Wie drei ungleiche Parteien sich auf Gemeinsames einigen

Die Koalitionsverhandlungen 2021 und die künftige Ampel-Gesundheitspolitik

Robin Rüsenberg

Florian Eckert

Gesundheitspolitik ist aktuell Corona-Bekämpfung. Darüber hinaus bleibt das gesundheitspolitische Profil der Ampel bislang im Ungefähren. Noch liegen keine Initiativen aus dem Bundesgesundheitsministerium unter Karl Lauterbach vor. Grundlage zur Vermessung der künftigen Gesundheitspolitik von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ist so der Ampel-Koalitionsvertrag, der am 7. Dezember 2021 unterzeichnet wurde.

Die Ergebnisse des knapp achtseitigen Kapitels zu Pflege und Gesundheit werden seitdem fleißig diskutiert (z. B. Knieps 2021; Paquet 2021). Vertreter der Ampel-Parteien verweisen ohnehin auf den Koalitionsvertrag als einigendes Band, wenn Fragen nach den unterschiedlichen Profilen der Parteien aufkommen (etwa Christ 2022).

Koalitionsverhandlungen und -verträge sind potenzielle Handlungsfenster für grundlegende Strategiewechsel. Allerdings ist der Ampel-Koalitionsvertrag gesundheitspolitisch in vielen Punkten vager und weniger detailliert als die der vorangegangenen GroKo-Koalitionen (Paquet 2021). Das war bei einer auf Bundesebene unerprobten Koalition wie der Ampel nicht unbedingt zu erwarten, da bei einem lagerübergreifenden Bündnis Skepsis und Misstrauen denkbar sind, und man versucht, dem durch detaillierte Arbeitskataloge ex ante zu begegnen. Die Ampel-Koalitionsverhandlungen selbst waren Ende 2021 vergleichsweise schnell und bemerkenswert verschwiegen. Will man die künftige Ampel-Gesundheitspolitik abschätzen, ist die inhaltliche Kompromissfindung in einer programmatisch heterogenen Koalition von großem Interesse. Wie also liefen die Koalitionsverhandlungen der Ampel-Koalitionäre im Politikfeld Gesundheit? Wie sind die Inhalte zu interpretieren? Was war Karl Lauterbach wichtig? Welche Rolle kann der Koalitionsvertrag – und welche der Minister spielen?

 

1. Der Koalitionsvertrag als politisches Instrument

Zunächst: Koalitionsverträge sind rechtlich nicht bindend, es handelt sich um politische Absichtserklärungen (weshalb Koalitionsvereinbarung als Begriff eigentlich treffender wäre). Vor allem aber gelten sie mittlerweile als inhaltlicher Taktgeber für die jeweils folgende Legislaturperiode. So hat die GroKo – folgt man der Bertelsmann Stiftung (Vehrkamp/Matthieß 2018; 2021) – zwischen 2013 und 2017 nur 6 Prozent sowie 2018 bis 2021 im Vergleich eher niedrige 22 Prozent der im Koalitionsvertrag gegebenen gesundheitspolitischen Versprechen nicht umgesetzt. Koalitionsverträge erfüllen gleich mehrere Zwecke, indem sie – neben der Formulierung der politischen Agenda – Transaktionskosten des künftigen Regierens reduzieren und Vertrauen bilden (sollen) (Kropp/Sturm 1998; Groß 2016: 57-104; Kannenberg et al. 2021). Technisch grenzen sie wie auch die Verhandlungen zuvor die Risiken der Kooperation zwischen Konkurrenten ein und entschärfen das klassische Gefangenendilemma. Zum weit überwiegenden Teil beschreiben Koalitionsverträge die politischen Vorhaben der Regierungspartner. Diese sind allerdings nicht selten Formelkompromisse und Koppelgeschäfte als Resultate von ‚freestyle bargaining‘. Verhandlungstechnisch nachvollziehbar, wurden Koalitionsverträge schließlich gerade in jüngster Vergangenheit bei ungeliebten oder unerprobten Koalitionen deutlich umfangreicher und auch detaillierter, d. h. ein Mehr an konkreten Maßnahmen. Vor allem der zweite rot-grüne Koalitionsvertrag von 2002 markiert einen Bruch hin zu mehr Umfang und Tiefe.

