Was bleibt?

Das Gutachten des SVR „Resilienz im Gesundheitswesen“

Dr. Robert Paquet

Der Sachverständigenrat Gesundheit (SVR) hat sich in seinem jüngsten Gutachten mit der „Resilienz im Gesundheitswesen“ beschäftigt[1]. Bei diesem etwas gesuchten Begriff geht es um krisenhafte Herausforderungen, denen das Gesundheitssystem durch Kriege, Naturkatastrophen und andere „disruptive“ Ereignisse ausgesetzt ist. Der zentrale Motor der Untersuchung ist die folgende Einsicht: „Gerade die Pandemie hat die Stärken und Schwächen unseres Gesundheitssystems besonders deutlich werden lassen, nicht zuletzt die mangelhafte Nutzung digitaler Möglichkeiten.“ (Z 1)[2]

Das Gutachten wurde am 19. Januar 2023 vorgestellt. Es hat jedoch bisher wenig öffentliche Resonanz gefunden. Das mag damit zu tun haben, dass das Thema zwangsläufig zu einer hohen Redundanz der Feststellungen und Empfehlungen führt[3]. Das gilt jedenfalls für die Fachleute. Weil schon so vieles bekannt ist und z.B. durch die aktuellen Reformdiskussionen (etwa zur Krankenhausstruktur und zu den Arzneimittel-Lieferengpässen) sehr intensiv und im Detail diskutiert wird[4], wird es jedoch nicht falsch. Im Gegenteil: Das Ziel einer systematischen Zusammenstellung aller Aspekte im Hinblick auf das Generalthema hat seine volle Berechtigung. Zu hoffen ist daher, dass der sich ergebende Aufgabenkatalog mit dem Abflauen der Pandemie nicht dem gleichen Schicksal anheimfällt, das die diversen Pandemiepläne vor Corona erfahren haben.

Sicher hat die verhaltene Reaktion auf das Gutachten auch etwas mit dem Ende der Amtsperiode des Rates zu tun. Nur ein Mitglied (Jonas Schreyögg) ist wiederberufen worden. Im Gegensatz dazu war das Gutachten 2021 ein öffentlicher Aufreger ersten Ranges. Mit seinem Thema „Digitalisierung für Gesundheit“ richtete es sich an einen Minister (Jens Spahn), der wie kein anderer zuvor die Digitalisierung zu seinem Thema gemacht hatte[5]. Es griff die heftigen Kontroversen um die digitalen Tools (auch im Kontext der Pandemie) auf und hatte eine klare Botschaft für den beginnenden Bundestagswahlkampf (vor allem mit der Maxime „Opt-out für die elektronische Patientenakte“). Das verschaffte den SVR-Mitgliedern eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit für diese Punkte. Das ist diesmal anders: Eine gewisse Ermüdung bei dem Thema ist unverkennbar. Andererseits hat der SVR in dieses Gutachten die meisten seiner bisherigen Vorschläge zur Umgestaltung des Gesundheitswesens eingewoben, von den „integrierten regionalen Gesundheitszentren“ bis hin zur „Notfallversorgung“. Insoweit ist es auch ein Vermächtnis der scheidenden Ratsmitglieder.

Das Gutachten gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil wird „Resilienz als Leitkonzept“ erläutert, ihre Bedeutung für das Gesundheitssystem dargestellt und Ansätze zu einer „Resilienzstrategie“ werden skizziert. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der „Krisenvorbereitung“ des Gesundheitswesens. Im dritten Teil geht es um die „Krisenbewältigung“.

