Ökosystem Gesundheit 2.€

Wer finanziert die zweite Runde der Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft?

Dr. Michael Sander, Chief Business Development Officer Healthcare & Life Sciences, msg systems ag

„Wer zahlt bestimmt.“ In der ersten Runde der Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft hat in dieser Legislaturperiode sehr wirkungsvoll die Politik bestimmt, wo und wie es lang geht – und dafür auch gezahlt. Diese (Anschub-)Finanzierung muss in den nächsten Runden in eine Eigendynamik münden. Welche Treiber kommen dafür in Frage? Entwickelt sich aktuell ein Szenario in der Digitalisierung für das Ökosystem Gesundheit, das gar nicht so vorteilhaft ausfallen könnte? Es ist im Wahljahr genau die richtige Zeit, Fragen zu stellen und mögliche Antworten zu skizzieren, damit wir Richtung und Finanzierung der Digitalisierung selbst (mit-)bestimmen. Sonst laufen wir Gefahr, von der Macht des technologisch und kapitalmäßig Faktischen bestimmt zu werden.

 

Ausgangslage: Ist das Glas der Digitalisierung halb voll oder halb leer?

Am Ende der 19. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages darf man sich die Frage stellen, ob mit 34 Gesetzen in 32 Monaten [Pharma Fakten 2020] das Glas der Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft halb voll oder halb leer ist. Eine mögliche Antwort darauf ist bereits im Juni 2020 durch den Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) in der EU gegeben worden. „Deutschland steht beim europäischen Vergleich der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft an zwölfter Stelle“ in einer EU der damals noch 28, mit einem Score von 56,1 leicht oberhalb des Durchschnitts [DESI 2020]. Insofern könnte man von einem halbvollen Glas ausgehen. Wenn da nicht der Bereich „digital public services“ wäre, zu dem auch das Gesundheitswesen gezählt werden muss. Dort befindet sich Deutschland signifikant unter dem Durchschnitt – also ist das Glas eher halb leer.

So ganz einfach sollte man es sich dann mit der Bewertung auch nicht machen. Es geht bei dem Gut Gesundheit schließlich nicht um einen Service vergleichbar mit dem der Antragstellung für einen ePersonalausweis. Gesundheit ist kein Gut, Produkt oder Service, wie jedes andere in einer Marktwirtschaft. Das zentrale Merkmal von Gesundheit ist, dass jeder Mensch nur diese eine, seine Gesundheit hat. Und genau diese, häufig übersehene Besonderheit, führt auch zu besonderen Bewertungen und Entscheidungen bei dem Thema der Digitalisierung von Gesundheit und Gesundheitswirtschaft. Um es noch plastischer auszudrücken, kaum ein Patient in Deutschland käme bei der Auswahl seines Chirurgen für eine Herz-Bypass-OP auf die Idee, den billigsten Anbieter (Operateur) auszuwählen.

Parallel zur Legislaturperiode aber unabhängig von ihr hat sich die Diskussion um „Ökosysteme“ entwickelt. Dieses ganzheitliche Konzept soll helfen, eine Struktur zu finden, entlang derer die Frage der Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft konstruktiv diskutiert werden kann. An dieser Stelle nur ein kurzer Abriss zum Verständnis von Ökosystemen [Sander 2020], um damit im Hauptteil dieses Artikels einen Orientierungsrahmen zu haben.

In der Wirtschaft beschreibt der Begriff Ökosystem ein Netzwerk aus wirtschaftlichen, politischen und sozialen Akteuren, welche über eine technologische Plattform miteinander verbunden sind. Ein nachhaltiges und überlebensfähiges Ökosystem ist durch eine Value Proposition gekennzeichnet. Dies könnte ein Nutzenversprechen in Richtung von Versorgungsketten für spezifische Krankheiten oder Behandlungen sein. Oder auch das Erfüllen von Kundenbedürfnissen bei konkreten Patient Journeys, z.B. die digitale Ende-zu-Ende-Prozessbearbeitung bei einem Pflegeantrag. Die Realisierung und Weiterentwicklung dieser Value Proposition bedarf eines Alignment, also der multilateralen Verflechtung aller Akteure. Dieses Alignment wiederum wird durch einen oder mehrere Orchestratoren sichergestellt.

