20.07.2018
„Auf das Nettogehalt der Pflegekräfte kommt es an“
Interview mit Thomas Meißner
Mehr Stellen, mehr Wertschätzung, Unterstützung aus dem Ausland, kein Schulgeld für die Ausbildung – die Vorschläge, um zusätzliche Pflegefachkräfte zu gewinnen, sind vielfältig. Die Bundesregierung lässt nichts unversucht, um das Problem Pflege in den Griff zu bekommen. Für Thomas Meißner, Vorstand im AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen e.V. (AVG), Mitglied im Deutschen Pflegerat sowie Geschäftsführer eines ambulanten Pflegedienstes, sind die Maßnahmen zu unkonkret. Kurzfristige Abhilfe könnten Steuerfreibeiträge für jene Pflegekräfte bringen, die unmittelbar die Patienten pflegen. Die bessere Bezahlung der Pflegekräfte hat oberste Priorität und sie ist eine hoheitliche Aufgabe.
Herr Meißner, wie stellt sich für Sie die derzeitige Situation in der Pflege dar?
Pflege ist im Augenblick nicht der attraktivste Beruf, um nicht zu sagen unattraktiv. Nicht von den Inhalten, da macht er Spaß und man kann sich verwirklichen. Aber die Rahmenbedingungen sind schlecht. In Deutschland ist das System knapp auf Kante gestrickt, am Limit, und es setzt die Pflege permanent unter Druck. Im ambulanten Bereich haben wir beispielsweise die Minutenpflege. Das ist keine Erfindung der Pflege. Das ist Stress pur. Zudem ist das Verhältnis Pflegekraft-Patienten in Deutschland eins zu zehn bzw. zwölf. In Norwegen liegt es beispielsweise bei eins zu drei, eins zu vier. Da macht Pflege Spaß.
Die Bundesregierung hat aber die Misere erkannt: Konzertierte Aktion Pflege ist ausgerufen, die Verordnung zum Pflegeberufegesetz geht in den Bundesrat. Es tut sich doch was?
Die Konzertierte Aktion Pflege ist allerdings eine symbolische Sache nach außen. Drei Bundesministerien, die eine Aktion initiieren, wirken für die Bevölkerung, als wenn die halbe Bundesrepublik die Pflege verbessern will. Das ist löblich und richtig. Doch erst nach zwölf Monaten sollen hier Ergebnisse vorliegen. Wir brauchen Taten und zwar sehr, sehr konkrete.
Aber im Pflegestärkungsgesetz werden doch klare Vorhaben formuliert: 13.000 neue Stellen, im Krankenhaus werden die Pflegekräfte eins zu eins bezahlt, mehr betriebliches Gesundheitsmanagement in den Pflegeeinrichtungen?
Keine Frage. Doch was heißt das denn: Für jede stationäre Pflegeeinrichtung gibt es eine zusätzliche Pflegekraft. Im ambulanten Bereich ist nichts vorgesehen. Zusätzlich sollen die Pflegekosten im Krankenhaus ausgegliedert werden. Was wir brauchen, ist nicht, was die Pflege in den einzelnen Bereichen – Krankenhaus, ambulanter Pflegedienst, Pflegeheime – auseinandertreibt, sondern was die Pflege zusammenführt. Die Konsequenz dieses Gesetzes ist doch, dass keiner mehr in den ambulanten Pflegebereich gehen will.
Die konkreten Maßnahmen sehe ich seitens der Bundesregierung wohl. Aber sind sie realistisch? Was heißt denn betriebliches Gesundheitsmanagement? Ist das die Massage, mehr Urlaub, der Zuschuss für das Fitnessstudio? Damit bekommen wir aber auch nicht mehr Mitarbeiter. Was uns nur hilft, ist eine bessere Bezahlung: Das ist eine hoheitliche Aufgabe – keine von Kranken- oder Pflegeversicherungen oder von Versicherten oder Sozialhilfeträgern. Das ist Aufgabe des Staates. Pflege kann man nicht einfach unterlassen oder die Einrichtungen schließen. Darauf haben die Menschen ein Recht.
Was müsste kurzfristig passieren, um die Pflegesituation zu entschärfen?