 

I. Resilienz als „Leitkonzept“

Das erste Kapitel liefert vor allem eine Begriffsbestimmung. „Resilienz“ habe sich als „wissenschaftliche Bezeichnung für die Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren Ereignissen“ und als „Begriff für die Handlungsfähigkeit des Gesundheitssystems bei besonderen … Herausforderungen durchgesetzt.“ (3) Hier lernen wir: „Ursprünglich stammt der Begriff „Resilienz“ – abgeleitet vom lateinischen Verb resilire, das mit „zurückspringen“ oder „abprallen“ übersetzt wird – aus der Werkstoffphysik. Hier wird mit Resilienz die Fähigkeit von Materialien beschrieben, nach einer Verformung wieder in ihren Ausgangszustand zurückzukehren.“ Der Resilienzbegriff habe sich aber mittlerweile auch in der Psychologie und Medizin durchgesetzt (4). Es folgen längere Ausführungen zur Definition und zu den Bedeutungsfacetten. Im Ergebnis zeigt sich der SVR davon überzeugt, dass der Begriff zur Beurteilung der Krisenbewältigung im Gesundheitssystem geeignet ist.

Nach seiner Auffassung (etwas umständlich) ist „Resilienz des Gesundheitssystems … als ein kontinuierlicher Vorbereitungs-, Lern- und Anpassungsprozess zu verstehen, in dem konkrete Prozessverantwortliche und Qualitätssicherungsinstanzen durch tatsächlich durchgeführte Vorbereitungs- und Überprüfungsmaßnahmen dafür sorgen, dass die erforderlichen Leistungen der Gesundheitsversorgung unter erwarteten und auch unerwarteten Krisenbedingungen aufrechterhalten werden können.“ Dazu gehöre auch die Vorbeugung gegen und die Vorbereitung auf Krisen (Z 2). Dabei ist dem SVR stets bewusst, „dass die SARS-CoV-2-Pandemie nicht überraschend kam, sondern bereits Jahre zuvor Daten und Warnungen den Ausbruch einer schwerwiegenden Pandemie voraussagten.“ Damit geht es nicht nur um die Frage, „was zur Pandemieprävention und -bekämpfung eingeführt werden soll“, sondern immer auch um das Problem, „warum seit Jahrzehnten bekannte Empfehlungen zur Pandemieprävention nicht umgesetzt wurden“ (18).

Im zweiten Kapitel betrachtet der Rat „mit dem Klimawandel und der SARS-CoV-2-Pandemie exemplarisch zwei konkrete Beispiele disruptiver Ereignisse näher, die zweifellos substanzielle Herausforderungen für die Resilienz des deutschen Gesundheitssystems darstellen“ (Z 2). Hier werden die Fragen vor- und ausgebreitet, die schließlich im 12. Kapitel beantwortet werden sollen (z.B. nach Risikofaktoren, sozial ungleicher Betroffenheit, Präventionsmöglichkeiten, Auswirkungen auf das Versorgungssystem). Systematisch unterschieden werden direkte und indirekte Wirkungen; „direkte Auswirkungen des Klimawandels sind u.a. Verletzungs-, Erkrankungs- und Todesfälle bei Extremwetterereignissen“, indirekte z.B. „die Nordwanderung bislang ‚tropischer‘ Infektionskrankheiten“ (Z 2). Zur Pandemie sehr treffend: „Die SARS-CoV-2-Pandemie stellt in vielerlei Hinsicht einen Stresstest für das Gesundheitssystem dar. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse bei der Entwicklung einer Resilienzstrategie müssen umfassend berücksichtigt werden, ohne den Blick auf diese Pandemie zu verengen“ (Z 3).

Die „Resilienzstrategie“ selbst (siehe Kapitel 3) wird für das Gesundheitssystem in der Auseinandersetzung mit den Strategieentscheidungen und -Defiziten der Pandemiephase entwickelt. Sie „sollte auf eine systemische Resilienz abzielen“ und alle Krisenphasen berücksichtigen: „a) Vorbereitungsphase, b) rechtzeitige Erkennung des Schocks, c) Wirkung und Bewältigung des Schocks, d) Erholung und Lernen.“ Dabei sei, so der SVR, die „Vorbereitungsphase außerhalb von Krisenzeiten“ … die „Schlüsselphase, die das rechtzeitige Ergreifen von Präventionsmaßnahmen sowie die Antizipation, frühzeitige Entdeckung und Bewältigung potenzieller Krisen ermöglicht.“ (Z 3 und 111) Angemessen sei eine „Multi-Stakeholder-Perspektive“ (112). – Mit dieser Explikation des „Leitkonzepts“ wird die Relevanz und inhaltliche Ausrichtung der beiden folgenden Gutachten-Teile II und III deutlich gemacht.