Aktuell werden häufig Good Doctor von PingAn (China) oder auch Babylon Health (ein Start-up aus Großbritannien) als Pilgerstätten für lernwillige Healthcare Experten angesehen, um die Bedeutung, die Struktur und die Prozesse in einem Ökosystem zu verstehen – und v.a., um einen Eindruck für das Digitalisierungspotenzial zu gewinnen.

Ein Blick nach Deutschland ist mindestens genauso aufschlussreich. So entwickelt sich mit ai4medicine an der Charité ein KI-basiertes Ökosystem zur Vermeidung von Schlaganfällen. Ebenfalls an der Charité in Berlin, allerdings schon sehr viel weiter fortgeschritten, hat sich die ALS-Ambulanz (Amyotrophe Lateralsklerose) formiert; ein Ökosystem, das auf einer technologischen Plattform Ärzte, Ernährungsberater, Sanitätshäuser (Beatmungsgeräte), Heilmittel (Physio-/Ergotherapeuten, Logopäden), spezialisierte Apotheken (neurologische Medikamente) und Pflegeeinrichtungen verknüpft [Alignment]. Der Orchestrator ist die Firma Ambulanzpartner um Prof. Thomas Meyer.

Etwas bekannter ist MySugr. Hier hat sich aus einer App heraus eine virtuelle Diabetes-Klinik entwickelt. Die App dient dabei als Diabetes-Tagebuch. Aus den Daten werden die Insulin-Dosen berechnet. Zusätzlich kann die Verbindung zu Diabetologen als Coaching-Applikation hergestellt werden. Die Verknüpfung mit Therapie-Instrumenten (Spritzen / Blutzuckermessung) ist sichergestellt, genauso wie die Versorgung mit Verbrauchsmaterialien.

Dies sind drei Beispiele, die belegen, dass sich Ökosysteme in Deutschland bereits im Kleinen konkret entwickeln und kein Buzzword sind. Spannend ist die Frage, wer sind die Treiber im Großen? Welches sind die Partner im Alignment und in der Orchestrierung für die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft und wie (finanziell) wirkmächtig sind sie aufgestellt?

 

Übersicht und Einschätzung: Top 10 Partner des Ökosystems Gesundheit und ihr Finanzierungspotenzial

Aus einer Meta-Perspektive werden zehn Partner(kategorien) für ein Ökosystem kurz aus ihrem Finanzierungspotenzial für die weitere Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft subjektiv skizziert, grob bewertet und einer künftigen Rolle zugeordnet.

 

Krankenversicherungen (gesetzlich)

Die GKV ist grundsätzlich prädestiniert, an vorderster Stelle der Digitalisierung zu wirken, da sie die Schnittstelle zum Versicherten besitzt und einzelne Kassen auch die kritische Masse/Größe besitzen, Entwicklungen im Markt zu treiben.

Somit wäre § 263a SGB V ein ideales Instrument, um die Digitalisierung zu forcieren. Kassen dürfen bis zu 2% ihrer Finanzreserven in das Investvermögen nehmen zur Förderung der Entwicklung digitaler Investitionen. Dies klingt in der Theorie gut, in der Praxis sieht es gerade so aus, dass die Finanzreserven massiv sinken durch die Schließung der Finanzlücken 2021 und der gesetzlichen Leistungsausweitung.

Alternative Quellen zur Finanzierung der Digitalisierung könnten sein: Versorgungsmanagement und Daten; d.h. entweder bei der Versorgung Einnahmen zu erzielen respektive Kosten zu senken oder mit Daten Geld zu verdienen. Letzteres ist den Kassen strikt verboten, und auch bei der Versorgung kann eine Kasse nur ein einziges Mal „verdienen“, indem sie ein Mitglied vertrieblich gewinnt. Danach geht es nur noch um Kundenbindung, Kostenkontrolle und -senkung; zusätzliche Einnahmen können nicht generiert werden. Die Finanzierungskraft zur deutlichen Ausweitung der Digitalisierung in der Versorgung bei gleichzeitigem Qualitätsimperativ kann sich somit nur aus Kosteneinsparungen ergeben. Ein möglicher Ausweg wäre eine Investivkomponente im mRSA, die eine Verteilung der Investitionen für kostensenkende digitale Versorgungsprogramme über einen Amortisationszeitraum von bspw. 3 oder fünf Jahren ermöglichen würde.