Das geht nur über Finanzen. Auf das Nettogehalt der Pflegekräfte kommt es also an. Mein Vorschlag ist, Steuerfreibeträge für die Pflegekräfte, die direkt am Patienten arbeiten – das ist mir wichtig und entscheidend – zu erlassen. Jährlich sind 5.000 oder 10.000/12.000 Euro denkbar. Die Steuerfreibeträge sind ein bekanntes Instrument in Deutschland, Finanzämter arbeiten damit. Wir haben Kinderfreibeträge, Steuerfreibeträge für ehrenamtliche Tätigkeit – da braucht man keine große Bürokratie. Es gilt nur festzulegen, wer dazu gehört: die Mitarbeiter, die am Bett oder am Patienten sind. Dann schaffen wir es vielleicht auch, dass viele akademisierte Pflegekräfte zurück in die Pflege kommen oder Menschen, die bisher in Teilzeit oder als Aushilfe gearbeitet haben, in die Pflege komplett zurückfinden. Dieser Weg scheint mir derzeit der wirksamste, um Mitarbeiter zu gewinnen. Das kostet den Steuerzahler rund zwei Milliarden Euro. Dann hätte man einen Anreiz. Zudem würden wir die Finanzierung weg von der Pflege- bzw. Krankenversicherung hinbekommen.
Der Bundesgesundheitsminister hat nun aber gesagt, dass er für mehr Geld in der Pflege nicht an den Finanzminister herantreten will. Der Beitragssatz für die Pflegeversicherung soll erhöht werden. Der richtige Weg?
Das ist ein Fehler. Das Thema Pflege ist bei der Politik wohl angekommen, aber es darf nichts kosten. Da müssen wir offenbar eine intensive gesellschaftliche Diskussion führen. Pflege ist eine hoheitliche Aufgabe, wie die Feuerwehr oder auch der Rettungsdienst. Wenn die Pflegestunde 50 oder 60 Euro kostet und die Angehörigen sagen, dass dies nicht bezahlt werden kann, ist das nicht das Thema der Pflegekraft oder der Pflegeeinrichtung. Es muss eine Antwort gefunden werden auf die Frage: Was ist Pflege und was soll sie leisten, wie sieht die Versorgung aus? Derzeit wird die Pflegeversicherung zur Finanzierung herangezogen. Das ist jedoch ein gedeckeltes System und führt zur Leistungseingrenzung; je höher der Eurowert der Pflege steigt. Das kann und darf nicht sein. Die Politik muss also auch den Mut haben, zu sagen, was wir uns nicht leisten können.
Herr Spahn hat nun ausländische Arbeitskräfte ins Spiel gebracht, können die nicht aushelfen?
Das Problem werden wir damit nicht lösen. Und letztlich nehmen wir diesen Ländern qualifizierte Pflegekräfte weg. Jedoch jeder, der freiwillig zu uns kommt und arbeiten will, ist herzlich willkommen.
Die Attraktivität des Berufes wird besser, wenn wir Aufgaben anders verteilen. Wir haben in Deutschland ein arztzentriertes System. Es wird grundsätzlich von ärztlichem und nichtärztlichem Personal geredet, dazu gehören Pflegekräfte, aber auch Physiotherapeuten oder Logopäden. Das ist wie göttlich und nicht göttlich, eine Unverschämtheit. Wir brauchen ein kompetenzorientiertes System, brauchen Durchlässigkeit in den Berufen. Und Wertschätzung zeigt sich auch, dass wir für die Akademisierung der Pflege sind.
Dann wären da doch noch die Leasing-Kräfte zur Rettung der Situation?
Der Markt hat sich hier in den vergangenen Jahren komplett gedreht. Meine Kompetenz, qualitativ hochwertige Pflege durchzuführen, ist derzeit nicht gefragt. Früher bekam die Leasing-Kraft jene Arbeit zugeteilt, die von den anderen Mitarbeitern nicht gemacht werden wollte und konnte. Heute ist das umgekehrt. Jetzt sagt die Leasing-Kraft, dass sie nicht nachts oder am Wochenende arbeiten will. Und die Stammbelegschaft springt dafür ein. Da ist etwas krank im System. Wenn Work-Life-Balance nur noch über Leasing geht, dann muss sich etwas ändern. Nicht die Mitarbeiter der Leasingfirmen sind das Problem – das sind jene aus der Pflege, die nach Lösungen für ihr eigenes Lebensmodell suchen. Die ungleichen Voraussetzungen zwischen Leasing und „Direktversorgungseinrichtungen“, wie Krankenhäuser, Langzeitpflege oder ambulante Dienste, sind das Problem.
