IGES-Gutachten zum AOP-Katalog: Der gute Aufschlag zeigt Entwicklungsbedarf

Dr. Robert Paquet

Das allgemeine Wohlwollen, mit dem das IGES-Gutachten zur Erweiterung des ambulanten Operierens (AOP-Katalog) [1] aufgenommen wurde, verdeckt vorläufig die dahinterstehenden Konflikte. Die Krankenkassen wollen vor allem Geld sparen und viele Leistungen von den Krankenhäusern in den ambulanten Bereich umlenken. Auch die niedergelassenen Ärzte wollen den Krankenhäusern Leistungsbereiche abjagen, aber die Vergütung soll sich für sie lohnen. Die Krankenhäuser sehen ihre Rettung – angesichts sinkender Fallzahlen – in der weiteren (am besten generellen) Öffnung für die fachärztliche Behandlung, aber mit der Vorstellung, dass sie selbst darüber entscheiden, was sie ambulant oder stationär durchführen.

Dafür müsste die Vergütung für die ambulante Erbringung für sie profitabler sein als die stationären DRGs. Man sieht: Die Gefechtslage in der Selbstverwaltung ist stets mit Ideen zur Vergütung bzw. Honorarverteilung verbunden. Die Vorschläge zu einer Erweiterung des AOP-Katalogs sind somit nur der erste Schritt auf einem dornigen Weg. Einige Umsetzungsprobleme deuten sich bereits im vorliegenden Gutachten an.

 

Konsens der Vertragsparteien als diplomatischer Erfolg

Das ambulante Operieren (nicht nur im Krankenhaus) ist in § 115b SGB V geregelt. Dabei ist der Gesetzgeber der Auffassung, dass „das Potenzial für ambulante Operationen derzeit in Deutschland nur unzureichend ausgeschöpft wird“. Deutschland gehöre zu den Ländern, „in denen im internationalen Vergleich Operationen überdurchschnittlich häufig stationär durchgeführt werden. Einer der Gründe hierfür dürfte sein, dass der AOP-Katalog nach § 115b Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 in den Jahren seit 2005 nur marginal überarbeitet worden“ sei (Begründung MDK-Reformgesetz, BT-Drs. 19/13397, Seite 55). Aus diesem Grund sollte eine „substanzielle Erweiterung des AOP-Katalogs“ vorbereitet werden. Dazu wurden die Vertragsparteien im MDK-Reformgesetz verpflichtet, „kurzfristig ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag zu geben“, in dem die entsprechenden Möglichkeiten untersucht werden sollten. Das Gutachten wurde an das IGES-Institut, Berlin, vergeben. Es sollte bis zum 31. Januar 2022 vorgelegt werden. Seine Veröffentlichung Anfang April, also mit nur zwei Monaten Verzögerung, ist angesichts der Komplexität der Aufgabe und der schwierigen Begleitumstände (Corona) eine bemerkenswerte Leistung. Angesichts der heterogenen Interessenlagen der Auftraggeber auch ein diplomatischer Erfolg.

Das Gutachten empfiehlt rund 2.500 medizinische Leistungen, die neu in den AOP-Katalog aufgenommen werden sollten. Wer nun denkt, dass es angesichts dieser „Verdoppelung“ des AOP-Katalogs demnächst einen gewaltigen Schub beim ambulanten Operieren geben könnte, dürfte bald enttäuscht werden. Es gibt wesentliche Hürden, wie die Kontextprüfung, die Bestimmung und Vergütung der Schweregrade, neue Definitionen bei DRGs und OPS, die Entwicklung neuer Strukturen der Versorgung (z.B. der Nachsorge) etc. Aber der Reihe nach.