 

II. Krisenvorbereitung

Im zweiten Teil des Gutachtens geht es um die Vorbereitung auf Krisen (Kapitel 4). Dazu „gehören passgenaue staatliche Rahmenbedingungen, die durch frühzeitige und umfassende Beachtung von Gesundheitsaspekten in Gesetzgebungsprozessen und Entscheidungen verschiedener Ressorts gesetzt werden sollten…. Ein wesentliches Element der staatlichen Rahmenbedingungen ist die eindeutige Zuweisung von Kompetenzen und Aufgaben an die verschiedenen Stakeholder.“ Auch in der Bevölkerung müsse „das Bewusstsein für potenzielle Krisen geschärft und das Grundverständnis für Abläufe in Krisensituationen gestärkt werden“ (Z 3). Zur Begründung dieser Empfehlungen setzt man sich mit dem föderalen Mehrebenensystem der Bundesrepublik auseinander, mahnt eine „suffiziente Krankenhausalarm- und Einsatzplanung (KAEP)“ sowie eine „lokale, regionale und nationale Pandemieplanung“ an (123), beschreibt die „kritische Infrastruktur“, definiert „Anforderungen an Notfallpläne“ (129) und fordert vor allem die „routinemäßige Durchführung der Notfallübungen“ (132). Wichtig ist dem SVR die „Förderung kritischer Gesundheitskompetenz im Sinne“ eines „produktiven Umgangs mit Unsicherheit“ und komplexen Maßnahmen. „Informationen müssen kritisch bewertet, die Rolle der Politik sowie auch das eigene Verhalten reflektiert werden“ (139). Angesichts der Komplexität der Aufgabe ist man schnell beim ‚Klassiker‘, nämlich der Forderung nach „Health in All Policies“ (140). Unterstrichen wird vom SVR auch die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit, nicht nur EU-weit, sondern auch darüber hinaus.

Dass dem „Öffentlichen Gesundheitsdienst“ bei Gesundheitskrisen eine wichtige Rolle zukommt, ist mit der Corona-Pandemie ins allgemeine Bewusstsein getreten. Im 5. Kapitel wird zunächst auf die „historisch bedingte institutionelle Struktur“ als Kommunalaufgabe (161) und das Aufgabenspektrum (164) eingegangen. Die Reformbemühungen durch die GMK und den sog. „Pakt für den ÖGD“ (165f.) werden aufgegriffen und prägen die weitere Darstellung (Bestandsaufnahme, Weiterentwicklung, Finanzierung, Erweiterung der Aufgaben). Eingefordert wird die „Stärkung der wissenschaftlichen Grundlage“ (u.a. „Verankerung der ÖGD-Forschung in den Hochschulen“) (180) und die Nutzung des ÖGD zur Verbesserung der Datenbasis zur Bevölkerungsgesundheit (nicht nur in Krisen). Die Vorschläge zur Verbesserung der personellen und materiellen Ausstattung folgen den angesprochenen Reformbemühungen.

Dabei werden die Vorteile dezentraler und zentraler Aufgabenwahrnehmung diskutiert. Bei den Empfehlungen greift der SVR u.a. sein Gutachten von 2021 auf: Das geplante Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit sollte als „Bundesdateninstitut“ konzipiert werden (Z 4 und 195). Es sollte auch eine „umfassende Strategie der Gesundheitskommunikation“ entwickeln (196) und „außerhalb akuter Krisenzeiten vorausdenken (Z 4). Auf „kommunaler Ebene wird eine stärkere Differenzierung des Aufgabenspektrums empfohlen“, aber auch die Schaffung „länderübergreifender Einrichtungen“ (ebenda). Gleichzeitig sollten die „Aufgaben des ÖGD in und außerhalb von Krisenzeiten … möglichst einheitlich definiert werden“ (durch Bundesrahmengesetzgebung). „Sollte dies aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht … erreichbar sein, sollte auf eine Angleichung der Gesundheitsdienstgesetze der Länder hingewirkt werden“ (202).

