Digitalistan oder der Tanz um das binäre Kalb

Prof. Dr. med. Jürgen Windeler

Natürlich ist der Einzug und die Weiterentwicklung digitaler Lösungen auch im Gesundheitssystem nicht aufzuhalten und sinnvoll. Aber eine Lösung setzt ein Problem voraus. Und Probleme in einem Gesundheitssystem betreffen nicht die Förderung der Hightech-Industrie, nicht die Sicherung von Arbeitsplätzen, nicht interessegeleitete Versprechen, was man mit Daten alles machen kann und was man dafür „spenden“ soll.

Probleme in einem Gesundheitssystem sind nicht primär die Geschäfte der Beteiligten, sondern ganz im Fokus hat das Wohl, die optimale Versorgung von Patienten zu stehen, die genau dafür ihre stetig steigenden Beiträge bezahlen.

 

Alltag

Als sich die Besucher des Konzerts von Cameron Carpenter im Mai letzten Jahres voller Erwartungen auf den Weg in die Berliner Philharmonie machten, ahnten viele nicht, was ihnen bevorstand. Eine Sprecherin teilte vor dem Konzert mit, dass die große Schuke-Orgel instandgesetzt werde und daher nicht gespielt werden könne. Stattdessen habe man sehr kurzfristig eine andere Orgel beschafft, auf der Carpenter nun spielen werde. Spätestens nach den ersten Tönen war klar, was das bedeutete. Theoretisch und zuhause mit Kopfhörern können digitale Orgeln eine faszinierende Sache sein, aus der Lautsprecheranlage der Philharmonie eher nicht. Zum fehlenden Raumklang gesellte sich eine schlechte Mischung der Register, und im Laufe des Konzerts wurde klar, dass es noch andere Probleme gab: Carpenter musste mehrfach Stücke neu ansetzen, in die automatische Registrierung eingreifen, und brach dann mitten in den Goldberg-Variationen kopfschüttelnd sein Spiel ab. Er eilte hinaus, um die Bedienungsanleitung zu holen und die Orgel zu „resetten“. Die Zugabe entfiel dann ganz, weil ein vollkommen entnervter Musiker nur noch traurig feststellen konnte, dass die Orgel seine Registrierungen für das Stück nicht mehr gespeichert hatte.

„Seit wir auf EDV umgestellt haben …“ – lange Zeit war dies eine Standardfloskel, die von Behörden und Geschäftsleuten bemüht wurde, um mehr oder weniger schicksalsergeben zu begründen, warum die Dinge nicht oder nicht mehr so funktionierten wie früher. Täglich erleben wir, dass der Computer, die Software, der Drucker nicht das tut, was er soll oder was wir erwarten. Wir erdulden, in irgendein Handymikrofon „eins“, „zwei“ oder „drei“ sagen zu sollen, um zu erleben, dass hinterher etwas Ungewolltes passiert – oder auch nichts. Wir ärgern oder wundern uns, sind aber erstaunlich tolerant – duldend eben. Beschweren kann man sich sowieso nirgends; wer Verantwortung trägt, ist nicht zu erkennen; diejenigen, die man vielleicht irgendwann am Telefon hat, leiden genauso – jedenfalls, wenn es Menschen sind. Digitaler Alltag. Und dabei haben wir noch gar nicht angefangen, über Datenschutz, Nachhaltigkeit oder Abhängigkeiten und daraus resultierende Gefährdungen nachzudenken.

 

Das Paradies in Sichtweite

Im Gesundheitssystem soll aber nun Digitalisierung alles richten, ja, buchstäblich alles. Und eine Äußerung, dass Deutschland „abgehängt“ werde – sind wir denn nicht geborene oder wenigstens gesetzte „Erste“? – wird in ihrem dramatischen Gestus nur unwesentlich geschmälert, wenn der Gesundheitsminister genau diesen – seinen eigenen – Befund bei anderer Gelegenheit als „Glücksfall“ bezeichnet (Data for Health Conference, Juni 2023). So könne man europäische Erfahrungen berücksichtigen.