Bewertung: Die GKV droht unter diesen Umständen als finanzkräftiger Akteur und damit Treiber der Digitalisierung auszufallen. Die PKV, die bei dieser Betrachtung bewusst ausgelassen wurde, kann auf Grund ihrer Marktbedeutung die Lücken keinesfalls adäquat schließen.

Rolle: In dem o.g. Verständnis von Ökosystem sind die Kassen für die Rolle des fachlichen Orchestrators prädestiniert. Sie bringen als vielleicht wichtigstes Asset die sog. Kundenschnittstelle in die Digitalisierungsaktivitäten ein.

 

Krankenhäuser

Die Finanzlage dieses Sektors in der Gesundheitswirtschaft ist seit Jahren mehr als angespannt. Daher konnten von dem Krankenhaussektor insgesamt auch keine nennenswerten Digitalisierungsimpulse ausgehen. Letztlich hat dies zu der Einsicht geführt, dass dieser Bereich mit ca. EUR 4,3 Mrd. im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes unterstützt werden soll.

Bewertung: In der Breite wird dieser Sektor als Digitalisierungstreiber eher ausfallen, auch wenn die Nachholeffekte durch den Zukunftsfonds spürbar sein werden. Im Kern stehen aber weiterhin Sanierungs- und Konzentrationsaufgaben an.

Rolle: Eher Partner im Alignment und weniger Orchestrator.

 

Apotheken / Pharmazie

Bei diesem Sektor sollte der Blick nicht auf die einzelne Apotheke gerichtet sein, denn mit der Einführung des eRezepts entwickelt sich hier ein Game Changer für den gesamten pharmazeutischen Markt.

Aus der Perspektive bspw. des Pharma eCommerce geht es gleich um den europäischen Markt. Allein schon deshalb gilt es, deren Aktivitäten besonders gut zu beobachten. Zur Bestätigung dieser Einschätzung hat mitten im ersten Corona Lock-down die ZurRose-Gruppe ihre Übernahmepläne für den Telemedizin-Anbieter TeleClinic finalisiert – und das eigene Ökosystem im Juli 2020 um einen wichtigen Baustein für die seamless journey in der Versorgung erweitert. Damit ist aus Sicht der definitorischen Merkmale eines Ökosystems insbesondere die Value Proposition „seamless journey“ bzw. „health in one click“ von ZurRose deutlich gestärkt worden. Gleichzeitig wird auch dem Markt signalisiert, dass man sich in der Rolle eines Orchestrators sieht. Der Gewinn der eRezept-Ausschreibung zusammen mit IBM ist ein weiteres Ausrufezeichen.

Neben der Online-Welt steigt auch die Offline-Welt ein. Ebenfalls im Juli 2020 verkündet der größte deutsche Pharmahändler Phoenix den Aufbau eines weiteren Ökosystems. Ein großer Partner ist die Apothekeninitiative Pro AvO, ein Zusammenschluss aus dem apothekeneignen Warenwirtschafts- und Abrechnungsdienstleister Noventi, dem Warenlagerspezialisten Rowa und den beiden Pharmagroßhändlern Gehe und Sanacorp sowie dem Wort und Bild Verlag, der die (auflagenstärkste) Apotheken Zeitschrift herausgibt. Ziel ist es, den Großteil aller Apotheken, Ärzte, Pfleger und Heilberufe in Deutschland anzubinden. Diesen Handlungswillen von Noventi unterstreicht die Ankündigung, zusammen mit dem Großhändler Phoenix die Gesundheitsplattform gesund.de bis Mitte 2021 aus dem Boden zu stampfen.

Bewertung: Dies alles ist im Wesentlichen ein strategischer Schachzug, um sich auf das mögliche Eindringen gerade von Amazon in den Apothekenmarkt vorzubereiten. Ökosystem quasi als Verteidigungslinie gegen die weltgrößten und dominanten eCommerce Player.

Rolle: Hier entwickelt sich vielleicht am deutlichsten sichtbar ein Treiber für die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft, der offen seinen dominanten Kompetenzanspruch demonstriert.