 

Ergebnisse des Gutachtens

Bislang zählt der AOP-Katalog 2.879 Leistungen. Neu hinzukommen könnten 2.476 Leistungen (gemäß OPS), ein Plus um 86 Prozent auf insgesamt 5.355 Leistungen. Die meisten der für eine Erweiterung vorgeschlagenen Leistungen, rund 60 Prozent (1.482 Leistungen), sind Operationen, vor allem Operationen an der Haut, am Auge sowie am Muskel- und Skelettsystem. Zweithäufigste Neuaufnahme mit 546 Leistungen sind diagnostische Maßnahmen wie diagnostische Endoskopien. Erarbeitet hat das IGES Institut den neuen AOP-Katalog in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Gesundheitsforschungsinstitut Gesundheit Österreich. Dies erfolgte im Rahmen eines Gutachtens für die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), den GKV-Spitzenverband sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG). Die drei Organisationen der Selbstverwaltung vereinbaren § 115b SGB V den AOP-Katalog (Katalog ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen) sowie eine für Krankenhäuser und niedergelassene Vertragsärzte einheitliche Vergütung der darin enthaltenen Leistungen.

Die für eine Erweiterung des AOP-Katalogs empfohlenen Operationen und Prozeduren wurden im Jahr 2019 insgesamt rund 15 Millionen Mal zur vollstationären Behandlung von Patienten durchgeführt. Das entspricht mehr als einem Viertel aller etwa 58 Millionen vollstationär erfolgten Leistungen. Nur ein Teil davon wird jedoch künftig ambulant erbracht werden können. Das liegt an dem von den Gutachtern verfolgten „potenzialorientierten Ansatz“. Maßgeblich war dabei, dass überhaupt die Möglichkeit einer ambulanten Erbringung einer Leistung besteht. Berücksichtigt wurden hierbei auch Leistungen, die derzeit in AOP-nahen Versorgungsbereichen im Krankenhaus erbracht werden (etwa bei vor- oder teilstationären Behandlungen, stationären Behandlungsfällen mit kurzen Liegezeiten) oder die im Zusammenhang mit ambulant-sensitiven Diagnosen stehen, also Erkrankungen, die in der Regel ambulant versorgt werden könnten und dementsprechend häufiger von Fehlbelegungsprüfungen des MD betroffen sind.

Im Rahmen dieses „offenen Ansatzes“ empfehlen die Gutachter die Einrichtung eines Prüfverfahrens, mit dem die Kliniken fallindividuell begründen können, warum doch eine stationäre Durchführung der Behandlung erforderlich ist (siehe unten zur „Kontextprüfung“). Hinter diesem Ansatz steht die grundsätzliche Auffassung, dass es im Hinblick „auf das gesetzliche Ziel einer möglichst umfassenden Ambulantisierung“ sinnvoll sei, „auch Leistungen mit nur vergleichsweise geringen ambulant durchführbaren Anteilen einzubeziehen“ (S. 5 KF[2]). Außerdem stelle die Feststellung „eines vergleichsweise geringen ambulant durchführbaren Leistungsanteils …  eine Momentaufnahme dar“ (ebenda). Die Einschätzung könne sich durch den medizinisch-technischen Fortschritt oder die Weiterentwicklung der Versorgungskapazitäten etc. verändern. Über eine generelle Einstufung der ambulanten Durchführbarkeit einer OPS-Position lasse sich somit nach Ansicht der Gutachter „nur in Ausnahmefällen ein fachlicher oder wissenschaftlicher Konsens erzielen“. Das sei „auf den Umstand zurückzuführen, dass die Möglichkeiten einer ambulanten Durchführung maßgeblich von leistungs- und patientenbezogenen Kontextfaktoren abhängen.“ (ebenda)

 

Methodisches

Auch mit Hilfe eines vorgeschalteten internationalen Vergleichs wurden die Potenziale der Ambulantisierung gesichtet. Bei der Entscheidung für eine ambulante oder stationäre Durchführung einer Leistung seien dabei in den betrachteten Ländern (Österreich, die Schweiz, Großbritannien, Dänemark und die USA) nicht nur rein medizinische Kriterien relevant, sondern immer auch Aspekte der postoperativen Betreuungsmöglichkeiten und des sozialen Umfeldes der Patienten. Dabei sei beim Vergleich zu berücksichtigen, dass in England und Dänemark die Ambulantisierung vor allem innerhalb der Krankenhäuser stattfinde, weil dort die fachärztliche Versorgung primär von den Krankenhäusern übernommen wird. Außerdem werde die Ambulantisierung in einigen der Vergleichsländer „von umfassenden Maßnahmen zur Schaffung von Qualitätstransparenz und zur Qualitätssicherung begleitet“ (S. 2 KF).

