12.06.2019
Wie aus einem Land vor unserer Zeit
Dr. Manfred Lütz beharrt auf seiner Polemik gegen Psychotherapeuten
Dr. Christina Tophoven, Geschäftsführerin der Bundespsychotherapeutenkammer
Der Psychiater Dr. Manfred Lütz stellt wiederholt Psychotherapeuten als Behandler zweiter Klasse dar. Dieses Mal, Ende Mai, in der Talkshow von Markus Lanz. Besonders pikant im Beisein von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Dr. Lütz, der auch Chefarzt einer Kölner Klinik ist, erklärte den Zuschauern und vor allen Dingen dem Bundesgesundheitsminister erneut, dass psychisch kranke Menschen nicht direkt zum Psychotherapeuten gehen sollten. Vielmehr ist nach Aussage von Dr. Lütz eine Vorprüfung durch qualifizierte Ärzte unerlässlich, damit Psychotherapeuten nicht mehr eigentlich nur traurige oder einsame Menschen behandeln.
Menschen haben manchmal unverrückbare Überzeugungen. Damit das so bleiben kann, ist es für sie wichtig, sich gegenüber Fakten zu immunisieren. Fakten relativieren und gefähr-den Glaubenssätze. Dr. Lütz hat eine ganze Reihe von Überzeugungen, die er bisher unbeirrt immer wieder gerne vorträgt.
Unverrückbare Überzeugung 1: Ihr behandelt die Falschen
Psychotherapeuten behandeln die Falschen, nämlich die nicht so schwer kranken Patienten! Bisher hat Dr. Lütz dafür keine Belege vorgelegt. Das wird auch schwierig. Es gibt eine Erhebung der KBV aus dem Jahr 2008, danach ist das Diagnosespektrum in den Praxen der Fachärzte für Psychiatrie und Psychosomatik vergleichbar mit denjenigen der Psychotherapeuten. Unterschiede gibt es bei Schizophrenie und Alkoholstörung. Das dürfte 2008 noch daran gelegen haben, dass die Psychotherapie-Richtlinie es damals erschwert hat, diese Patienten zu behandeln.
Einen weiteren Hinweis zu den Patienten in den psychotherapeutischen Praxen liefert eine TK-Studie, die 2010 veröffentlicht wurde. Danach sind die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen der Patienten in der ambulanten Psychotherapie vergleichbar mit denjenigen in der stationären Behandlung in der psychosomatischen Rehabilitation und Akutversorgung.
Das sind ältere Studien, legen aber eine andere Wirklichkeit nahe, als Dr. Lütz sie sieht. Dr. Lütz argumentiert eben auch auf der Basis von Hören-Sagen. Weiß Dr. Lütz gar nicht, dass der Schluss vom Einzelfall auf die allgemeine Aussage mehr als waghalsig ist? Dr. Lütz jedenfalls bleibt wissenschaftliche Belege und systematische Erhebungen für seine Behauptungen schuldig. Für den Chefarzt eines Krankenhauses ist es wohl angenehm aufwandsarm, Erkenntnisse zur ambulanten Versorgung auf der Basis von Einzelfällen zu sammeln, solange sie in sein Weltbild passen.
Unverrückbare Überzeugung 2: Ärzte sind besser qualifiziert
Nach Dr. Lütz sind nur Ärzte aufgrund ihrer somatischen Qualifikation in der Lage, die Gesamtverantwortung für die Versorgung psychisch kranker Menschen zu übernehmen. Dr. Lütz ist der Überzeugung, dass Psychotherapeuten während ihrer Ausbildung nichts über die körperlichen Ursachen psychischer Erkrankungen erfahren. Richtig ist, dass Psychotherapeuten einen spezifischen psychologischen Zugang zu Gesundheit und Krankheit haben. Ihnen ist ein Defizitmodell von Krankheit in Abgrenzung zu Gesundheit fremd. Sie nutzen traditionell die Stärken ihrer Patienten für die Gesundung, sie entwickeln mit ihnen seit jeher eine eigenständige Gesundheitskompetenz. Sie reduzieren ihre Patienten also nicht auf ihre Erkrankung. Und natürlich können sie beurteilen, ob körperliche Ursachen bei den psychischen Beschwerden ihrer Patienten eine Rolle spielen. Sie haben eine spezifische psychologische Perspektive und sind gleichzeitig umfassend qualifiziert für die Versorgung ihrer Patienten.