Zur Krisenvorbereitung der „Akutversorgung“ (Kapitel 6) recycelt der SVR – nachvollziehbar – die entsprechenden Vorschläge aus seinen vorausgegangenen Gutachten. Die zentralen Empfehlungen sind: „Zur Stärkung der strukturellen Resilienz sollten integrierte regionale Gesundheitszentren als moderne und bedarfsgerechte Form der Daseinsvorsorge viele Krankenhäuser der Grundversorgung ablösen. … Ferner gilt es, die Finanzierung an resiliente Akutversorgungsstrukturen anzupassen. Dabei sollte die derzeitige DRG-basierte Vergütung weiterentwickelt werden, um Fehlanreize zu reduzieren. Insbesondere sollte eine sektorengleiche Vergütung für Leistungen eingeführt werden, die sowohl stationär als auch ambulant erbracht werden können“. Außerdem sollen die „vorhandenen Personalressourcen (z.B. durch den Abbau von Über- und Fehlversorgung) nachhaltig optimiert“ werden (Z 5).

Auch die „Stärkung des Hausarztsystems“ darf nicht fehlen (229). Hervorgehoben wird: Die Einschreibung bei einem Hausarzt „eröffne die Möglichkeit, einen bevölkerungsweiten, zukünftig auch weitgehend zuverlässigen Kommunikationskanal zur Information und Koordinierung der Versicherten während einer öffentlichen Gesundheitskrise zu nutzen“ (277). „Community Health Nurses sollten in primärärztliche oder sektorenübergreifende Strukturen integriert werden“ (230). Auch die „Reform der Notfallversorgung“, so wie sie der SVR in seinem Gutachten 2018 konzipiert hat, wird erneut empfohlen (ebenda). Eingefordert wird die „sektorenübergreifende Bedarfsplanung“ (231) ebenso wie die Einführung von Vorhaltepauschalen, die natürlich auch für den Katastrophenfall sinnvoll seien (235). Außerdem: Die „Differenzierung nach Versorgungsstufen und Regionen“ (ebenda), die „Reduzierung des DRG-Fallpauschalenkatalogs“ und die „qualitätsorientierte Vergütung“ (236). In diesem Kapitel gibt es 27 Seiten zum Thema Fachkräftemangel, ohne neue Lösungsvorschläge. Bemerkenswert ist allerdings die Empfehlung, „angesichts der bestehenden Fachpersonalengpässe insbesondere in der Pflege … zunächst eine berufliche Registrierungspflicht für Pflegefachpersonen einzuführen“ (279). Sie würde die Planung auch bei Gesundheitskrisen erleichtern.

Weil „ältere, multimorbide und pflegebedürftige Menschen“ besonders stark von „disruptiven Ereignissen wie der SARS-CoV-2-Pandemie oder Hitzewellen“ betroffen seien und „durch ihre Vulnerabilität ein erhöhtes Risiko (haben), schwer zu erkranken und zu versterben“ (297), gibt es ein gesondertes Kapitel zur „Langzeitpflege“ (Kapitel 7). Die Corona-Pandemie habe die strukturellen Defizite in diesem Bereich offengelegt. Die entsprechenden Erfahrungen werden ausführlich geschildert (Prävention, Kontaktregulierung, Hygieneprobleme, Aufrechterhaltung sozialer Kontakte etc.). Besondere Aufmerksamkeit widmen die Gutachter bei der „Resilienzförderung“ erneut der „Stärkung personeller Ressourcen“ (ab 322, 26 Seiten). Dabei geht es um die Zahl und Qualifikation der Pflegepersonen, ihre Entlohnung, Fragen der Arbeitnehmerüberlassung, ihre „sprachliche sowie sozio- und interkulturelle Kompetenz“ etc. (340).