 

Ärzte

Die Ärzteschaft, ob ambulant oder stationär, ist die conditio sine qua non jeglicher Digitalisierung, da sie stets das eine Ende einer end-to-end-Prozessbetrachtung und der Digitalisierung dieser Prozesse repräsentiert. Grob betrachtet ist die Perspektive der Ärzteschaft auf Digitalisierung unterschiedlich; im stationären Alltag verspricht man sich davon eine Arbeitserleichterung und Effizienzsteigerung. Im ambulanten Bereich steht aktuell eher noch der Kosten- und Zeitfaktor im Vordergrund. Zudem herrscht noch eine hohe Unsicherheit bspw. in Bezug auf KI und das künftige Berufsbild.

Bewertung & Rolle: Insofern wäre es zu viel verlangt, von der Ärzteschaft eine Treiberrolle in Bezug auf die Digitalisierung zu erwarten. Eher sind sie in der Rolle einer „umworbenen Braut“, die sich nur bei einer klaren Value Proposition auf die Digitalisierung mit vollem Engagement einlassen wird.

 

Pflege

Der Pflegesektor ist erst mit Verzögerung in den öffentlichen Blickpunkt der Digitalisierung geraten. Dies ist eher konträr zu dem Investment-Appetit von Private Equity Unternehmen an diesem Sektor v.a. im stationären Bereich. Insofern darf man erwarten, dass die Kapitalinvestoren ein hohes Eigeninteresse haben, durch Investitionen in die Digitalisierung die Rendite ihres Portfolios zu steigern. Ein sehr schönes Beispiel für die Verbindung dreier Sektoren (Krankenkasse, Krankenhaus, Pflege-/ Reha-Einrichtung) ist die Recare-Plattform für digitales Entlassmanagement und Überleitungen in Pflege und Reha – inklusive digitaler Integration der ersten Kostenträger in diese Prozesse.

Bewertung & Rolle: Der Pflegebereich, ob stationär oder ambulant, ist z.Zt. eher für die Rolle des Mitspielers in der Digitalisierung aufgestellt. Von diesem Bereich kann man eher nicht den digitalen Schub für den Gesamtmarkt erwarten, so wie es sich im Apotheken/Pharmazie-Sektor aufdrängt.

 

Start-ups /DiGA & DiPA Digitale Gesundheits- und Pflegeanwendungen

Start-ups gelten öffentlichkeitswirksam als Aushängeschild der Digitalisierung und Nukleus digitaler Versorgungsketten. Seit 2018 sind auch enorme Fortschritte gemacht worden, u.a. durch das DVG, diese Innovationen in den ersten Gesundheitsmarkt zu integrieren.

Das Kernproblem in diesem Sektor ist die Skalierung der Anwendungen in die Breite des Versichertenmarktes. Auffällig ist, dass einige der erfolgreichsten Skalierungsstrategien aus dem Ausland kamen. So hat bspw. KRY (Videosprechstunde) zunächst im skandinavischen Markt seine kritische Masse und genügend Venture Capital aufgebaut, bevor man in den deutschen Markt eingestiegen ist. Ähnlich ging doctolib (Arztterminbuchung) vor. Hier erfolgte der Aufbau von Geschäft und Kapital aus dem französischen Markt heraus, um den Eintritt in den deutschen Gesundheitsmarkt zu wagen. Für deutsche Start-ups ist es in einer solchen Konstellation schwierig sich zu behaupten. Dies belegt das Beispiel von Teleclinic, das als Innovator im Markt am Ende unter das Dach von ZurRose schlüpfen musste, um den Strategien von KRY oder doctolib etwas entgegensetzen zu können.

Durch das DVG sind die Sorgen aber nicht weniger geworden, da immer noch nicht klar ist, wie die Start-ups langfristig Geld verdienen werden. Aktuell stehen sich Kostenträger und Digitalinnovatoren konträr gegenüber. Kalkuliert man die Jahreskosten zahlreicher durch das BfArM zugelassenen DiGA, so liegen diese über den durchschnittlichen Zuweisungen (HMG). [McKinsey 2021] Aus dieser Perspektive heraus wird die digitale (Zusatz-)Behandlung für eine Krankenkasse teurer als die vorige analoge Therapie.

Gleichzeitig gilt aber auch, dass gerade die Venture Capital Investoren nur in DiGA-Startups investieren, wenn die Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband dazu führen, dass die Startups ausreichend Geld verdienen können. Die aktuelle Form der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) schreckt Investoren eher ab, in Digital Health Startups investieren, wenn ihr Geschäftsmodell nur als Digitale Gesundheitsanwendung im Sinne des DVG funktioniert.

