpflichtung: „In den Vereinbarungen nach Satz 1 sind die Vielfalt der Anbieter und die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung der Versicherten zu berücksichtigen.“ Da eine (ausschreibende) Krankenkasse aber genauso wenig wie ein (bietender) Hersteller alleine in der Lage ist, das Problem weltweiter Lieferengpässe zu lösen, war diese „Verpflichtung“ des Gesetzgebers von Anfang an eine lupenreine Nullnummer.

Sollen nun also Zuschüsse als Triebfeder für Lösungen dienen, braucht es dazu Lösungskonzepte. Es gibt viele denkbare Varianten, das Verhalten der Anbieter anzureizen. Denkbar wäre z.B. ein zehnprozentiger Zuschuss für Hersteller, die mindestens zwei Wirkstofflieferanten unter Vertrag nehmen, und zwanzig Prozent, wenn einer davon in Europa produziert. Für die Krankenkassen wäre das billig zu haben. Ein solcher Zuschuss würde sofort in die Angebote eingepreist, und die Zuschläge würden weiterhin an die Anbieter gehen, die effizient produzieren. Die GKV hätte zusätzlich nur die Kosten zu decken, die für neuen Vorgaben anfallen – auf dem betriebswirtschaftlichen Minimum. Dafür sorgt der Preiswettbewerb auch unter erweiterten Vorgaben.

Solche Zuschüsse könnten auch genutzt werden, um die anderen Preisregime für Generika (Festbeträge, Preismoratorium) zu ergänzen – immer verbunden mit der Auflage, Versorgungssicherheit zu gewähren. Hier wäre es allerdings – im Gegensatz zu Rabattverträgen – nicht in jedem Fall garantiert, dass die Zusatzkosten auf das betriebswirtschaftlich mögliche Minimum gedrückt werden. Bei Festbeträgen und Altoriginalen unter Preismoratorium wäre es daher durchaus relevant, wie hoch die Zuschüsse angesetzt werden. Unternehmerische Konzepte mit Preisen für die Leistung „Versorgungssicherheit gewähren“ dürften noch unbekannt sein. Letztlich können Unternehmer mit so unbestimmten Begriffen wenig anfangen, v.a. wenn die Lastenhefte zu Nachweisen und Sanktionen dazu sehr bestimmt ausfallen. Es könnte daher durchaus sein, dass die Industrie dankend ablehnt.

 

Biosimilars: Startschuss für die zweite Flucht aus Deutschland

Bereits im Jahr 2019 hat der Gesetzgeber festgelegt: 2022 fällt der Startschuss zu einer neuen Marktordnung für biologisch erzeugte Arzneimittel (Biologika, Biosimilars). Bislang ist der Austausch dieser Arzneimittel dem verordnenden Arzt vorbehalten, weil bei der Therapie mit den (immer noch) neuartigen Präparaten jede Umstellung eng begleitet werden muss. Mit dem GSAV wurde im SGB V verankert, dass biologisch erzeugte Arzneimittel genauso wie herkömmliche chemische Produkte in der Apotheke ausgetauscht werden können. Im § 129 Abs. 1a SGB V heißt es hierzu: „Spätestens bis zum 16. August 2022 gibt der Gemeinsame Bundesausschuss (…) Hinweise zur Austauschbarkeit von biologischen Referenzarzneimitteln durch Apotheken“.

Die medizinischen Bedenken der Ärzteschaft wurden damit an den G-BA weitergereicht. Es ist zu erwarten, dass der G-BA in seinen Hinweisen den Austausch als Normalfall deklariert und ein Austauschverbot nur für wenige Ausnahmen vorsieht. Die Stimmen der GKV-Bank im G-BA und der beiden Unparteiischen Josef Hecken und Monika Lelgemann dürften für die notwendige Mehrheit sorgen. Die medizinische (Grundsatz-) Frage ist dann entschieden, und Ärzte, die den Austausch in ihrer Verordnung ausschließen („aut-idem-Kreuz“), brauchen dafür bei einer Wirtschaftlichkeitsprüfung des Medizinischen Dienstes gute Gründe.