Zur Ableitung der Empfehlungen wurden die „gegenwärtig nicht im AOP-Katalog enthaltenen OPS-Leistungen … anhand übergeordneter medizinischer Kriterien hinsichtlich der Möglichkeit einer ambulanten Durchführung kategorisiert. Zu diesen Kriterien zählen u.a. Eingriffsintensität, Blutungsrisiken, kritische Lage der Organe, gravierende akute Behandlungsanlässe und primärer Wundverschluss.“ (S. 6 KF) In Zweifelsfällen wurden „von den jeweils fachlich betroffenen medizinischen Fachgesellschaften Stellungnahmen eingeholt. Darüber hinaus wurden Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Fachliteratur herangezogen.“ (S. 7 KF) Dabei ist die schlichte Anzahl der OPS-Leistungen, die zur Weiterentwicklung des Katalogs empfohlen werden, „jedoch für eine Einschätzung der Versorgungsrelevanz nur von sehr begrenzter Aussagekraft, allein schon aus dem Grund, dass sich die Differenzierungstiefe bei der Leistungsdefinition bzw. -abgrenzung in den einzelnen OPS-Abschnitten teilweise deutlich unterscheidet.“ (S. 8 KF)

 

Kontextprüfung

„Von entscheidender Bedeutung für den gewählten Ansatz ist jedoch eine systematische fallindividuelle Prüfung von Kontextfaktoren …. … Der Ansatz zielt darauf ab, eine umfassendere Ambulantisierung bei gleichzeitiger Wahrung der Patientensicherheit zu erreichen.“ (S. 6 KF) Bei der Kontextprüfung, die nur bei stationärer Durchführung dokumentiert werden soll, werden neun Faktoren unterschieden. Zu den vier „leistungskontextbezogenen Faktoren“ zählen Fälle, bei denen (1) die betreffende OPS-Leistung im Rahmen einer DRG-Leistung erbracht wird, die nach dem DRG-Katalog grundsätzlich stationär durchzuführen ist oder (2) die in Kombination mit anderen OPS-Leistungen erbracht wird, die als nicht ambulant erbringbar kategorisiert sind. Hinzukommen (3) viele Beatmungsfälle und (4) die Kombination mehrerer AOP-Leistungen, die zu einer hohen Behandlungskomplexität führt. Zu den fünf „patientenbezogenen Kontextfaktoren“ zählen (5) „besonderer Betreuungsbedarf“ (z.B. bei psychiatrischen Erkrankungen), (6) „Diagnosekontext“, wenn bei Patienten eine zwingend stationär behandlungsbedürftige Erkrankung vorliegt (z. B. Herzinfarkt, Sepsis, Schlaganfall), (7) „Frailty-Status“ und (8) „soziale Begleitumstände“ (Möglichkeit ausreichender Überwachung und Nachbetreuung der Patienten in ihrer häuslichen Umgebung).

Das Prüfverfahren ist so konzipiert, dass es sich praktikabel und ohne größeren administrativen Mehraufwand umsetzen lässt. Kliniken können dafür bereits existierende Routinedokumentationen nutzen und automatisiert auswerten. Dieses Konzept soll auch dazu beitragen, künftig arbeitsaufwändige Prüfungen durch den Medizinischen Dienst (MD) zu vermeiden. „Ein wesentliches Funktionsprinzip der Kontextprüfung ist, dass jeder Kontextfaktor für sich genommen eine stationäre Durchführung begründen kann. Es gibt weder eine Hierarchisierung noch eine Kumulation oder Verrechnung der einzelnen Faktoren.“ (S. 12 KF).