Als Instrument des Regierens sind Koalitionsverträge wichtig. Und doch sind sie immer ebenso „unvollständig“ (z. B. Saalfeld 2015), d. h. sie lassen Punkte offen, oder die Wortwahl ist wolkig sowie vage und damit interpretationsfähig. An dieser Stelle kann der ‘ministerial drift‘ ins Spiel kommen: Dank Ressortprinzip verfügen die Bundesminister in ihrem Politikfeld nämlich über gewichtige Möglichkeiten, den politischen Prozess im eigenen Sinne zu beeinflussen. Für Joschka Fischer (2007: 65) war ohnehin klar, dass für die erfolgreiche Umsetzung einer Politik die richtigen inhaltlichen Vorgaben lediglich 10 bis 20 Prozent ausmachen, die richtigen Personalentscheidungen aber 50 Prozent (außerdem 30 Prozent Zuständigkeitsfragen). Und dabei gilt dann auch: Desto unvollständiger der Koalitionsvertrag, desto besser die Ausgangslage für einen ambitionierten Minister. Jens Spahn etwa war hierin sehr versiert. Umso wichtiger, dass in den Koalitionsverhandlungen ausreichend Vertrauen als Schmierstoff der Koalitionszusammenarbeit aufgebaut werden kann. Wichtiger noch ist der Koalitionsausschuss für die Koalitionspartner. Dieser kann als ad hoc- oder als permanentes Steuerungsgremium als Rückversicherung gegen den ‘ministerial drift‘ genutzt werden. Letztlich hören die Koalitionsverhandlungen also mit dem Unterzeichnen des Koalitionsvertrags nicht auf (was natürlich nicht nur an der Unvollständigkeit eines Koalitionsvertrages liegt – sondern auch daran, dass unvorhergesehene Ereignisse auftreten können, z. B. eine Pandemie).

 

2. Gesundheit und Pflege: Einblick in die Verhandlungen

Der Ampel-Koalitionsvertrag ist mit ca. 52.000 Wörtern im historischen Vergleich erneut ein ‚Dickschiff‘, übertroffen – wenn auch deutlich – nur von den jüngsten GroKos. Wenig überraschend, legt die Koalitionstheorie dies bei einer unerprobten Parteienzusammenarbeit auch nahe. Insgesamt hätte sich Olaf Scholz eine grobe Arbeitsgrundlage vorstellen können („wie in den 1960er Jahren: auf drei Seiten aufschreiben, was man machen will“, vgl. Gammelin 2021). Grüne und FDP hatten aber Sorge, vom größeren Koalitionspartner über den Tisch gezogen zu werden, wenn man nicht präzise aushandelt, was realisiert werden soll und was nicht (vgl. Fischer 2007 und Lindner 2017 zu ebendiesen Lehren aus den Koalitionsverträgen 1998 und 2009). Das Verhandlungssetting war im Kern gut gewählt (vgl. Eckert et al. 2021): in den Sondierungen – und später zum Abschluss der Koalitionsverhandlungen – ein kleiner Kreis entscheidungsbefugter Verhandler, keine medialen Durchstechereien und, zum Leidwesen von Interessenvertretern und Journalisten, absolute Vertraulichkeit. Es wurde streng darauf geachtet, dass die für die einzelnen Politikfelder inhaltlich verantwortlichen Arbeitsgruppen (AGs) ähnlich verfahren. Dabei habe man die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gelegt (z. B. Christ 2022) – allerdings muss man aufpassen, dieses Narrativ nicht über die Maße zu strapazieren: Es flogen auch ordentlich die Fetzen, etwa in der Haupverhandlungsgruppe (Feldenkirchen 2021), der Außenpolitik oder der Landwirtschaft.

