„Ich streite weiterhin für die Selbstbestimmung am Lebensende“

Aufruf an Parlamentarier zur gemeinsamen Erarbeitung eines modernen Sterbehilfegesetzes

Katrin Helling-Plahr MdB (FDP), Mitglied des Ausschusses für Gesundheit sowie des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz

1281 Tage sind vergangen, seitdem das Bundesverwaltungsgericht urteilte, dass einem schwer und unheilbar kranken Menschen, der sich in einer extremen Notlage befindet, die Erlaubniserteilung zum Erwerb eines letal wirkenden Medikaments nicht versagt werden darf. „Erst“ 190 Tage ist es her, dass sich das Bundesverfassungsgericht in unerwarteter Klarheit zum Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben bekannte und klarstellte, dass es jedem Einzelnen obliegt, auch über sein Lebensende frei zu entscheiden. Der Staat hat keine Beurteilung der Motivlage vorzunehmen, einen gegen die individuelle Selbstbestimmung gerichteten gesetzlich verordneten Lebensschutz kann es auf der Basis des Grundgesetzes nicht geben.

Seit den Urteilen ist zwar einige Zeit vergangen, tatsächlich hat sich allerdings leider nicht allzu viel getan. Das war von Gesundheitsminister Jens Spahn auch genau so gewollt. Seit 2017 wartet er entweder Urteile ab oder er gibt vor, diese zu prüfen. Zwischenzeitlich zündet er allenfalls die ein oder andere Nebelkerze. Ziel: Die Diskussion über das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und eine gesetzliche Regelung zur Sicherung desselben auf Abstand halten. Das ist schlimm für die Menschen, die sterben und für die Menschen, die helfen möchten. Oftmals Angehörige, die sowieso schon besonders unter der Situation leiden.

 

Mehrheit der Deutschen für Möglichkeit der Suizidhilfe

Seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts haben 174 Menschen beim zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einen Antrag auf Erlaubniserteilung eingereicht, davon wurde kein einziger bewilligt. 106 Anträge wurden abgelehnt, einige werden noch – so jedenfalls vorgeblich, denn das Ergebnis der Prüfung steht schon fest: Ablehnung – geprüft. Damit missachtet Minister Spahn höchstrichterliche Rechtsprechung und stellt seine eigenen Moralvorstellungen über Recht und Gesetz. In unserem Rechtsstaat eigentlich undenkbar. Gleichzeitig ergibt jede Meinungsforschung, dass die Mehrheit der Deutschen die Möglichkeit der Suizidhilfe befürwortet.

Bisher hat die Große Koalition das Vorgehen ihres Ministers gedeckt. Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind jedoch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier am Zuge und sollten über eine Neuregelung des Sterbehilferechts beraten. Eine fraktionsübergreifende Debatte duldet keinen Aufschub und sollte noch in diesem Jahr stattfinden. Gute parlamentarische Praxis ist es, dass die Ministerien allen Parlamentariergruppen beratend zur Seite stehen. Diese Unterstützung erwarte ich eigentlich auch vom Bundesministerium für Gesundheit, wenngleich mich neben dem Umgang mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auch das Vorgehen des Ministers in jüngerer Zeit begründet skeptisch macht. Obschon das Ministerium nicht müde wird zu betonen, eine Neuregelung müsse aus der Mitte des Parlaments angestoßen werden, hat der Minister im Schatten der Corona-Pandemie verschiedene, vor allem konservative Verbände und Wissenschaftler aufgefordert, Stellungnahmen zur Neuregelung der Sterbehilfe abzugeben. Diese Stellungnahmen möchte der Minister aber weder der Öffentlichkeit noch den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zur Verfügung stellen. Die Einseitigkeit in der Expertenauswahl und die mangelnde Transparenz zeugen von schlechtem Stil. Entweder auf dem Gebiet der Logik oder dem der Ehrlichkeit hat der Minister Defizite.

 

Eckpunktepapier für Richtschnur eines liberalen Sterbehilfegesetzes

Zum Glück tickt nicht jeder so wie Minister Spahn. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts habe ich meine Kollegen eingeladen, ausgehend von den Gedanken des Bundesverfassungsgerichts, gemeinsam ein liberales Sterbehilfegesetz zu erarbeiten, das das Recht auf selbstbestimmtes Sterben sichert, statt es zu beschneiden. Dieser Idee haben sich Abgeordnete über die Fraktionsgrenzen hinweg angeschlossen.

Als erste Richtschnur habe ich ein Eckpunktepapier erarbeitet. Dabei habe ich mich von zwei Gedanken leiten lassen. Erstens: Wie können wir dem ernstlichen und dauerhaften Wunsch von Menschen, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, mit Respekt und ohne staatliche Bevormundung begegnen? Zweitens: Wie können wir die Achtung der Selbstbestimmung mit dem Schutz der Betroffenen vor einer Beeinflussung durch Dritte in Einklang bringen? Eine selbstbestimmte Entscheidung setzt zwingend eine entsprechende Aufklärung voraus. Hier sollten wir ansetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade die Möglichkeit prozeduraler Sicherungsmechanismen und die Einführung von Aufklärungs- und Wartepflichten als zulässig erachtet, wenn dadurch das Recht des selbstbestimmten Suizides weder rechtlich noch faktisch ausgeschlossen wird.

 

Staat hat Schutzpflicht

Allerdings sind die Grenzen zwischen Aufklärung, Beratung und Einflussnahme fließend. Diejenigen, die sich explizit gegen eine verpflichtende Beratung vor der Möglichkeit zur Inanspruchnahme institutionalisierter Sterbehilfe aussprechen, befürchten einen Rechtfertigungsdruck, in den die Betroffenen gerieten. Auf der anderen Seite hat der Staat auch eine gewisse Schutzpflicht zu Gunsten derjenigen, die nicht selbstbestimmt und wohlerwogen eine solch finale Entscheidung treffen können. Diese Frage ist neben der des Umgangs mit Sterbehilfeorganisationen die meines Erachtens gewichtigste Konfliktlinie im Spektrum derer, die das Bundesverfassungsgerichtsurteil ernst nehmen.

Auf Jens Spahn sollte in dieser Debatte kein Jeton gesetzt werden. Viel mehr appelliere ich an meine Kolleginnen und Kollegen, insbesondere auch der Unions-Fraktion: Lassen Sie uns gemeinsam auf der Basis unseres liberalen Grundgesetzes ein modernes Sterbehilfegesetz erarbeiten. Ich bin zuversichtlich, dass die Debatte im Herbst an Fahrt gewinnt, und streite weiterhin für die Selbstbestimmung am Lebensende.


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