Es gibt aber noch einen weiteren Hemmschuh, der darin liegt, dass die Gesetzgebung dem Tempo der Technologie hinterherhinkt. Moderne Softwareentwicklung erfolgt heute weitestgehend agil, d.h. u.a. iterative Produktentwicklung und kontinuierliche Programmveränderung, DevOps, Scrum und viele Schlagworte mehr. Der Zulassungsprozess von DiGA verlangt allerdings, dass mit der Antragstellung der Programmcode nicht mehr entscheidend verändert werden darf.

Bewertung: Investmentkapital ist ausreichend im Markt, dennoch ist es kritisch, dass die Start-ups im größten europäischen Gesundheitsmarkt und ihre Investoren den Finanzierungsbedarf befriedigen, da die möglichen Geschäftsmodelle, die hinter den Anwendungen stehen nicht klar bzw. planbar sind. Wenn sich hieran nicht schnell genug etwas ändert, dann kommen bahnbrechende Innovationen (s. KRY oder doctolib) zukünftig im besten Fall eher aus dem Ausland; und im schlechtesten Fall verliert die deutsche Start-up Szene in der Gesundheitswirtschaft deutlich an Momentum und Innovationskraft.

Rolle: Unabhängig davon, woher die Start-ups kommen sind sie der Treiber von Innovationen für die Versorgungsketten. Das Finanzierungspotenzial zumindest in Deutschland könnte sich noch deutlich wirksamer entfalten, wenn u.a. die obigen Hemmnisse gelöst werden.

 

Politik

Die Politik hat bewusst die Treiberrolle in der laufenden Legislaturperiode an sich gezogen. Mit der Einverleibung der gematik ins BMG wurde auch ein quasi Gordischer Knoten durchschlagen und ein robustes Signal in den Markt gesandt, dass eine technologische Zeitenwende ansteht. Das aktuelle White Paper zur TI 2.0 [gematik 2020] unterstreicht diesen Willen.

Damit ist es der Politik gelungen, der Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft wirkungsvolle Impulse zu geben – das betrifft die Technologie. Digitalisierung entfaltet sich nicht allein durch technologischen Fortschritt, sondern v.a., weil sich Geschäftsmodelle eröffnen. Geschäftsmodelle der Zukunft beruhen auf Daten. Genau dies muss die Politik den Akteuren in Deutschland künftig ermöglichen. Im Zentrum steht dabei der Umgang mit dem Thema Datenschutz.

Bewertung: Lösungswege können an dieser Stelle nicht vertieft werden. Das Ziel muss allerdings klar formuliert werden: Der Regulierer sollte ein Level Playing Field schaffen, damit die Akteure in Deutschland mit den durch und in der Gesundheitswirtschaft generierten Daten neue Geschäftsmodelle entwickeln können. Andernfalls haben in naher Zukunft z.B. die Krankenversicherungen als Treiber der Digitalisierung keine „Waffengleichheit“ mit Konstellationen, die sich außerhalb des Geltungsbereichs des SGB entwickeln werden. Eine gesetzliche und auch ethische Leitlinie für die erforderlichen regulatorischen Änderungen ist u.a. echte Patientensouveränität im Umgang mit Daten.

Rolle: Die Politik hat keine Chance, den global stattfinden technologischen Fortschritt beim Thema Gesundheit zu steuern. Sie kann aber in der nächsten Legislaturperiode weitere Voraussetzungen (z.B. Regeln und Qualitätsstandards) schaffen, damit die Akteure / Sektoren in der Gesundheitswirtschaft in Deutschland das besondere Gut „Gesundheit“ im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Sozialversicherung selbstbestimmt fortentwickeln. Insofern nimmt die Politik mehr die Rolle eines Facilitators, statt eines Treibers ein.

 

Pharma

Das o.g. Beispiel von MySugr als virtuelle Diabetes-Klinik illustriert, dass in der Pharma-Branche ein enormes Potenzial zur Vertikalisierung von Behandlungspfaden liegt. Mit ePA und eRezept als technologische Game Changer braucht es nicht viel Phantasie, um sich vorstellen, dass Pharma-Firmen Interesse daran entwickeln, die komplette Integration von Behandlungspfaden für z.B. Asthma, Diabetes, Hypertonie oder Onkologie zu übernehmen, bspw. in Form von digitalen Coaches.