Hervorgehoben werden die Chancen der Digitalisierung zur Unterstützung der Langzeitpflege (348f). Interessant sind die Exkurse zum „Disaster Nursing“ (355f – Bewältigung von Krisensituationen im Zuge der pflegerischen Versorgung) und zum dänischen System der Langzeitpflege (360ff). Dänemark sei das einzige europäische Land, in dem die Errichtung traditioneller stationärer Pflegeeinrichtungen seit Anfang der 1980er Jahre gesetzlich verboten sei. Man setze dort seit den 1970er Jahren konsequent auf eine Politik der „Enthospitalisierung“. Im Ergebnis gibt es nicht weniger als 18 „Empfehlungen“ zur Informationsbereitstellung, Managementkompetenz, Personalbemessung, zur „Stärkung des Pflegeberufs“ (367), zur „heilkundlichen Kompetenzerweiterung“ (im Rahmen eines „allgemeinen Heilberufegesetzes“) und zu den Problemen der „24-Stunden-Betreuungspersonen aus dem Ausland“ (370). Der Rat spricht sich faktisch für die Errichtung von Pflegekammern aus (368).

Im kurzen 9. Kapitel „Lieferketten, Produktion und Innovation“ werden die entsprechenden Erfahrungen aus der Pandemie verarbeitet. Die Empfehlungen bleiben ziemlich abstrakt und drehen sich naturgemäß um die Themen Bevorratung und „Sicherung von regionalen Produktionskapazitäten“. Die aktuelle Debatte um den Entwurf eines „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes (ALBVVG)“ bietet hier konkretere Vorschläge und legt die Schwierigkeiten, vor allem für die Produktionsförderung in Europa offen. Positiv ist zu vermerken, dass der SVR am Patentschutz festhält: Zur „Stärkung der Innovationskraft“ der Forschung sei ein „verlässlicher Patentschutz notwendig“ (410).

 

III. Krisenbewältigung

Im dritten Teil des Gutachtens („Krisenbewältigung“) geht es dem SVR zunächst um „Entscheidungswege und Management in der Krise“ (Kapitel 9). Am Anfang stehen allgemeine Erwägungen über „Entscheidungen unter Unsicherheit“. „Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes“ unterliegen „verhaltensbedingten Fehlanreizen wie Herdenverhalten und Pfadabhängigkeiten“ (Z 7). Daher könnten „Entscheidungsregeln“ die Entscheidungen von Krisenstäben und Politikern unterstützen, da sie „rational und transparent nachvollzogen werden können. Politikerinnen und Politiker könnten sich damit dem Vorwurf einer diskretionären, zufälligen oder gar einer partikularinteressengeleiteten Maßnahmenauswahl entziehen“ (421). Nach der „ökonomischen Theorie der Politik“ sei das allerdings schwierig, da Politiker ihre Entscheidungen an der Maximierung von Wählerstimmen ausrichten (424). Auch die „föderale Ordnung“ der Bundesrepublik („Prinzip der Subsidiarität“) werfe Probleme auf (426). Die Kooperation der Ebenen, aber auch die „konkurrierende Gesetzgebung“ müsse gelingen (427). Die Verfassung gebe sowohl ein „Untermaßverbot“ als auch ein „Übermaßverbot“ vor und gebiete bei Grundrechtseinschränkungen eine sorgfältige „Verhältnismäßigkeitsprüfung“ (431f).