 

Schweregraddifferenzierung

Gleichzeitig ist das System der Kontextfaktoren mit der vergütungsrelevanten Schweregraddifferenzierung verschränkt (vgl. § 115b Abs. 1 Satz 4). Schweregrad und Behandlungskomplexität werden zwar aus unterschiedlichen Perspektiven operationalisiert, haben aber unterschiedliche Bedeutung. Durch die Abstufung der Kontextfaktoren können auch Patienten identifiziert werden, die einen erhöhten Versorgungsaufwand bei ambulanter Durchführung benötigen. Anhand dieser Faktoren lassen sich die zu vereinbarenden sektoreneinheitlichen Vergütungen nach dem Schweregrad des Behandlungsfalles differenzieren und erhöhte Versorgungsbedarfe berücksichtigen. Dies können etwa zusätzliche Nachbetreuungs- und Nachsorgeleistungen sein, wie pflegerisch betreute Übernachtungen in einer ambulanten Einrichtung oder postoperative Patientenbesuche zu Hause, um den Heilungsverlauf, die Medikation oder Wunden zu kontrollieren. Dabei betonen die Gutachter, dass eine „substanzielle Ausweitung der Möglichkeiten, Operationen und Eingriffe ambulant durchzuführen“ insbesondere von der Sicherstellung dieser postoperativen Nachbetreuung und Nachsorge abhängig sei. Das betreffe „vor allem die Erschließung von Ambulantisierungspotenzialen bei Eingriffen mit erhöhten Risiken.“ (S. 13 KF)

Die vergütungsrelevante Schweregraddifferenzierung schließe „sich immer dann einer Kontextprüfung an, wenn sich aus letzterer keine Begründung für die stationäre Durchführung einer AOP-Leistung ergibt“. In diesem Fall wäre auch „nur die Information zu dokumentieren, die für den erhöhten Schweregrad eines Kontextfaktors relevant ist.“ (S. 14 KF)

 

Wie geht es weiter?

Trotz der politischen Hoffnungen auf eine beschleunigte Ambulantisierung von bisher stationär erbrachten Leistungen wird es nur relativ langsam weitergehen. Das wissen auch die Gutachter und bremsen die Erwartungen. Das Ambulantisierungspotenzial der Erweiterung des AOP-Katalogs lasse sich „nicht exakt abschätzen …, da bislang keine empirischen Ergebnisse des vorgeschlagenen Systems der Kontextprüfungen vorliegen“. (S. 14 KF)

Die Kontextprüfung bildet einen wesentlichen Teil der Schweregraddifferenzierung. Auch wenn die hierfür verwendeten Kontextfaktoren so operationalisiert seien, „dass sie eine Ja-Nein-Entscheidung ermöglichen, ob die stationäre Durchführung einer Leistung bzw. Behandlung begründet ist“ (ebenda), stehen solchen Entscheidungen weitere Hürden entgegen. Für einen Teil der Leistungen fehlten für die Ambulantisierung „zusätzliche Voraussetzungen struktureller, organisatorischer oder regulatorischer Art. Daher bietet es sich an, die Erweiterung des AOP-Katalogs stufenweise und im Sinne eines ‚lernenden Systems‘ umzusetzen“. (S. 15 KF). Welche Leistungsbereiche zur ersten Stufe gehören könnten, ist dabei noch offen.