Und: Die Leiharbeitsfirmen haben nicht die Verantwortung für die Sicherstellung der Pflege, die liegt einzig und allein in den Händen der Pflegeeinrichtungen. Sie müssen den Versorgungsauftrag, den die Krankenkassen haben und über die Einrichtungen sicherstellen, erfüllen. Und zurück zu meinem Steuermodell-Vorschlag. Wenn nur jene Pflegekräfte davon profitieren, die zudem in den Gesundheitseinrichtungen arbeiten, würde Leasing herausfallen. Dann hätten wir nicht die Anreize in die falsche Richtung.
Bringt der flächendeckende Tarifvertrag in der Pflege Abhilfe?
Derzeit bezahlen die Kostenträger, also Kassen, keine festgelegten Samstags- und Sonntags-, Feiertags-Zuschläge. Die sind für Arbeitgeber zwar gesetzlich vorgeschrieben, sollen bei den Kassen aber in einer Pauschale enthalten sein. Das ist schon bedenklich, wenn auch sie jetzt vom flächendeckenden Tarifvertrag reden – gleichzeitig die Zuschläge für außergewöhnliche Zeiten nicht gezahlt werden. Wichtig ist, dass das Geld die Mitarbeiter erreicht. Hier sind die Unternehmen in der Pflicht. Bei besserer Bezahlung von Pflege kommen aber auch mehr Kosten auf die zu Pflegenden oder auf die Sozialhilfeträger, sprich die Gesellschaft, zu.
Und machen wir uns nichts vor: Unternehmen, die nach Tarif bezahlen, haben ebenso einen Fachkräftemangel zu beklagen. Es geht um die individuellen Arbeitsstrukturen, wo der Mitarbeiter im Mittelpunkt stehen muss und nicht in erster Linie um gewerkschaftliche Strukturen.
Wie können die aussehen, haben Sie derzeit überhaupt Spielräume?
Die Mitarbeiter sind ein hohes Gut. Wer nicht freundlich zu seinem Personal ist und nicht begreift, dass die Mitarbeiter das höchste Gut sind, hat am Markt verloren. Dem laufen die Mitarbeiter über kurz oder lang weg. Arbeitgeber und Mitarbeiter brauchen sich und gehören zusammen. Bei Großunternehmen mag das anders aussehen, aber in mittelständischen Betrieben kann es nicht anders laufen. Wir haben in unserem Pflegedienst selbst 80 Mitarbeiter und Probleme, freie Stellen nachzubesetzen. Bei einer Zeit von einem halben, bis zu einem Dreivierteljahr, um eine Stelle zu besetzen, wird das Ausmaß deutlich.
Müssen Sie Pflegebedürftige abweisen?
Ja, pro Woche weisen wir zwei bis sechs Pflegebedürftige ab, weil wir die Mitarbeiter dafür nicht haben. In unserem Verband mit rund 100 Einrichtungen sind das zwischen 1.000 und 2.000 Patienten im Monat.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Dienstplänen sagen. Work-Life-Balance hört sich toll an, aber derzeit lässt es die Situation nicht zu, dass die Mitarbeiter flexibel, jeder wie er es möchte, eingesetzt werden können. Jede Umsetzung von individuellen Wünschen des Einen blockiert in der Regel die individuelle Umsetzung des Anderen. Damit Patienten kontinuierlich versorgt werden sollen, brauchen wir genau hier die realistische Diskussion um Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Wo sehen Sie die Pflege in zehn Jahren?
Das wird davon abhängen, ob Pflege die Selbstverwaltung in die eigene Hand nimmt, einheitlich. Ich hoffe es sehr. Denn derzeit hat die Pflege keine eigene Stimme. Die braucht sie aber und sie muss liefern – aus ihrem Berufsbild heraus. Wenn Sie den Präsidenten der Pflegekammer Rheinland-Pfalz fragen, was sich seit der Gründung der Kammer verändert hat, sagt er: Ich werde bei allen Themen um Pflege gefragt. Seine Meinung ist wichtig, wird wahrgenommen. Darum geht es.
Das Interview führte Fina Geschonneck.
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