Flankiert wird dies durch technologische Quantensprünge in den Bereichen DNA-Entschlüsselung/Genom-Sequenzierung und AI. Beides Bereiche, die ganz kurz vor der Massentauglichkeit stehen und der personalisierten Medizin zum Durchbruch verhelfen.

Dahinter stehen künftig globale Geschäftsmodelle, denn die medizinische Behandlung von Diabetes ist in Deutschland nicht viel anders als in den USA oder der arabischen Welt oder China. Somit stehen dann auch globale Technologien und Geschäftsmodelle ante portas im Rahmen der Digitalisierung in Deutschland.

Bewertung und Rolle: Es ist zu erwarten, dass auf Grund der oben skizzierten Logik Pharma spätestens mittelfristig einer der starken Treiber für die Digitalisierung auch in Deutschland werden wird.

 

Big Tec

Das Scheitern von Haven als privatwirtschaftliches Projekt von Berkshire Hathaway, J.P. Morgan und Amazon, eine Krankenversicherung zu „bauen“, sollte eher nicht als Entwarnung für ein Eindringen der großen US- oder China-Tech-Konzerne gesehen werden. Scheitern (fail fast) gehört zum Lernprozess, dass Gesundheit zum einen ein äußerst komplexes System ist und zum anderen – wie bereits erläutert – kein normales Wirtschaftsgut ist.

Unstrittig ist aber, dass gerade die globalen Technologie-Konzerne über zwei Stärken verfügen, bei denen kein Akteur im deutschen Gesundheitswesen mithalten kann: Customer Engagement und Daten als Geschäftsmodell. Die Tech-Konzerne wissen, wie man mit Service und Nutzenangeboten die Kundenschnittstelle bedient und eine optimale User Experience liefert. Der Wert der dadurch generierten Daten kann noch gar nicht abgeschätzt werden, gerade auch in Verbindung mit personalisierter Medizin.

Bewertung: Es ist damit nur eine Frage der Zeit, bis sich die passenden Konstellationen, Kooperationen oder M&A-Ziele gefunden haben, um den offenen Markteintritt in das deutsche Gesundheitssystem zu wagen.

Rolle: technologisch und finanzstarker Treiber der Digitalisierung in Deutschland.

 

MedTec

Die Medizintechnik-Branche ist seit jeher ein starker und erfolgreicher Sektor in der Gesundheitswirtschaft in Deutschland, aber eher ohne viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit trotz namhafter deutscher Wettbewerber wie Draeger oder Siemens Healthineers. Aktuell stehen sie allerdings im Fokus z.B. durch das KHZG. Neben bspw. GE und Philipps sind sie ganz zentrale Ausrüster, um den stationären Sektor digital aufzurüsten.

Auch in diesem Sektor hat die Suche nach neuen Geschäftsmodellen begonnen, die die künftige Rolle unabhängig von staatlichen Sonderprogrammen ausmachen. Die Ankündigung von IBM und Siemens Healthineers, ein eigenes Ökosystem aufzubauen [Siemens Healthineers 2020], dient als ein Beispiel.

Bewertung: Unzweifelhaft ist MedTech gerade in Deutschland ein wichtiger Ausrüster für Digitalisierungsvorhaben. Inwieweit dieser Sektor auch eine eigene Schubkraft und eigenes Finanzierungspotenzial entwickeln kann, ist noch nicht absehbar.

Rolle: Ausrüster (Partner) im Ökosystem mit Potenzial für eine treibende Rolle, wenn sich Geschäftsmodelle entwickeln, die eine Orchestration ermöglichen

Die im Raum stehende elfte Kategorie Versicherter / Patient / Kunde wird im Rahmen dieser Fragestellung nicht explizit behandelt. Der Kunde stellt sein Finanzierungspotenzial dann der Digitalisierung als Konsument zu Verfügung, wenn die Value Proposition so attraktiv ist, dass er bereit ist, dafür Geld auszugeben. Dadurch dass sich die zehn Partnerkategorien eines Ökosystem genau darum ausrichten, steht der Patient im Mittelpunkt, ohne ihn hier im Beitrag zu vertiefen.

 

Szenario: Sollen wir das wirklich wollen?