Zu den regulatorischen Aufgaben gehören einerseits Anpassungen von Leistungsdefinitionen im OPS-Katalog, andererseits Modifikationen einiger DRGs, deren Beschreibung die ambulante Leistungserbringung bisher ausschließt. Noch entscheidender wird sein: „Bei einem Teil der empfohlenen Leistungen ergeben sich erweiterte Möglichkeiten einer ambulanten Durchführung, wenn die Patientensicherheit durch eine zeitlich ausgedehnte und intensivere postoperative Nachbetreuung erhöht werden kann. Bei einer substanziellen Erweiterung des AOP-Katalogs dürften gegenwärtig die strukturellen bzw. organisatorischen Voraussetzungen fehlen, um eine solche erweiterte ambulante Nachsorge regulär zu gewährleisten. Hierfür bedarf es eines regulatorischen Rahmens für eine differenzierte Leistungsdefinition, die Indikation bzw. die Verordnung, die organisationsbezogene Zuständigkeit und die Finanzierung entsprechend geeigneter Nachsorgestrukturen.“ (ebenda) In England und Dänemark gibt es dafür spezialisierte Einrichtungen („Patientenhotels“) oder auch für die Betreuung von „Beobachtungsfällen“. Wenn solche Angebote jedoch nicht an Kliniken angegliedert sind, ist ihre Funktionalität im Sinne der Patientensicherheit auch abhängig von einer guten Notfallversorgung. Auch hier ist der Reformbedarf in Deutschland bekannt.

 

Konfliktpotenzial

Die konzeptionelle Entwicklung der „Kontextprüfung“ war vor dem Hintergrund der heterogenen Interessen der Auftraggeber nicht einfach. Es war zu befürchten, dass die Begründung der stationären Durchführung einer AOP-Leistung mit massivem bürokratischem Mehraufwand verbunden wäre und eher zusätzliche Prüfanlässe für den MD schüfe, als sie – entsprechend den Intentionen des Gesetzgebers – zu verringern. Die entsprechenden Ängste liegen hinter der von den Gutachtern immer wieder herausgestellten Möglichkeit, die Kontextprüfung mit bereits existierenden Routinedaten umzusetzen und weitgehend automatisiert zu vollziehen. Wieweit das in der Praxis klappt, bleibt abzuwarten.

Vor allem die „soziale Indikation“ wurde als Einfallstor für die Beibehaltung der stationären Leistungserbringung gesehen. Neben dem „Frailty-Status“, für den immerhin fachlich akzeptierte Skalen existieren, ist hier der Begründungspielraum eher offen. Der Mangel an institutionellen Betreuungsangeboten im ambulanten Bereich ist dabei eklatant. Ihr Ausbau wäre erforderlich. Aber auch im Vorfeld, gleichgültig ob die Leistung im Krankenhaus oder von Vertragsärzten erbracht wird, wären ‚Patientenedukation“ und organisatorische Vorbereitungen erforderlich. Offen ist dabei, wie deren Finanzierung in die AOP-Vergütungen eingeht und wie sie dann die Wettbewerbssituation zwischen den Sektoren beeinflussen wird.

Dabei ist schwer abzuschätzen, wie sich die Verteilung der AOP-Leistungen künftig entwickeln wird. Wer sind die Gewinner und Verlierer? Nach Angaben des Gutachtens nimmt z.B. die Anzahl ambulanter Operationen auf Basis des AOP-Kataloges, die in Krankenhäusern erfolgten, seit 2011 durchschnittlich um 1,1 Prozent pro Jahr ab.

Die drei Vertragspartner bezeichnen das Gutachten übereinstimmend als gute Grundlage für ihre kommenden Verhandlungen. Doch eigentlich sollte der entsprechende Vertrag (einschließlich der Vergütungsregelungen) nach dem Gesetzestext bereits Ende Januar geschlossen sein. Der von Minister Spahn aufgebaute Zeitdruck hat sich somit wieder einmal als Popanz erwiesen.

Im Falle des Nicht-Zustandekommens sollte das sektorenübergreifende Schiedsgremium entscheiden. Dafür bietet das Gutachten jedoch keine praktikable Grundlage. Außerdem wird die Zusammensetzung dieses Gremiums als „unausgewogen“ kritisiert: Dort könnten sich im Konfliktfall die Krankenhäuser und die Vertragsärzte gemeinsam gegen die Interessen der Beitragszahler durchsetzen. „Wenn zwei Stimmen der Krankenkassen zwei Stimmen der Ärzte und zwei Stimmen der Krankenhäuser gegenüberstehen, kann es zu keinem fairen Interessenausgleich kommen und keine ausgewogenen Entscheidungen geben. Es bedarf hier schnell einer gesetzlichen Neuregelung“, erklärte die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann[3].

