Hilfsmittelversorgung muss in den Fokus der Politik

Frank Weniger, Leiter Politik eurocom

Neuerungen in der Hilfsmittelversorgung werden im längst überfälligen Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz angekündigt. Das Bewilligungsverfahren für Menschen mit Behinderungen, die in Behandlung in darauf spezialisierten Zentren sind, soll beschleunigt werden. Ein notwendiger und richtiger Schritt, denn die Betroffenen leiden teilweise sehr unter langwierigen Verfahren und Ablehnungen der Kassen[1].

Aber für eine gute Hilfsmittelversorgung kann dies nur ein Anfang sein. Mit rund zehn Milliarden Euro Anteil an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist diese Versorgungsform stets etwas im Schatten der großen Posten wie der stationären und ambulanten Versorgung oder den Arzneimitteln. Aber eine qualitativ hochwertige und zügig bereitgestellte Hilfsmittelversorgung ist für den Genesungsprozess der Patienten wichtig, wenn nicht mitentscheidend.

Beispiel Kompressionstherapie und orthopädische Hilfsmittel: Nach einer Allensbach-Umfrage im Auftrag der eurocom[2] sind 25 Millionen Menschen auf Kompressionsstrümpfe, orthopädische Schuheinlagen, Bandagen oder Orthesen angewiesen. Der Nutzen dieser Hilfsmittel ist hoch: Ein Viertel der Operationen kann vermieden werden. Rund 70 Prozent der Menschen sind mobiler. 80 Prozent der Träger von Bandagen oder Orthesen benötigen weniger oder gar keine Schmerzmittel mehr. Die Hälfte derer, die krankgeschrieben waren, konnten mit diesen Hilfsmitteln wieder schneller zur Arbeit gehen. Es gibt also auch einen klaren volkswirtschaftlichen Nutzen

 

Schnellere Aufnahme von innovativen Hilfsmitteln in GKV-Verzeichnis notwendig

Doch die Frage der Aufnahme eines neuen innovativen Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes läuft zu schleppend. Sie ist aber notwendig: Erst mit dieser Listung kann das neue Hilfsmittel allen Patienten ohne zusätzliche bürokratische Hürden zur Verfügung stehen, das heißt ohne einen langen Genehmigungsweg bei der Krankenkasse, möglicherweise mit Klageverfahren.

Der GKV-Spitzenverband verweigert häufig die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis, unter anderem weil der medizinische Nutzen des Hilfsmittels nicht nachgewiesen sei. Dies führt immer wieder zu einer schlechteren Versorgung der Patienten. Ein Beispiel: Für die Versorgung von Patienten mit einer vorderen Kreuzbandruptur am Knie steht schon seit 2004 eine aktive Kniebewegungsschiene zur Verfügung, um das Gelenk zu mobilisieren. Durch die Umwege eines Klageverfahrens bis zum Bundessozialgericht und einer Erprobungsstudie des Gemeinsamen Bundesausschusses können GKV-Patienten bis heute nicht regelhaft mit dieser Schiene versorgt werden. Dabei sorgt dieses Hilfsmittel schon seit Jahren bei PKV-Patienten und Selbstzahlern für eine schnelle Genesung. Solche Verfahren müssen schneller gehen, zum Beispiel durch ein geeignetes Fast Track-Verfahren. Die Anforderungen an den Nachweis des medizinischen Nutzens sind dabei rechtssicher und verbindlich zu gestalten sowie mit einer Beweislastumkehr zu verbinden. Der GKV-Spitzenverband muss begründen, was der Hersteller über die europaweit gültige Zulassung als Medizinprodukt hinaus vorlegen sollte.

Bei bestimmten Hilfsmitteln gibt es Festbeträge, bis zu denen die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Festbeträge sind die sachgerechtere Alternative zu Ausschreibungsverfahren, die in der Vergangenheit bei Inkontinenzhilfsmitteln zu einer regelrechten „Qualitätsabwärtsspirale“ geführt haben. Aber die Festbeträge müssen marktgerecht an gestiegene Preise angepasst werden. Anders als andere Fabrikanten können die Hilfsmittelhersteller ihre höheren Kosten nicht einfach an die Kunden weitergeben. Sie sind an die bestehenden Verträge mit der GKV gebunden. Deshalb ist eine regelmäßige Anpassung an die Marktlage von Festbeträgen wichtig.