Digital sollen dann nicht nur schnell(er) Befunde von A nach B transferiert werden können, Doppeluntersuchungen vermieden und Arzneiverordnungen und Informationen für den Notfall bereitgestellt werden. Nein, gleichzeitig wird der Personalmangel behoben, bahnbrechende Forschung wird ermöglicht, und es wird auch noch, so der Vorsitzende des Sachverständigenrates, mehr Zeit für die Arzt-Patienten-Beziehung geschaffen.

Man sieht es plastisch vor sich: Ärztinnen und Ärzte, die sich angewöhnt haben, statt dem Patienten ins Gesicht auf ihren Computerbildschirm zu schauen, werden mit mehr Digitalisierung ihren Blick vom Bildschirm ganz natürlich wieder dem Patienten zuwenden.

„Daten retten Leben“ – das ist nicht nur eine Internetseite des Bundesverbandes Internetmedizin („für einen realistischen Datenschutz…, der den digitalen Entwicklungen ausreichend Raum zur Entfaltung gibt“), sondern war auch der Titel eines Jubel-Artikels der Süddeutschen Zeitung vom 26.3.2024 – eine interessante Konstellation. Eines der regelmäßigen Gesundheitsforen der Zeitung widmete sich, so der Bericht, „Chancen und Risiken des Einsatzes von KI in der Medizin“. Den Hinweis auf Risiken sucht man dann vergeblich, oder besser: Sie werden bestmöglich banalisiert – ganz so wie die Nebenwirkungen eines Medikaments durch eine Pharmafirma. Stattdessen: Euphorie allerorten, und wo die Begeisterung über diagnostische Möglichkeiten so richtig Raum greift, darf natürlich Früherkennung nicht fehlen: Die KI könne noch die „winzigsten Auffälligkeiten bereits vor der Diagnose des Krebses … sehen“, wird die Informatikerin Julia Schnabel zitiert. Hier wäre jetzt Gelegenheit für Fragen und Informationen zu Risiken gewesen.

Rosige Aussichten, aber es geht noch mehr: Karl-Walter Jauch, ehemaliger Ärztlicher Direktor des Klinikums Großhadern, wird in dem Artikel mit den Worten zitiert: „KI und Digitalisierung sind mehr als nur eine Chance für die Erhaltung und Verbesserung des Gesundheitssystems. Sie sind eine Grundvoraussetzung.“ Einige hatten bisher geglaubt, dass medizinisches Wissen und Erfahrung besondere Bedeutung hätten, und grübeln nun, wie denn in den letzten Jahrzehnten überhaupt Medizin betrieben werden konnte, wo doch schon die „Grundvoraussetzung“ fehlte.

 

Zurück auf die Erde

Jeder konnte in den letzten Monaten in Echtzeit beobachten, wie Digitalisierung die deutsche Krankenhauslandschaft von Grund auf reformiert und zukunftsfähig gemacht hat – oder etwa nicht? Der Befund ist eigentlich klar: Das deutsche Gesundheitssystem krankt an Strukturproblemen, die seit Jahren und Jahrzehnten bekannt sind, aber nicht angepackt, sondern aktiv unterhalten werden. In einer Reihe dieser Strukturen und der daraus resultierenden Probleme unterscheidet sich Deutschland deutlich von anderen Ländern. Und so ist Skandinavien und das oft genannte Dänemark nicht nur umfassender und selbstverständlicher digitalisiert, sondern auch vollkommen anders „drauf“, wenn es um zielgerichtete Krankenhausplanung, Sektorengrenzen oder eine Relativierung arztzentrierter Versorgung geht, von einer Vierten Hürde, die eine sinnvolle Begrenzung des Arzneimittelsammelsuriums ermöglichen würde, ganz abgesehen. Ein Indikator zur Orientierung: Dänemark hat 26 Krankenhausbetten / 10.000 Einwohner, Deutschland 80.