In der AG Pflege und Gesundheit war die Stimmung atmosphärisch gut, viel besser als bei den GroKo-Verhandlungen, was aber nicht bedeutet, dass man sich etwas geschenkt hat. Einmal gab es zumal auch Unstimmigkeiten innerhalb einer Verhandlungsdelegation, die offen gegenüber den beiden anderen beteiligten Parteien ausgetragen wurde, was auf deren Seite für Irritationen sorgte. Dennoch: Am Ende gab es ein gemeinsames Abschlussfoto, welches im Foyer der SPD-Parteizentrale aufgenommen wurde.

 

2. 1. Die Gesundheits-Verhandler

Ein festes Muster der Zusammenstellung der Verhandlungsdelegationen gibt es kaum, auch die Verhandlungsführer haben darauf wenig bis keinen Einfluss. Die jeweilige Berufung erfolgt durch die Parteiführungen: Die SPD-Verhandlungsführung hatte – unerwartet und überraschend für die übrigen Partner – Katja Pfähle bekommen, die Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2021 (zur personellen Zusammenstellung der AG siehe Eckert et al. 2021). Der künftige Gesundheitsminister Karl Lauterbach war ebenfalls Teil der Verhandlungsdelegation. Jedoch war er – im Zuge der Pandemie sicherlich der in Gesundheitsfragen bekannteste Politiker – zu diesem Zeitpunkt nicht formal Gesundheitspolitiker seiner Fraktion. Die für das Politikfeld zuständigen Mitglieder der Bundestagsfraktion waren so bei den Verhandlungen auf Seite der Sozialdemokraten nicht direkt eingebunden. Grüne und FDP hatten mit Maria Klein-Schmeink und Christine Aschenberg-Dugnus die jeweiligen gesundheitspolitischen Sprecherinnen ihrer Fraktionen als Verhandlungsführerinnen benannt. Insgesamt ist die Bedeutung der Verhandlungsführer nicht zu unterschätzen: Sie müssen die Richtung vorgeben und Kompromisslinien ausloten, wenn der Prozess in der AG ins Stocken gerät. Das geschah im trilateralen Dialog auch 2021. Nach innen müssen sie integrieren und die eigene Verhandlungsdelegation lenken können. Um die notwendige Geschlossenheit sicherzustellen, gibt es deshalb Vor- und Nachbereitungen der Verhandlungssitzungen.

Vor dem Hintergrund ist die Rolle der je zwei Schriftführer (oder Notetaker bzw. Sherpas), die zum Beispiel die Themenagenda erstellt haben (welche am 2. November als eines von nur zwei Schriftstücken aus den Verhandlungen bekannt wurde) und welche die Ergebnisse schriftlich zusammenfassten und intern je bei den Vorbereitungen eingebunden waren, von nicht geringer Relevanz. Die FDP schickte Referenten aus dem Bundestag, bei den Grünen ein Team aus Bundestagsfraktion und Parteizentrale. Lediglich die SPD ließ ihre Parlamentsreferenten außen vor, sie kamen aus Sachsen-Anhalt (wegen Pfähle) und dem Willy-Brandt-Haus. Da FDP und Grüne die AG vornehmlich mit Gesundheitspolitikern der Bundestagsfraktionen bestückt hatten, waren sich hier die Teilnehmer durch die Arbeit im Ausschuss für Gesundheit aus der zurückliegenden Legislaturperiode bereits bekannt – nicht unwichtig, weil für Verhandlungen Vertrauen entscheidend ist. Das war beispielsweise wiederum bei den Sondierungen für Jamaika 2017 bei den Hauptverhandlern nicht ausreichend gegeben. Nun aber gab es im Vorfeld den informellen Austausch, was sich dann auch auf die Koalitionsverhandlungen als positiv auswirkte.