 

Unterschiedliche Mehrwertsteuersätze müssen angepasst werden

Ähnlich ist es bei den Mehrkosten. Eine vernünftige Mehrkostenregelung erlaubt zweierlei: Die GKV-Versicherten können eine gute Versorgung ohne Mehrkosten bekommen. Wer ein höherwertiges Produkt haben will, kann dies erhalten, ohne die GKV-Gemeinschaft mit den höheren Kosten zu belasten. Dafür hat der Gesetzgeber bestimmte Dokumentationspflichten für die Leistungserbringer wie Sanitätshäuser ins Gesetz geschrieben. Weitere Dokumentationen, wie sie der GKV-Spitzenverband in letzter Zeit zum Nachweis des „Mehrnutzens“ ins Hilfsmittelverzeichnis schreibt, haben keine Grundlage und bedeuten nur mehr Bürokratie für die Patienten und den Leistungserbringer.

Weiterhin muss die ab 1. Juli 2027 verpflichtende elektronische Verordnung für Hilfsmittel die Therapiehoheit des Arztes gewähren und darf die Versorgungsvielfalt nicht einschränken.

Ein Dorn im Auge sind auch die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze für Hilfsmittel. Warum die eine Handgelenksbandage mit 19 Prozent besteuert wird und die andere mit sieben Prozent, kann noch nicht einmal als „historisch gewachsen“ erklärt werden. Ein einheitlicher Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent für alle Hilfsmittel ist angemessen.

Faktoren, die für ungünstige Bedingungen für die Hilfsmittelindustrie sorgen: Bei der Mitgliederbefragung 2023[3] der eurocom benannten über 90 Prozent der Firmen die regulatorischen Hürden als größtes Hemmnis auf dem deutschen Markt. In Bezug auf die deutschen Gesetze wurden das unsichere Verfahren zur Aufnahme neuartiger Produkte in das Hilfsmittelverzeichnis und die fehlende Abbildung von Kostenschwankungen in den Verträgen mit der GKV an vorderster Stelle aufgeführt. Außerdem sehen die Hersteller diese Verträge als zu sehr vom Preis und nicht von der Qualität des Produkts dominiert an. In Bezug auf die Medical Device Regulation (MDR) ist eine externe Analyse der Datenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte alarmierend: Seit Geltung der MDR ist der Anteil der neuen Produkte, die von deutschen Herstellern auf den Markt gebracht werden, von 90 auf 30 Prozent gesunken.

 

Schwierige Suche nach Fachkräften aufgrund der Preisbindung

Hinzu kommt für Hilfsmittelhersteller der allgemeine Fachkräftemangel in besonderer Weise. Es handelt sich um einen hochtechnisierten Industriezweig. Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften ist groß. Wo andere Unternehmen den Wettbewerb um diese Kräfte mit höheren Löhnen führen können, um die gestiegenen Personalkosten an die Kunden weiterzugeben, ist das der Hilfsmittelhersteller-Branche wegen der Preisbindung mit der GKV verschlossen.

Die Hilfsmittelversorgung ist zu wichtig, um sie links liegen zu lassen. Die eurocom appelliert deshalb an das Bundesgesundheitsministerium und die Mitglieder des Bundestags-Gesundheitsausschusses: Die Hilfsmittelversorgung muss auf die Tagesordnung. Es muss nicht erst soweit kommen wie bei der Arzneimittelherstellung: Dass alle Beteiligten fieberhaft überlegen, wie man die Produktion wieder zurück nach Deutschland bekommt. Dann ist es zu spät.

 

[1]https://www.openpetition.de/pdf/blog/stoppt-die-blockade-der-krankenkassen-bei-der-versorgung-schwerst-behinderter-kinder-erwachsene-3_aktionsbuendnis-und-weitere-entwicklungen_1632130835.pdf

[2]https://www.eurocom-info.de/allensbach-umfrage-2023-patienten-vertrauen-auf-medizinische-hilfsmittel-und-erwarten-persoenliche-beratung-vor-ort/

[3] https://www.eurocom-info.de/hilfsmittelhersteller-bangen-um-innovationsklima-in-deutschland/


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