Die Vor- und Nachteile des Föderalismus werden abgewogen, ohne dass es hier allerdings zu klaren Empfehlungen käme. Zwischen den Regionen soll „die horizontale Kommunikation im Föderalismus gestärkt werden“, heißt es allgemein (450). Am konkretesten ist noch die Empfehlung, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) zu stärken (zur Verbesserung von Kommunikation und Kooperation zwischen Bund, Ländern und der kommunalen Ebene) (Z 7). Außerdem empfiehlt der Rat, „eine schnelle Informationsgewinnung und -bewertung mithilfe von interdisziplinären Krisenstäben und Expertengremien zu gewährleisten“ (450). Auch zur „Durchsetzung und Kontrolle von Maßnahmen“ werden Überlegungen angestellt. Wie kann man das „Vertrauen in die Regierung“ stabilisieren und die Impfbereitschaft erhöhen etc. (446)?

Im Kapitel 10 („Wissenschaftsbasierte Politikberatung und Maßnahmenevaluation“) spricht der SVR auch über sich selbst. Erforderlich sei eine interdisziplinäre Politikberatung. „Ziel einer wissenschaftlich informierten politischen Entscheidungsfindung ist, in Abwägung von Nutzen und Schaden die am besten geeigneten umsetzbaren Maßnahmen zur Krisenbewältigung zu ergreifen. Dabei gilt es stets, die beste verfügbare externe Evidenz heranzuziehen“ (462). Dabei sei es besonders bei bisher unbekannten Krisen (Beispiel Corona-Pandemie) schwierig, dafür „wissenschaftlich zuverlässige Informationen“ zu finden und zu nutzen (461). Krisen können aber auch zur Beschleunigung wissenschaftlicher Entwicklungen beitragen (hier Entwicklung von Tests, Impfstoffen, digitaler Tools, Kommunikationsformen und Bevölkerungsbefragungen etc.).

Trotz der Krisenbedingungen müssten bestimmte Anforderungen an Beratungsgremien eingehalten werden: Kriterien für die Zusammensetzung (Interdisziplinarität), Transparenz der Beratungsvorgänge, Unabhängigkeit der Berater (Offenlegung von Interessenkonflikten), institutionelle Verankerung wissenschaftlicher Politikberatung etc. (473f.). Bei der Evaluation wird zwischen neuen und bekannten Maßnahmen unterschieden, zwischen „experimenteller Wirksamkeit (efficacy)“ und „Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (effectiveness)“, banaler: zwischen Theorie und Praxis (476). Als „Kernelemente der Maßnahmenevaluation“ werden u.a. folgende Fragen bestimmt:

  • „Wie interagiert die Maßnahme mit ihrem Kontext?
  • Welche Programmtheorie liegt der Maßnahme zugrunde?
  • Wie können Perspektiven der verschiedenen Stakeholder in die Forschung einbezogen werden?
  • Welches sind die wichtigsten Unsicherheiten?“ (480f)

Auch „die ökonomische Bewertung sollte ein zentraler Bestandteil aller Phasen der Interventionsforschung sein“ (482).

Im Ergebnis gibt es 17 Empfehlungen. Zusammenfassend: Es bedürfe vor allem der „Bündelung aller relevanten Disziplinen“; so seien z.B. in der Pandemie die Sozial-, Verhaltens- und Kommunikationswissenschaften eher (zu) spät einbezogen worden (Z 7). Schon in Nicht-Krisenzeiten müsse eine „effiziente und nachhaltige Forschungsinfrastruktur“ mit „langfristiger Perspektive“ aufgebaut und mit entsprechenden Anreizen für die Wissenschaftler ausgestattet werden (482f). Wichtig sei der „uneingeschränkte Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen“ und die „Verfügbarkeit, Qualität, Zugänglichkeit, Teilbarkeit und Nutzbarkeit von Daten aus dem Gesundheitssystem heraus“ (483). Bereits in seinem Gutachten des Jahres 2021 habe der „Rat hierzu u.a. die Schaffung eines Gesundheitsdatennutzungsgesetzes“ angeregt (Z 8).