Vor dem Hintergrund war ebenfalls entscheidend, dass sich die handelnden Akteure auf Seiten der Landesminister ebenfalls bekannt waren. Dadurch konnten Brücken gebaut werden, und auch festgefahrene Verhandlungsstränge waren leichter wieder zu öffnen. Neben einem Beziehungsgeflecht der Minister und einer teilweise bereits länger bestehenden Zusammenarbeit, beispielsweise im Rahmen der Gesundheitsministerkonferenzen, ist durch ihre Teilnahme die jeweilige Nutzung der Expertise in den einzelnen Landesministerien wichtig. Darüber hinaus ist es klug, die Länder personell einzubeziehen, um etwa bei späteren Krankenhausreformen Blockadepotenzial frühzeitig durch Beteiligung zu reduzieren (Eckert et al. 2021). Dieses Kalkül ging dann aber bei den Ampel-Verhandlungen, wie der spätere Koalitionsvertrag zeigt, nicht ganz auf – im Gegenteil: Die Länder blockierten den festgeschriebenen Wunsch bundesweiter Krankenhausplanung.

 

2. 2. Ablauf, Zeit- und Platzdruck

Die Verhandlungen der AG Pflege und Gesundheit fanden vom 28. Oktober bis zum 10. November 2021 statt, insgesamt neun Sitzungen standen den Verhandlern zur Verfügung, sieben zu einzelnen Themenblöcken sowie eine ausschließlich zur „Klärung offener Punkte + Endredaktion“. Das weite Feld Gesundheits-/Pflegepolitik wurde in folgende Oberthemen zusammengefasst:

  1. Digitalisierung / Bürokratieabbau und Lehren aus der Pandemie
  2. Sachstand Finanzen GKV/SPV, Finanzierung/Krankenversicherungssystem
  3. Pflege
  4. Versorgung
  5. Gesundheitsberufe / Fachkräftesicherung
  6. Selbstverwaltung / Drogenpolitik
  7. Verschiedenes (darunter Arzneimittel und Medizinprodukte, geschlechtergerechtes Gesundheitswesen, Vorsorge, Klima und Gesundheit).

Da sich die Hauptverhandler aus den Parteiführungen früh darauf geeinigt hatten, Olaf Scholz Anfang Dezember 2021 zum Bundeskanzler zu wählen, war der Zeitrahmen für die Verhandlungen in den AGs früh vorgegeben. Neben dieser Herausforderung blieb der AG wenig Raum bei der Ausgestaltung ihrer Ideen. Die SPD wollte diese nur in Stichworten aufgeschrieben haben, die FDP hat sich mit zwei Seiten begnügen wollen, letztlich waren es die Grünen, die sich mit drei durchsetzen konnten. Als problematisch erwies sich auch der Leitfaden für die AGs (maximal drei Seiten). Insgesamt ein begrenzter Raum für das weite Politikfeld.

Letztlich stieß die Seitenbegrenzung insgesamt auf Kritik, weshalb man darüber einherkam, zunächst zu formulieren und im Nachhinein zu streichen. Auch erwies sich im Zuge der Verhandlungen der Zeitplan als illusorisch, was die einzelnen Themenblöcke anbetraf (da mal mehr Zeit für das eine Thema gebraucht wurde, dann aber auch wiederum an anderer Stelle weniger Zeit notwendig war). Insgesamt wurde der Zeitplan dennoch halbwegs eingehalten. Zwei Teilnehmer konnten dadurch auch Abendtermine, etwa eine Talkshow, wahrnehmen.

 