Kluge Länder, Institutionen oder Firmen sanieren und modernisieren erst ihre Strukturen, um diese dann digital zu flankieren. Insofern hat Digitalisierung an der richtigen Stelle in richtigem Maß Sinn und Berechtigung. Aber jeder Informatikstudent lernt schon im ersten Semester, dass Digitalisierung eben nicht sämtliche, vor allem nicht die Strukturprobleme löst. Sie werden vielmehr als digitalisierte Strukturprobleme weiter ihr Unwesen treiben.

Doppeluntersuchungen zu vermeiden, ist z.B. ein jedem einleuchtendes Ziel. Digitale Unterstützung wird aber nur diejenigen vermeiden helfen, die allein auf einer mangelnden Verfügbarkeit der Erstuntersuchung beruhen, in diesem Sinne also tatsächlich ein „Doppel“ sind. Wie viele mögen das wohl sein? Und wie viele neue Untersuchungen werden gemacht, weil die erste veraltet ist oder unzureichende Qualität hat (nach Ermessen des Zweituntersuchers)? Und wie viele werden gemacht, weil man in diesem Quartal noch Sonographien braucht oder die Zahl der Untersuchungen für den Facharzt erfüllt werden muss? Glaubt jemand, dass das systematische Zuviel im deutschen Gesundheitssystem – zu viele Herzkatheter, zu viele Rückenoperationen, zu viele Prostata-OPs – durch Digitalisierung beseitigt wird? Nein, Digitalisierung wird nichts bewirken, wo Fehlanreize bestehen bleiben.

Schlimmstenfalls ist der Tanz um das binäre Kalb geeignet, die Lösung der eigentlichen Probleme zu verhindern und die Versorgung zu verschlechtern – das e-Rezept grinst. Wenn man „früher“, also z.B. im Dezember 2023, ein Rezept in der Arztpraxis erhielt, ging man zwei Treppen nach unten oder vielleicht über die Straße, legte in der Apotheke seinen Zettel auf den Tisch und wurde versorgt. Geht man „heute“, also im März 2024, mit seinem auf der Karte gespeicherten e-Rezept zwei Treppen nach unten, so erhält man in der Apotheke die Auskunft, dass das e-Rezept noch nicht „angekommen“ sei, man möge doch noch einen Kaffee trinken gehen. Mehrere solcher Heißgetränke und zwei Stunden später ist das Rezept immer noch nicht „angekommen“. Man möge doch am Nachmittag noch einmal wiederkommen (nein, keine Satire, reale Erfahrung). Glücklich der, der nicht dringend ein Medikament braucht. Dort wo Digitalisierung nicht die wohl bedachte Lösung eines Problems verfolgt, wird das Problem bestehen bleiben, und nur eines ist sicher: Es wird teurer, störanfälliger und risikoreicher als vorher – „seit wir auf EDV umgestellt haben …“.

 

Spitzenmedizin

Er habe „Angst davor, dass wir in Deutschland der Bevölkerung keine Spitzenmedizin mehr bieten können, wenn wir nicht endlich bei der Digitalisierung aufholen“, so der Gesundheitsminister in einem Interview in der „Rheinischen Post“ am 9.8.2023. Aber es sind die Strukturprobleme, die das deutsche System vergleichsweise teuer und ineffizient machen, nicht die Frage, ob ein Rezept auf einem Zettel oder in einer App steht. Und so könnte man auf die Idee kommen, dass der Hype um Digitalisierung neben dominierenden Geschäfts- und Profilierungsinteressen durchaus als Kapitulation der Gesundheitspolitik zu sehen ist, die Strukturprobleme überhaupt oder zielgerichtet auf geradem, pragmatischem Weg anzugehen und lösen zu können.

Dann gibt es „Spitzenmedizin“ und Digitalisierung quasi als „Opium fürs Volk“. Zumal damit, Stichwort Industriestandort Deutschland, das Verständnis vorherrscht, diese „Spitze“ sei HighTech, „Innovation“, ganz viele neue Arzneimittel – und das alles „beschleunigt“. Man wird an ein altes Mediziner-Bonmot erinnert und kann es zeitgemäß abwandeln: „Krankheit als ein Technik-Mangelsyndrom“. Dass dies das Verständnis und die Bedürfnisse der Menschen trifft, darf man bezweifeln, dass es die Versorgung verbessert, erst recht.