Im 11. Kapitel („Kommunikation in (Gesundheits-)Krisen“) werden im Wesentlichen die Erkenntnisse reproduziert, die auch schon der Sachverständigenausschuss nach § 5 Abs. 9 IfSG in seinem Bericht (Juni 2022) vorgetragen hat. In Deutschland fehle „bisher die zentral verantwortliche Institution, die das zur Problembeschreibung und -lösung notwendige Wissen in einer Krise generiert und recherchiert, bündelt und interpretiert, auswertet und einordnet sowie in eine klare Kommunikations- und Informationsstrategie übersetzt“. Es gehe um eine zielgruppengerechte Ansprache „für verschiedene Bevölkerungsgruppen“ (auch digital) (Z 8). Zu unterscheiden davon sei die „Wissenschaftskommunikation“ und das gezielte Management von „Gesundheitskampagnen“ (495) sowie die Abwehr von „Falschinformationen“ (510).

Wichtig sei die „offene Kommunikation der wissenschaftlichen Unsicherheit“ (499). Für die Entwicklung von Gesundheitskompetenz wird die Rolle des „im Jahr 2020 eingerichteten Nationalen Gesundheitsportals“ und des „Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)“ hervorgehoben; die BzGA kommt etwas weniger gut weg (502). Um das „Vertrauen und das Engagement der Bevölkerung zu stärken“, brauche man eine „transparente Gesundheitskommunikation“. Die „Botschaften sollten lösungsorientiert sein“ (512). Für bestimmte Zielgruppen seien „aufsuchende Strategien zur Aufklärung und Information erforderlich“ (ebenda). Dass in diesem Zusammenhang Gesundheitskioske als „geeignete Anlaufstelle“ hervorgehoben werden (Z 8), wirkt etwas anbiedernd gegenüber der Ampelkoalition. Dass sich gerade in Gesundheitskrisen die besondere Relevanz der (sehr unterschiedlichen und insgesamt eher mangelnden) Gesundheitskompetenz zeigt, liegt auf der Hand (514).

Das Gutachten schließt ab mit „Resilienz stärkenden Konzepten“ zu Klimawandel und Pandemie (Kapitel 12) und greift damit die im 2. Kapitel gestellten Fragen auf. Hier werden „als struktureller Rahmen“ für die Entwicklung solcher Konzepte drei Kernbereiche genannt: a) Wissen und Information (zu Hitze und Infektionskrankheiten), b) konkrete Präventionsmaßnahmen und c) strukturelle, materielle und personelle Ressourcen zum Umgang mit diesen Herausforderungen (521). Gemeint sind diese Ausführungen exemplarisch, so dass der skizzierte „strukturelle Rahmen“ auch für andere gesundheitliche Groß-Krisen übertragbar sein soll.

Für Hitzewellen brauche man z.B. „Hitzeaktionspläne“, und lange vor der Krise müssten „Monitoring- und Surveillance-Systeme“ eingerichtet werden. Angemahnt wird dafür eine „Bundesrahmengesetzgebung“ (Z 8/9). Interessant sind auch bestimmte Details, die zusammengetragen werden, z.B. zum Umgang mit Medikamenten bei Hitzewellen (527) und zur mangelhaften Ausstattung der Krankenzimmer in Kliniken mit Klimaanlagen (534). Schließlich sei auch anzustreben, das Gesundheitssystem selbst „klimaneutral“ zu machen (535). Zur Pandemie gibt es viele bekannte Erkenntnisse, zum Beispiel: „Das Etablieren und Überarbeiten von Pandemieplänen sollte primär während der interpandemischen Phase erfolgen“ (565). „Neben der Aktualisierung müssen die Pläne zudem angewandt, d. h. trainiert werden“ (567). „Pandemiepläne sollten möglichst erregerunspezifisch gestaltet werden und Möglichkeiten verschiedener Transmissionswege berücksichtigen“ etc. (570).