Damit ist der Weg vorgezeichnet: Biologika/Biosimilars werden künftig über Ausschreibungen der Krankenkassen beschafft. Die „Hinweise“ des G-BA werden dafür Tür und Tor öffnen; wo mehrere Alternativen bestehen, wird ausgeschrieben. Den Kassen bleibt faktisch keine andere Möglichkeit. Bei seiner Entscheidung berücksichtigt der G-BA natürlich nicht, wie sich dies auf das Angebot, die Versorgungssicherheit und den Produktions-Standort Deutschland auswirkt. Dafür ist er schlicht nicht zuständig. Seine sozialrechtliche Aufgabe ist es, die gewünschte Produkt-Qualität zum niedrigsten Preis zu ermöglichen (Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V). Die Auswirkungen auf den Markt dürfen jedoch erheblich sein. Der extreme Preiswettbewerb in europaweiten Ausschreibungen könnte bei Biosimilars dieselbe Entwicklung anstoßen, wie seinerzeit bei chemisch-synthetischen Produkten. Deutschland verliert an Attraktivität als Absatzmarkt und damit auch als Produktionsstandort.

Ärzte, Hersteller und Patientenvertreter hatten im Jahr 2019 gegen den politisch gewollten Austausch von Biosimilars in der Apotheke protestiert – mit unterschiedlichen Argumenten. Diesem breiten Protest wurde damals der Wind aus den Segeln genommen mit einem Aufschub bis 2022. Das politische Kalkül ging auf, und über die Jahre ist das Thema in Vergessenheit geraten. Unter neuen politischen Vorzeichen kommt es nun zu der absurden Situation: Die Bundesregierung setzt es sich einerseits zum Ziel, „die Herstellung von Arzneimitteln inklusive der Wirk- und Hilfsstoffproduktion nach Deutschland oder in die EU zurück zu verlagern.“ Und andererseits will sie offensichtlich abwarten, wie der noch junge Markt für Biosimilars auf den Verdrängungswettbewerb von Ausschreibungen reagiert. Dabei dürfte allen klar sein: Ein Markt, der über ständig laufende Ausschreibungen stets das weltweit billigste Angebot nachfragt, ist als Absatzmarkt wenig attraktiv. Macht es also Sinn, sich im weltweiten Ranking der Absatzmärkte nach hinten zu katapultieren, um dann mit neuen Zuschüssen das drohende Abwandern der Produktion zu verhindern?

Fraglich ist zusätzlich, ob die Versorgung mit Biosimilars unter Ausschreibungen genauso gut funktionieren wird, wie die Versorgung mit chemischen Generika. Die Ausgangslage ist eine andere. Für die GKV verlässt weit über die Hälfte der chemischen Arzneimittel-Packungen das Werk für bis zu 99 Cent. Nur wenige Hersteller sind so gut aufgestellt, dass sie auf diesem Preisniveau auch gutes Geld verdienen können. Viele Unternehmen nutzen GKV-Ausschreibungen deshalb vor allem zur Auslastung freier Produktionskapazitäten. Das Kalkül: Besser Rabattvertrags-Preise als gar keine Einnahmen. Dieses in allen Branchen übliche „Geschäftsmodell Resterampe“ funktioniert dabei erstaunlich gut; die vielfältigen Ausschreibungen der Krankenkassen ermöglichen es offensichtlich, freie Kapazitäten in aller Welt so zu koordinieren, dass der Bedarf deutscher GKV-Patienten nahezu lückenlos gedeckt wird. Das ist eine enorme und hocheffiziente Beschaffungsleistung.

Ob sich die aufwändige biologisch-technische Produktion von Biosimilars jedoch auch mit „übrig gebliebenen“ Produktionskapazitäten bewerkstelligen lässt, erscheint zumindest fraglich. Die Zeit ist knapp. Bis August entscheidet der G-BA über den Austausch in der Apotheke. Dann startet ein neuer Trend – vermutlich gegen die hehren Absichten der Koalitionäre zu mehr Liefersicherheit am Standort Deutschland.