Bei Ärzten ist das ähnlich. Sie fokussieren aufgrund ihres Medizinstudiums auf die körperlichen Ursachen psychischer Erkrankungen. Konsequenterweise behandeln sie dann in erster Linie auch pharmakologisch. Durch die Kooperation zwischen Ärzten und Psychotherapeuten kann der jeweils andere spezifizierte Sachverstand hinzugezogen werden. Das ist seit 20 Jahren, seit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes so. Mit der Reform der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung werden die Voraussetzungen für dieses Kooperationsmodell sogar noch besser werden. Gleichberechtigte kollegiale Kooperation – das ist das Modell der Zukunft.
Unverrückbare Überzeugung 3: Ohne ärztliche Leitung geht gar nichts
Psychotherapeuten diagnostizieren nach den gleichen internationalen Standards wie Ärzte psychische Erkrankungen. Aber selbstverständlich können nach Dr. Lütz nur Ärzte diese Regeln richtig anwenden. Er schlägt deshalb eine Art ärztliche Vorprüfung vor. Patienten würden erst zu einem Arzt gehen, dank dessen Unfehlbarkeit festgestellt werden kann, ob ein Mensch ausreichend psychisch krank ist für eine Psychotherapie. Erst dann dürfe der Patient zum Psychotherapeuten. Das ist zunächst realitätsfremd und wirkt reichlich überheblich. Es ist aber vor allem gar nicht durchführbar.
Eine ambulante Versorgung für psychisch kranke Erwachsene bieten derzeit rund 33.000 niedergelassene Psychotherapeuten und Ärzte an. Das sind in erster Linie Psychologische Psychotherapeuten, aber auch Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärzte für psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapeuten. Die Idee von Dr. Lütz ist nun, dass die circa 12.000 niedergelassenen psychotherapeutisch qualifizierten Ärzte überprüfen, ob Patienten eine Psychotherapie benötigen. Die Patienten sollen bei diesen Ärzten zur Vorprüfung erscheinen. Das hieße: Diese Ärzte müssten all die Patienten übernehmen, die bisher zu den fast 21.000 Psychologischen Psychotherapeuten gehen und dort abklären lassen, ob sie eine Psychotherapie brauchen. Es ist unschwer vorstellbar, wie die Warteschlangen vor den ärztlichen Praxen wachsen und wachsen würden. Bereits derzeit warten psychisch kranke Menschen je nach Region zwischen drei und sieben Wochen auf einen Sprechstunden-Termin bei einem Psychotherapeuten. Dieser Vorschlag von Dr. Lütz löst kein Problem, aber schafft neue und verlängert die Wartezeiten.
Tatsächlich repräsentiert Dr. Lütz einen überholten standespolitischen Absolutismus: „Ich bin Arzt! Ich weiß alles besser als alle anderen! Ohne mich darf nichts entschieden werden. Alle anderen Gesundheitsberufe brauchen ärztliche Anleitung. Sonst ist die Patientensicherheit gefährdet.“ Ärzte dieser Denkschule können sich Kooperation nicht ohne Subordination vorstellen. Solche Ärzte verharren in überholten hierarchischen Strukturen und verweigern multiprofessionelle Arbeit im Team. Kooperation und Teamgeist gehören jedoch die Zukunft, weil eine gute Gesundheitsversorgung die gegenseitige Ergänzung der unterschiedlichsten Kompetenzen erfordert. Hierarchische Strukturen sind dagegen defizitär. Veraltet! Aus einem Land vor unserer Zeit! Deshalb werden sich wohl auch unter den Ärzten einige Dinosaurier daran gewöhnen müssen, sich mit Psychotherapeuten ebenso abzustimmen, wie mit Pflegenden, Physiotherapeuten, Logopäden und Hebammen. Teamarbeit erfordert halt Respekt vor den spezifischen Kompetenzen der Anderen und Abschied von einer barocken Arroganz. Unverrückbare Überzeugungen scheitern über kurz oder lang an der Wirklichkeit. Und Dinosaurier gehören längst ins Naturkundemuseum.
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