2. 3. Abläufe und Dynamiken

Wie bei den Verhandlungen der AG insgesamt, so wurde auch in den jeweiligen Themenblöcken verfahren: Eingangs durfte jeder der potenziellen Partner eine Standortbestimmung vornehmen und die jeweiligen Anliegen nennen. In der beginnenden Diskussion kam es schließlich auf Seiten der beteiligten Parteien darauf an, zentrale Sätze und Anliegen in das Gespräch einzubringen, sich über sie auszutauschen und im Idealfall diese dann auch als Textbausteine in das Papier der AG einfließen zu lassen. Die Partner hatten sich darauf verständigt, im Vorfeld keine Texte und Positionen zu den Themenblöcken auszutauschen und im ersten Schritt den Diskurs zu suchen. Strittige Themen wurden nochmals in die darauffolgende Sitzung genommen. War dann eine Einigung nach mehreren Gesprächen nicht möglich, kamen im kleinen Kreis nochmals die drei Verhandlungsführer zusammen, um auf dieser Ebene noch strittige Punkte klären zu können. Gelang das nicht, bestand für die Verhandler die Möglichkeit, die durch Dissens offenen Punkte nach oben zu den Hauptverhandlern zu geben. Dies wurde aber kaum gemacht – nicht verwunderlich, da durch das Weiterreichen in die Gruppe der Parteiführungen auch das Momentum des Handelns und Entscheidens auf Seiten der AG erlischt, weshalb versucht wurde, Konflikte auch auf Ebene der AG zu klären. Hinzu kam, dass im kleinen Kreis der obersten Entscheider weiterführende Expertise in der Gesundheitspolitik abgesprochen wurde und man so den Ehrgeiz hatte, Gesundheitspolitik von den Fachpolitikern entscheiden zu lassen, Themen nicht unnötig nach oben zu geben.

Insgesamt zeigten die Ampel-Koalitionsverhandlungen in der Gesundheitspolitik dieselben Ähnlichkeiten in Abläufen und Dynamiken, wie man sie aus Koalitionsgesprächen anderer Couleur kennt – vielleicht mit Ausnahme der auffälligen Verschwiegenheit (erst kurz vor Toresschluss wurde am 18. November eine Version des Kapitels Gesundheit geleaked – anders als verschiedentlich dargestellt handelte es sich aber nicht um die finale Version der AG). Interessant war die Frage, ob bei einer Dreier-Verhandlungskonstellation bilaterale Absprache zu Lasten des dritten Verhandlungspartners versucht wurden. Dies wurde aber nicht unternommen – zumindest in der AG Pflege und Gesundheit; in der Hauptverhandlungsgruppe gab es anscheinend Versuche bei Grünen und FDP, aber dies „hat sich nicht bewährt“ (Robert Habeck zitiert nach Feldenkirchen 2021).

 

3. Inhalte

Dass die gesundheitspolitischen Koalitionsverhandlungen der Ampel insgesamt recht harmonisch verliefen, lag nicht zuletzt daran, dass das identitätsstiftende Unterscheidungsmerkmal des gesundheitspolitischen Parteienwettbewerbs vor Beginn der eigentlichen Verhandlungen kein Thema mehr war. Auf Wunsch der FDP wurde die Bürgerversicherung durch die Hauptverhandler früh abgeräumt und das auch im Sondierungspapier vom 15. Oktober 2021 festgeschrieben. Nichtsdestotrotz waren Zwischenschritte im Bereich des Möglichen, weshalb die Struktur des Krankenversicherungssystems auch in der AG diskutiert wurde: Portabilität der Altersrückstellungen, ein beihilfefähiges Angebot für gesetzlich versicherte Beamte im SGB V. Am Ende entschied man sich dagegen, die strittigen Punkte ‚nach oben‘ zur Klärung in die Hauptverhandlungsgruppe zu geben. Mit der Direktabrechnung für Kinder in der PKV einigte man sich auf einen SPD-Vorschlag.

 

3. 1. Das Heft nicht aus der Hand geben

Dennoch hat man auch in diesen Koalitionsverhandlungen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die durch Dissens offenen Punkte nach oben zu den Hauptverhandlern zu reichen – letztlich aber nur im Bereich der Pflege (Umgang mit Eigenanteilen in der stationären Pflege). Der wesentliche Verzicht des Weiterreichens in die Gruppe der Parteiführungen ist eben erklärbar, da so auch das Momentum des Handelns und Entscheidens auf Seiten der AG erlischt. Folglich wurde versucht, Konflikte auf Ebene der AG zu klären. Hinzu kam, dass im kleinen Kreis der obersten Entscheider keine weiterführende Expertise in Gesundheitspolitik vermutet wurde und man den Ehrgeiz hatte, Gesundheitspolitik von den Fachpolitikern entscheiden zu lassen.