Blickt man aus der Vogelperspektive auf die vorgestellten groben Trends in den Partnerkategorien eines Ökosystems unter dem Aspekt „wer treibt und finanziert künftig die Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft“, dann drängt sich ein mögliches Szenario auf: Es spricht einiges dafür, dass auf Grund der Finanzkraft die Sektoren Apotheke / Pharmazie, Pharma und Big Tec die Treiber der Digitalisierung sein werden. Und im Kern liegt der Grund darin, dass sich in diesen drei Sektoren Geschäftsmodelle am schnellsten, am stärksten und v.a. auch global entwickeln.

Vor dem bereits mehrfach skizzierten Hintergrund, dass Gesundheit ein besonderes (kein klassisches betriebswirtschaftliches) Gut ist und dass die Gesundheitswirtschaft nicht ein klassischer Markt, sondern vielmehr eine Säule für den Zusammenhalt in einer (alternden) Gesellschaft ist – d.h. wenn Deutschland keine US-amerikanischen Verhältnisse riskieren möchte –, dann stellt sich die Frage, ob „wir“ das wirklich wollen sollten, was sich am Horizont abzeichnet. Die Industrialisierung der Gesundheitswirtschaft durch die Digitalisierung ist nicht aufzuhalten. Dieser Beitrag darf nicht missverstanden werden, dass überhaupt nur der Versuch gemacht wird, genau dies zu fordern. Ganz im Gegenteil. Aber was die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft braucht, ist ein Korrektiv im Sinne der gesellschaftspolitischen Richtungsgebung. Und genau an dieser Stelle droht ein Ausfall; konkret, es drohen die Krankenkassen auszufallen.

Sie sind durch ihre Rolle als Kostenträger an der Kundenschnittstelle und durch diese Position prädestiniert, die Digitalisierung zu treiben. Gleichzeitig sind sie als öffentlich-rechtliche Körperschaft (und mittels ihrer Aufsichtsgremien) auch ein Sachwalter des sozialen Sicherungswesens Gesundheit. Durch die mangelnde eigene Finanzkraft und als Folge der Öffnung des Gesundheitsmarktes im Rahmen der (unausweichlichen) Digitalisierung für leistungsfähige und kapitalstarke externe Treiber besteht die Gefahr, dass die Kassen ihre Rolle als ein wirkungsvoller gesamtgesellschaftlicher Sachwalter nicht wahrnehmen können.

Wenn man dieses gesellschaftspolitische Verständnis des Gesundheitswesens teilt, dann beginnt die Suche nach Lösungswegen. Einer kann darin liegen, dass es den Kassen ermöglicht wird, sich an datengetriebenen Geschäftsmodellen zu beteiligen, damit sie aktiv als „Investor“ in der Digitalisierung agieren können.

 

Literatur

Pharma Fakten, 03.12.20 (2020). In: Pharma Fakten, URL: https://www.pharma-fakten.de/news/details/1016-digitalisierung-im-deutschen-gesundheitswesen-34-gesetze-in-32-monaten/ (zuletzt abgerufen am 12.02.21)

The Digital Economy and Society Index (DESI 2020). In: European Commission, URL:
https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/digital-economy-and-society-index-desi und
https://ec.europa.eu/germany/news/20200611-digitalisierung_de (zuletzt abgerufen am 12.02.21)

Sander Michael (2020), Ökosystem Gesundheit: Vom Buzzword zu Best Practice?! In: MWV Medizinisch-Wissenschaftliche-Verlagsgesellschaft, URL: https://www.mwv-berlin.de/meldung/!/id/213 (zuletzt abgerufen am 12.02.21)

McKinsey (2021), 20.01.2021. In: Forum BMC-Kongress Preisgestaltung von DiGAs, URL:
https://bmckongress.de/session/bmc01/preisgestaltung-von-digas (zuletzt abgerufen am 12.02.21)

gematik, Arena für digitale Medizin, Dezember 2020 (2020): In: gematik, URL: https://www.gematik.de/fileadmin/user_upload/gematik/files/Presseinformationen/gematik_Whitepaper_Arena_digitale_Medizin_TI_2.0_Web.pdf (zuletzt abgerufen am 12.02.21)

Siemens Healthineers, 08. Dezember 2020 (2020), Siemens Healthineers und IBM kooperieren bei der digitalen Vernetzung für das Gesundheitssystem in Deutschland. In: Siemens Healthineers, URL: https://www.siemens-healthineers.com/de-int/press-room/press-releases/ibm.html


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