 

Die Lage in Kürze

In der Gesamtschau der sich zeitlich überschneidenden Entwicklungen ergibt sich kein klarer Trend. Es gibt neue Ideen ohne Konzepte; der Koalitionsvertrag wirft v.a. Fragen auf. Die Lage im Überblick:

  • Ausgangslage

Die Versorgung mit patentfreien Arzneimitteln ist hervorragend. Produktion, Beschaffung und Distribution sind hocheffizient. Das System ist – weil effizient – „auf Kante genäht“. Vermeidbare Kosten werden durch den Preiswettbewerb der Vergütungsregime (Ausschreibungen; Festbeträge) abgeschmolzen. Reserven bestehen keine. Versorgungssicherheit ist im System nicht vorgesehen; es gibt keinen Sicherstellungsauftrag. Die Verpflichtung der Krankenkassen im SGB V, „die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung der Versicherten zu berücksichtigen“ ist wirkungslos; es fehlt an sozialrechtlich konsentierten Methoden.

  • Öffentlichkeit und Politik

Gelegentliche Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind seit vielen Jahren fester Bestandteil der Berichterstattung in den Medien; eine Skandalisierung bleibt aus. Dieses Grundrauschen hat sich in der Pandemie verstärkt zu der Erkenntnis: Wir sind von asiatischen Ländern, v.a. China, abhängig. Die Ampelkoalition nimmt dies auf und will die Produktion aller notwendigen Bestandteile nach Deutschland zurückholen. Für dieses abenteuerliche Ziel will sie prüfen, ob Zuschüsse in Investitionen bzw. für die Gewährung von Versorgungssicherheit möglich sind. Umsetzbare Konzepte sind hierzu keine bekannt; die Aussichten auf eine erfolgreiche Prüfung sind eher gering. Allein zur Gesichtswahrung der Parteien muss jedoch irgendetwas passieren.

  • Industrie und Krankenkassen

Die Industrie hatte bislang auf eine Reform der Rabattverträge gesetzt. Die bestehenden Vorgaben für Ausschreibungen im SGB V haben jedoch ein großes Beharrungsvermögen. Die neuen Ideen der Ampelkoalition scheinen für Unternehmer wenig attraktiv, weil sie ein Geschäftsmodell auf der Basis staatlicher Interventionen („Zuschüsse“) vorsehen. Die Krankenkassen verteidigen den Status Quo; die Versorgung mit Generika ist der einzige Leistungsbereich mit perfekter Kostendämpfung. Das Vergaberecht verhindert einen Vorstoß der AOK zu Ausschreibungen mit neuen Kriterien. Die Debatte ist – politisch und rechtlich – festgefahren.

  • Sonderfall Biosimilars

Mit der Entscheidung des G-BA zum Austausch von Biosimilars in der Apotheke steht der Startschuss für die Umwälzung dieses jungen Marktes unmittelbar bevor. Ausschreibungen der Krankenkassen sind dann unvermeidlich. Die jahrzehntelange Erfahrung aus dem Markt für chemische Arzneimittel lautet: Preise beeinflussen Entscheidungen für Standorte; bei starkem Preiswettbewerb driftet die Produktion nach Asien. Wiederholt sich dies im Markt für Biosimilars, stünde das in direktem Konflikt zur Absicht der Koalition, die Produktion nach Deutschland zurückzuholen. Die Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit sind unklar.

 

Fazit

In der Gesamtschau wirkt das System „Patentfreie Arzneimittel in Deutschland“ nicht wirklich stabil, weder politisch noch operativ. Der Koalitionsvertrag bietet als Lösung die Absicht, einen völlig neuen Politikansatz (Zuschüsse in Investitionen und Versorgungssicherheit) zu prüfen. Konzepte gibt es keine. Die Industrie sieht sich einer neuen Situation gegenüber. Bisher erhielt sie auf ihr zentrales Anliegen (neue Rahmenbedingungen für Generika) meist unfreundliche Antworten. Die Ampel schlägt nun ein neues Kapitel auf. Die Absichten klingen recht freundlich; die Aussichten aber sind völlig nebulös.

 

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