Unstrittig zwischen den drei Verhandlungsdelegationen waren die Themen Pflegekräftemangel, Prävention und Digitalisierung (bis auf Opt-out bei der ePA). Aber natürlich hatten die Parteien grundsätzlich unterschiedliche thematische Präferenzen, etwa Tarifverträge (SPD), Gesundheitsberufe (Grüne), Freiberuflichkeit (FDP), wobei es offenbar bei den Grünen insgesamt den größten ‚Revolutionsanspruch‘ gab. Karl Lauterbach selbst setzte sich in den Gesprächen dem Vernehmen nach für die freiwillige Pflegevollversicherung ein, auch die Passage zur Notfallversorgung geht demnach auf ihn zurück, insgesamt gab er den Teamplayer seiner Partei, galt aber auch gegenüber den anderen als konstruktiver Verhandler. Ferner machte er sich für 5.000 zusätzliche Medizinstudienplätze stark, was aber Grüne und FDP ablehnten.

 

3. 2. Unterschiede zwischen AG-Papier und Koalitionsvertrag

Auffällig ist, dass einige Punkte, auf die sich die AG einigte, nicht im finalen Koalitionsvertrag und auch nicht in den AG-Verhandlungen selbst konkreter geklärt wurden. Erklärbar ist das unter anderem durch die fehlende Zeit während der Verhandlungen bzw. den geringen Platz in Folge der Vorgaben des Leitfadens oder aber auch keinen abschließenden Konsens (Unklar ist, ob etwas vereinbart wurde, was aber nicht im Koalitionsvertrag auftaucht). Einige Beispiele: Zum Offengelassenen zählt etwa, wie genau die gematik zur ‚digitalen Gesundheitsagentur‘ wird, oder in welcher Form die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in einem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit aufgeht. Ob die Cannabisfreigabe die gesamte Wertschöpfungskette umfasst oder nicht, ist auch noch offen. Letztlich gilt dies auch für die drängenden Finanzierungsfragen: Das BMG präsentierte das Finanztableau durch die Leitungen der Abteilungen 2 und 4 (im Falle der Abteilung 2 durch die zuständige Unterabteilungsleiterin, da die Leitung verhindert war), wobei niemand dem Vernehmen nach von den Zahlen überrascht war. Die eierlegende Wollmilchsau wurde in den Verhandlungen nicht gefunden. Die Erhöhung des Herstellerabschlags für patentgeschützte Arzneimittel war eine SPD-Idee – auch um den Wunsch nach erhöhten Bundesmitteln zu flankieren.

Die Vorschläge der AG, die nach oben in die Hauptverhandlungsgruppe gegeben wurden, waren nicht zuletzt auch kostenintensiv, was die Haushälter wie auch die Hauptverhandler zum Eingreifen brachte. Im Ergebnis soll nun eine Finanzierung höherer Beiträge des Bundes für die Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln erfolgen (vorher: Finanzierung kostendeckender Beiträge). Mit dem Ziel einer weiteren Absenkung sollen die Eigenanteile in der stationären Pflege begrenzt und planbar gemacht werden (vorher: prozentuale Zuschüsse beobachten). Die Regelungen ab dem 1. Januar 2022 zu prozentualen Zuschüssen zu den Eigenanteilen sollen beobachtet und geprüft werden.

Streichungen auch bei der stationären Versorgung: Die von der AG vorgesehene kurzfristig einzusetzende Regierungskommission (Erarbeitung von Leitplanken für eine auf Leistungsgruppen und Versorgungsstufen basierende und sich an Kriterien wie der Erreichbarkeit und der demographischen Entwicklung orientierende Krankenhausplanung, Vorlage von Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Krankenhausfinanzierung, Ergänzung um nach
Versorgungsstufen differenziertes System erlösunabhängiger Vorhaltepauschalen) findet sich auch im finalen Koalitionsvertrag. Diese davon abhängige Beteiligung des Bundes an der Investitionsförderung scheiterte dem Vernehmen nach am Veto der Ministerpräsidentinnen von Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz – für Knieps (2021: 7) ein historisch zu nennender Fehler. Die Senkung der Mehrwertsteuer von Arzneimitteln auf sieben Prozent scheiterte wiederum an den Voten des alten und des neuen Finanzministers. Die Anhebung des Herstellerrabattes für patentgeschützte Arzneimittel auf 16 Prozent hingegen wurde dem Vernehmen nach in der Hauptverhandlungsgruppe durch die FDP wie auch durch die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz wieder herausgenommen.