 

Fazit

Die schwierigste Herausforderung dürfte die im Gesetz geforderte Vereinbarung der „einheitlichen Vergütung für Krankenhäuser und Vertragsärzte“ sein. In § 115b Abs. 1 Satz 4 wird dafür der einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) als Ausgangsbasis vorgeschrieben. Der Gesetzgeber hatte das damals wie folgt begründet: „Damit soll vermieden werden, dass mit der Vergütung der Katalogleistungen als sektorengleiche Leistungen ein dritter Sektor unkoordiniert neben dem stationären und dem ambulanten Sektor entsteht und neue Schnittstellenprobleme geschaffen werden. Dadurch bleibt eine gewisse Kongruenz zu den übrigen ambulanten Leistungen gewährleistet.“ (Begründung MDK-Reformgesetz, S. 55) Ob sich der Gesetzgeber damit einen Gefallen getan hat, kann derzeit schwer beurteilt werden. Einerseits ist die geforderte Einheitlichkeit der Vergütung ein Hindernis dafür, die ambulante Erbringung einer AOP-Leistung im Sinne von Incentives höher zu vergüten. Was nach einer gewissen Übergangszeit die ambulante Erbringung zur Routine machen könnte. Eine solche Regelung gibt es z.B. (zeitlich befristet) in England.

Andererseits spielen hier die „Hybrid-DRGs“ eine irritierende Rolle. Sie werden von manchen als Lösung der anstehenden Probleme gesehen. Unter „Hybrid-DRGs“ stellt sich jedoch jeder etwas Anderes vor, je nach dem, was er gerade für Interessen hat: Die Krankenhäuser wollen eine Vergütung, die von den DRGs ausgeht und nur gewisse Abschläge für die einzusparenden „Hotelkosten“ einräumt. Das würde den Niedergelassenen, die von einer EBM-Vergütung der entsprechenden Leistungen herkommen, ggf. auch gefallen. Noch besser wäre es, wenn es Zuschläge für die vertragsärztliche Erbringung gäbe. Die Krankenkassen wollen es jedoch möglichst billig haben. Schließlich wurden die „Hybrid-DRGs“ sogar als Projekt in den Koalitionsvertrag der Ampel aufgenommen. Damit wurde eine neue Runde der Wunsch-Projektionen zu diesem Begriff eingeläutet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die gesetzliche Regelung erneut angefasst wird bzw. werden muss.

Das wesentliche Ergebnis des Gutachtens ist der Vorschlag zur AOP-Erweiterung. Hinzu kommt die Entwicklung der „Kontextprüfung“ und der Grundlage für die Schweregraddifferenzierung. Entscheidend ist dabei der Grundsatz: Nicht der Sektor entscheidet über die Vergütung, sondern die Patientenmerkmale. Angesichts der Gemengelage der Interessen und Probleme bleibt es jedoch spannend. Das Gutachten bietet zwar eine gute Grundlage für die weiteren Verhandlungen. Es ist aber „nur ein Anfang“[4].

 

 

[1] IGES_AOP_Gutachten_032022_ger.pdf

[2] KF steht für die Kurzfassung des Gutachtens:
https://www.iges.com/sites/igesgroup/iges.de/myzms/content/e6/e1621/e10211/e27603/e27841/e27842/e27844/attr_objs27939/IGES_AOP_Gutachten_Kurzfassung_032022_ger.pdf

[3] Pressemitteilung des AOK-Bundesverbandes vom 1.4.2022

[4] Pressemitteilung des AOK-Bundesverbandes vom 1.4.2022


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