Die Zusammenfassung schließt mit der salvatorischen Bemerkung: „Sowohl in Deutschland als auch weltweit steigt das Risiko für das Auftreten disruptiver Ereignisse. Das Stärken der Resilienz im deutschen Gesundheitssystem stellt daher eine komplexe und herausfordernde Aufgabe dar, der wir uns dringend stellen müssen. Ziel ist es nicht nur, den Status quo zu erhalten, sondern wenn möglich sogar gestärkt aus Krisen hervorzugehen, sodass der Aufbau resilienter Strukturen nicht nur als anstrengende Aufgabe, sondern auch und vor allem als Chance zu verstehen ist.“ (Z 9) – Dem ist kaum etwas hinzuzufügen.

 

IV. Zusammenfassung und Bewertung

Zum Abschluss ist noch einmal auf das Vorwort zurückzukommen. Hier hat der SVR den Ausgangspunkt seines Gutachtens bestimmt: Die Krisen der letzten Jahre (die Pandemie, aber auch die Flutkatastrophe an Ahr und Erft und die vermehrten Hitzewellen) hätten gezeigt, dass das deutsche Gesundheitssystem auf „Katastrophen und die besonderen Anforderungen an Gesundheitsschutz und Gesundheitsversorgung in solchen Krisen nicht befriedigend“ eingestellt sei. Wie man es besser machen könnte, darauf gebe es leider keine „Patentantwort“ (Z 1).

Der SVR will aber einen Beitrag zu dieser Frage leisten. Daher hat er mit großem Fleiß den Stand des Wissens dazu aufbereitet – auch die über dreißig Exkurse zu Einzelfragen sind z.T. sehr lesenswert. Über hundert Empfehlungen wurden ausgesprochen. Sie reichen von sehr konkret und detailliert bis hin zu abstrakt und allgemein. Das ist auch gar nicht anders denkbar: Die „verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen können kompetent nur ‚ihren‘ Teil der Wirklichkeit analysieren und auf Grundlage dieser Analysen Empfehlungen formulieren.“ Unter diesem Aspekt ist ein Punkt kritisch anzumerken: Für die vielfältigen im Gutachten berührten Governance-Fragen hätte man sich die Beteiligung von Juristen, Sozial- und Politikwissenschaftler gewünscht. Deren Beiträge wird man an anderer Stelle finden; der SVR ist im Wesentlichen „nur“ mit Medizinern und Gesundheitsökonomen besetzt.

Der beste Satz und gleichzeitig das härteste Urteil des Gutachtens steht auf der ersten Seite der Executive-Zusammenfassung: „Unser Gesundheitssystem ist sehr komplex und fragil, pointiert gesagt: ein nicht sehr reaktionsschnelles, wenig anpassungsfähiges „Schönwettersystem“, das nicht nur im Krisenfall unzureichend koordiniert und im Ergebnis häufig schlechter ist, als angesichts des hohen Mitteleinsatzes zu erwarten wäre“ (Z 1). Wenn allein diese Feststellung den verantwortlichen Akteuren im Gedächtnis bliebe (und handlungsleitend würde), hätte das Gutachten seinen Sinn erfüllt.

 

[1] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: „Resilienz im Gesundheitswesen – Wege zur Bewältigung künftiger Krisen. Gutachten 2023“
https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2023/Gesamtgutachten_ePDF_Final.pdf

[2] Seitenangaben für die Zusammenfassung. Für die Langfassung werden die Seiten mit der einfachen Zahl in Klammern angegeben.
https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2023/SVR_Gutachten_2023_Executive_Summary_19012023.pdf

[3] Zum Beispiel zu den Stellungnahmen des „Corona-ExpertInnenrats“ der Bundesregierung
https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/corona-expertinnenrat-der-bundesregierung oder zu den Feststellungen des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 Infektionsschutzgesetzes (IfSG), der seinen Bericht zur „Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik“ Ende Juni 2022 vorgelegt hat: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/S/Sachverstaendigenausschuss/BER_lfSG-BMG.pdf

[4] Das gilt besonders für das 6. Kapitel (Akutversorgung).

[5] Der SVR hatte am 24. März 2021 sein Gutachten „Digitalisierung für Gesundheit“ an das Bundesministerium für Gesundheit übergeben.


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