Im Großen und Ganzen hätte der gesundheitspolitische Part des Ampel-Koalitionsvertrages auch von einer GroKo verabschiedet werden können. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das einzige größere, für den Parteienwettbewerb relevante Thema mit der Bürgerversicherung in der Sondierungsphase ausgeschlossen wurde. So könnte die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zum gesundheitspolitischen Alleinstellungsmerkmal der Ampel-Koalition werden.

 

4. Fazit

Auch wenn die Konstellation neu war, die beteiligten Akteure und Parteien noch niemals zuvor auf Bundesebene Koalitionsvereinbarungen zusammen getroffen haben, so sind diese doch recht weitgehend nach den bekannten und etablierten Mustern abgelaufen, wie sie für andere und erfahrene Runden der Fall waren. Dazu zählen u. a. die folgenden Erkenntnisse im Bereich ‚Pflege und Gesundheit‘:

  • Die Fachebene verhandelt, Fachfremde entscheiden final: Nicht alle Wünsche der Verhandler auf AG-Ebene wurden letztlich von den Hauptverhandlern in den Koalitionsvertrag übernommen. Auch, wenn diese versucht haben, die Agenda in Händen zu halten und keine Themen auf die höchste Ebene abzugeben, was sie an Einfluss gekostet hätte, wird im Nachhinein teilweise Bedauern darüber geäußert, dass nicht alle Themen (z. B. Krankenhausplanung) übernommen wurden. Auf der Ebene der Hauptverhandler werden hingegen normalerweise sachfremde Paketlösungen vereinbart, zudem ist die gesundheitspolitische Expertise geringer oder nicht vorhanden. Dazu zählt auch, dass sich einige Teilnehmer gewünscht hätten, die Schwerpunktsetzung auf den Bereich Pflege, welcher durch die Reihenfolge der AG (Pflege und Gesundheit) deutlich wurde, hätte über den Koalitionsvertrag hinaus auch den Zuschnitt des Ministeriums bestimmt. Aber auch wie bei anderen Koalitionsverhandlungen ist die finale Organisation der Häuser dann Sache der zuständigen Akteure.
  • Das Politikfeld Gesundheit ist ein Querschnittsthema: An 87 Stellen taucht im finalen Koalitionsvertrag das Wort ‚Gesundheit‘ auf; Bezüge finden sich in den Kapiteln zur Forschung (Investitionen in medizinische Spitzenleistungen), werden im Zusammenhang mit Digitalisierung aufgegriffen (Effizienzpotentiale bei Beschäftigten durch Weiterbildungsangebote heben), bei Fachkräften thematisiert (hier im Schwerpunkt zur Pflege) oder selbst im Rahmen der Umweltpolitik (Klimaanpassung) genannt. Erweiterte Bezüge zur Prävention sind nicht nur hier, sondern auch bei Ernährung oder gar der Verkehrspolitik gegeben. Nicht alle für Gesundheit relevante Verhandlungen wurden so unter Einbezug der Gesundheitspolitiker geführt. Die spätere Zusammenführung bleibt abzuwarten.
  • Jeder braucht einen Skalp: Die jeweiligen Parteiführungen entscheiden über die Zusammensetzungen der unterschiedlichen AGs, die sie in den Verhandlungen in der Fläche der Themen vertreten. Sie müssen so die Parteilinie im Kleinen vertreten und stellvertretend auch die übergeordnete Strategie auf die Gespräche übertragen. Jede Partei hat zuvor rote Linien festgelegt, wie auch Minimalziele intern formuliert. Zur Gesichtswahrung ist es wichtig, dass alle Beteiligten sich so einbringen können, dass Ziele und Forderungen parteipolitisch zugeordnet werden können. Allerdings bleibt unklar, inwieweit dies schlussendlich in den Verhandlungen gelungen ist und wie abschließend die Themen inhaltlich geklärt wurden. Gleiches gilt für potenzielle Nebenabsprachen.