Und wenn es denn eine Lehre aus der Pandemie geben könnte, dann doch die, dass die alleinige Beratung durch technisch orientierte – ohne Zweifel kompetente – Fachleute kurzsichtig und unangemessen war und zu vielen der Kollateralschäden beigetragen hat, die wir heute noch beklagen. Aber im Bereich der Digitalisierung äußern sich – oder werden wiedergegeben – wieder vorrangig die Informatiker, IT-Experten und KI-Enthusiasten. Es gerät aus dem Fokus, dass Digitalisierung soziale Komponenten und Folgen hat, etwas mit uns, unserer Kultur und unserer Gesellschaft „macht“. Das mag positiv sein oder negativ, aber es gehört thematisiert, diskutiert, abgewogen, nicht bagatellisiert, hingenommen und erduldet. „Woher kommt der Hass?“ (in der Gesellschaft) titelten mehrere Zeitungen vor Ostern. Ein Blick in die „sozialen“, die digitalen Medien gibt vielleicht Antworten und erhellt auch gleich noch den derzeitigen erratischen Politikstil.

 

Daten wollen genutzt werden

Aber neben diesen Erwartungen an die Segnungen, die sich nach Durchdigitalisierung des Systems ergeben werden / sollen / sollten / müssten / könnten, gibt es noch einen bedeutsamen Nebenzweig, eine Art Abfallprodukt: die Nutzung der vielen Daten, die dann in den vielen Computern anfallen. Und ausgehend von der unbegründeten These, dass mit der Nutzung ganz vieler Daten, mit „Entbürokratisierung“ und „pragmatischer“ Relativierung des hinderlichen Datenschutzes die Erkenntnisse nur so vom Himmel regnen, wird die übliche rhetorische Klaviatur bedient.

So äußert sich die Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität Sylvia Thun im Observer 2024: „Datenschutz- und Sicherheitsbedenken sind weiterhin präsent, und die Akzeptanz digitaler Technologien sowohl bei den Patienten als auch bei den Gesundheitsdienstleistern variiert stark. Und das gefährdet mittlerweile Menschenleben.“ „Das“? „Datenschutz- und Sicherheitsbedenken“? – Klar, es sind die „Bedenkenträger“, die den Fortschritt behindern, nicht etwa die, die euphorisiert vergessen, andere zu überzeugen und Konsequenzen zu bedenken. „Variierende Akzeptanz“? – oder vielleicht blinder Digitalisierungsglaube, dessen Konzepte nicht zu Ende gedacht und jedenfalls ohne die betroffenen und involvierten Menschen entwickelt wurden? Womöglich ist es gerade diese Art der Digitalisierung, die Menschenleben gefährdet?

Datenschutzbedenken lebensgefährdend? Ein Déjà vu: Im Dezember 2022 gab die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Alina Buyx ein Interview zum Thema Digitalisierung und Datenschutz in der Süddeutschen Zeitung. Auf die Frage, ob „Sie als Medizinethikerin den Datenschutz nicht eigentlich hochhalten“ müsste, führte sie aus: „Die Kombination unseres strikten Datenschutzes mit der wenig pragmatischen Kultur der Datennutzung kostet Leben, da gibt es viele Beispiele.“ Auf Nachfragen habe ich nicht eines erfahren.

In der Diskussion um die Datennutzung stehen drei Aspekte im Vordergrund: die Forschung selbst, der Datenschutz und die Frage, wer was mit den Daten machen darf. Die Forschung wird dabei so gut wie gar nicht diskutiert. Es scheint vielmehr ausgemacht, dass man mit vielen Daten bahnbrechende Erkenntnisse gewinnt. Dass schon die Qualität dieser Daten, selbst die von gut geführten Krebsregistern, viele der gewünschten Erkenntnisse gar nicht erlaubt, wird nur hinter vorgehaltener Hand erwähnt. Und dass die mit dieser Art von Daten möglichen Methoden entweder eine hohe Datenqualität verlangen oder „Research Waste“ (also: „Müll“) bzw. „heiteres Raten“ produzieren, ist der wissenschaftlichen Weltliteratur auch zu Genüge zu entnehmen. Leider ist aber Müll – wie im richtigen Leben – nicht nur etwas zum Wegschmeißen, sondern er bindet Ressourcen, Rohstoffe, Energie, bei Herstellung und Entsorgung, Ressourcen, die man für die Herstellung von Qualitätsware einsetzen sollte.

Beim Datenschutz bedarf es zweifellos dringend einer Vereinheitlichung der Zuständigkeiten und der Interpretation der Regularien. Aber die „pragmatische“ Anwendung der Datenschutz-Gesetze und eine „Datenspende“, um die es zwar still geworden war, die nun aber als „Opt out“ Wiedergeburt feiert, haben eine ganz andere Dimension. „Vertrauensvorschuss“ sei gefragt, so der Bundestagsabgeordnete Matthias Mieves in einem kürzlichen Observer-Beitrag. Wir sollen schon mal bezahlen – mit unseren Daten, Rückforderung ausgeschlossen –, ohne dass wir wissen, ob es die angepriesene Ware überhaupt gibt. Wir werden Zeuge, wie sich Firmen und Forscher an den Daten zu schaffen machen, aber statt Erkenntnissen, die unserer Gesundheit dienen, erhalten wir chinesische Billigware ohne CE-Kennzeichen und die späte Erkenntnis, dass der Anbieter die bezahlte Ware gar nicht hat. Bei Internetkäufen hätte man in solchen Fällen wenigstens Rücktritts- oder Entschädigungsrechte. Hier nicht, es war ja eine „Spende“.

 

Das Gemeinwohl

Schließlich die Frage, wer etwas mit diesen Daten machen, damit „forschen“ darf. Dabei wird einerseits unablässig betont, wie bedeutsam die Forschung mit diesen Daten für das Wohlergehen der Bürger ist. Und um dies auch jedem schmackhaft zu machen, wurde der Begriff der gemeinwohl-orientierten Forschung geschaffen, ein menschen-freundliches, altruistisches Unterfangen, wie es den Anschein hat. Andererseits nimmt man nicht übermäßig überrascht zur Kenntnis, wer sein besonderes Interesse an diesen Daten artikuliert und denn auch gleich zum Ausdruck bringt, dass das „Opt out“ „vor dem Hintergrund des Gemeinwohlgedankens der Datenfreigabe … kritisch gesehen“ werde, so die Stellungnahme des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH) zum damaligen Referentenentwurf des Digital-Gesetzes (DigiG). Als ob (Pharma)-Unternehmen bisher jemals durch Forschung aufgefallen wären, die einen anderen Zweck verfolgt als die Vermarktung ihrer Produkte – legitim, aber eine jedenfalls äußerst strapazierte Interpretation von „Gemeinwohl“.

Passend dazu wurde durch das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) die Beschränkung, die der bisherige § 303e SGB V durch die Nennung von Institutionen, die auf die Daten zugreifen können, enthielt, vollständig beseitigt. Stattdessen entscheidet nur der beabsichtigte Zweck, den „natürliche und juristische Personen“ verfolgen, über die Berechtigung der Datennutzung. Die aufgeführten zehn Zweckbereiche sind aber so umfassend, dass faktisch keine Beschränkungen bestehen, solange man – eine Fingerübung – einen Zweck plausibel machen kann. Allein mit „wissenschaftlicher Forschung zu Fragestellungen aus den Bereichen Gesundheit und Pflege“ (Nummer 4. der Aufzählung) lässt sich ein ganzes Universum von Berechtigten kreieren. Und die „Entwicklung, Weiterentwicklung und Überwachung der Sicherheit von Arzneimitteln, Medizinprodukten, …“ (Nr. 9 der Aufzählung) bietet jeder Firma mit Mindestphantasie Zugriffsmöglichkeiten.