  • Erfolgsdruck führt zu Kompromissen: Man kann auch verdammt sein, zu siegen – nachdem die FDP bei den Sondierungen zu Jamaika das Feld früh verließ, war erwartet worden, dass ein zweites Mal ein Scheitern nicht hinnehmbar in der öffentlichen Wahrnehmung sei. Zumindest im Bereich der Gesundheitspolitik wurde früh ein Scheitern ausgeschlossen. „Das hätte uns auch keiner abgenommen“, werden Teilnehmer zitiert. Die Wahlprogramme der beteiligten Parteien boten im Vorfeld (Krankenhausfinanzierung, Legalisierung Cannabis etc.) genügend Anknüpfungspunkte für Kompromisse und eine Abbildung der jeweiligen parteipolitischen Interessen.
  • Das Bundesgesundheitsministerium bleibt unbeliebt: Klassischerweise erfolgt die Ressortverteilung erst ganz am Ende einer Koalitionsverhandlung, was natürlich auch immer eine Auswirkung auf die Verhandlung selbst hat – weil die Verhandler nicht wissen, wer denn am Ende die Inhalte umsetzen muss. 2021 bestand dennoch kein Interesse von keiner Seite, das Gesundheitsressort zu übernehmen: FDP und Grüne hatten sich in der Vergangenheit bereits die Finger verbrannt. Aber auch die SPD schien zu zögern (Ronzheimer et al. 2021).
  • Papier ist geduldig: Der Koalitionsvertrag der Ampel ist aus Sicht der Koalitionsforschung ‚unvollständig‘, d. h. die in der Koalitionsvereinbarung gefundenen Maßnahmen sind mehr oder wenige präzise formuliert, sondern vielmehr nicht selten offen für Interpretationen, wie das genannte Ziel mit welchen konkreten Umsetzungsschritten wann zu erreichen ist (vgl. Paquet 2021). So gesehen ist der Ampel-Koalitionsvertrag – im historischen Vergleich wahrscheinlich nicht unüblich – stärker Agenda-setting für die folgende Legislaturperiode und weniger schon konkrete Politikformulierung. An dieser Stelle kommt wiederum der ‘ministerial drift‘ ins Spiel: Das BMG und der Minister haben erhebliche Spielräume, die Ampel-Gesundheitspolitik im eigenen Sinne zu prägen. Allerdings fordert die Pandemiebekämpfung aktuell viel Aufmerksamkeit, Corona ist das alles beherrschende Thema. Die Fraktionen von Grünen und FDP könnten versucht sein, selbst die Rolle des BMG als gesundheitspolitischem Antreiber zu übernehmen, einige sprechen hier von einem Bypass um das Ministerium herum. Auch in der Vergangenheit gab es dies mitunter zu beobachten, etwa bei Jens Spahn und dem FDP-geführten BMG Anfang der 2010er Jahre. Umso mehr Bedeutung wird dann künftig dem Koalitionsausschuss als ex post-Instrument des Politikmanagements zukommen. Das in den Koalitionsverhandlungen auf der Fachebene gefundene Vertrauen sollte dabei helfen, muss aber auch bewahrt werden: Die Debatte um die Impfpflicht zeigt, dass die Kohäsion einer programmatisch heterogenen Koalition immer auch Fliehkräften unterliegt.

 

Literatur:

 

 

Dipl.-Pol. Robin Rüsenberg

Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig. Geschäftsführer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä) e.V., Berlin

 

Dr. Florian Eckert

Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig. Lead Government Affairs, Market Access & Government Affairs Astellas Pharma GmbH.

 

Die Autoren vertreten ihre private Meinung.


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