Laut Aussagen des Ministers „prüft und entscheidet das Forschungsdatenzentrum“, ob Forschungsanträge „wissenschaftlich relevant” sind (Interview in der „Rheinische Post“ am 9.8.2023). Was sich in diesem Zusammenhang aber hinter der Aufgabe 3. des Forschungsdatenzentrums (FDZ; § 303d SGB V) genau verbirgt, „Anträge auf Datennutzung zu prüfen“, bleibt offen. Hinweise zu dieser seit 2019 bestehenden Aufgabe gibt es auch auf der Internetseite des FDZ nicht. Dort findet man allerdings außer blumigen, schlagwort-gespickten Texten sowieso nicht viel. Die neueste Meldung unter „Aktuelles“ stammt aus April 2023. Ist bei so viel institutionellem Schweigen „Vertrauensvorschuss“ nicht etwas viel verlangt?

Und dann blickt man in den aktuellen Entwurf des Medizinforschungsgesetzes und liest in der Präambel: „… werden die Rahmenbedingungen für die Entwicklung, Zulassung und Herstellung von Arzneimitteln und Medizinprodukten verbessert. Dies stärkt die Attraktivität des Standorts Deutschland im Bereich der medizinischen Forschung, beschleunigt den Zugang zu neuen Therapieoptionen für Patientinnen und Patienten und fördert Wachstum und Beschäftigung.“ Keine Rede davon, dass das wesentliche Ziel solcher Forschung eine Verbesserung der Versorgung ist und sein sollte. „Patientendienlichkeit“ (https://tinyurl.com/4avu26bk) ist etwas anderes als „beschleunigter Zugang“, der in Deutschland ohnehin schon geschmiert ist wie in kaum einem anderen Land.

Und wie es mit der „wissenschaftlichen“, „gemeinwohl-orientierten“ Forschung der (Pharma)-Industrie weiter gehen wird, ist auch absehbar: Nur wenn die Anträge der Interessierten „wissenschaftlich relevant” sind, „dürfen sie die Daten auswerten“, so der Minister. Aber abgesehen von der unendlichen Dehnbarkeit dieses Begriffes muss man kein Diplom-Politikwissenschaftler sein, um hier ein – sagen wir – gewisses Spannungsverhältnis zum gleichzeitig formulierten Ziel zu sehen „die Standortbedingungen für die Pharmaforschung und die Produktion in Deutschland … deutlich (zu) verbessern“. Man kann also Wetten dazu abschließen, was in dieser Spannung wohl Priorität bekommt, Industrie-Standort Deutschland oder Wissenschaft (mit dem Ziel der Prävention und besseren Versorgung kranker Menschen). Kleiner Tipp für Wettlustige: Die Wissenschaft ist es nicht.

Vielleicht sollte man also bei Gelegenheit einmal die Bürger darüber aufklären, dass ihre Kassenbeiträge nicht etwa ausschließlich dafür eingezogen werden, um ihrer Gesundheit zu dienen, sondern dass ein relevanter Teil davon als Wirtschaftsförderung – auch zur Digitalisierung – zweckentfremdet wird und mit dem Ziel, „die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern“ (§ 1 SGB V), nicht viel zu tun hat.

 

 

Lesen Sie weitere Beiträge des Autors:

„Der Check heiligt die Mittel – ein Update“, Observer Gesundheit, 16. Dezember 2023,

„Der Check heiligt die Mittel“, Observer Gesundheit, 31. Oktober 2023,  

„Die Gesundheits-Nina”, Observer Gesundheit, 20. September 2023,

„Der digitale Zwilling und andere Wundertüten der Nutzenbewertung“, Observer Gesundheit, 26. Oktober 2022,

„Traurige Forschungskultur und fehlender politischer Wille“, Observer Gesundheit, 10. November 2021,

„Deutscher Versorgungsalltag statt kleinster europäischer Nenner“, Observer Gesundheit, 31. Januar 2020.


Observer Gesundheit Copyright
Alle politischen Analysen ansehen