Helden der Unterauslastung

Zum Beitrag der Krankenhäuser bei der Eindämmung der Pandemie

Dr. Robert Paquet

Inzwischen wird in der Debatte die Frage lauter, wem die erfolgreiche Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland zu verdanken ist. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat dazu ein Positionspapier vorgelegt[1]: „Lehren aus der Pandemie für eine gute Krankenhauspolitik“. Darin wird erklärt, die Krankenhäuser hätten den Kern der systemsichernden Infrastruktur gebildet und zudem viele Patienten in Ambulanzen betreut. Sie seien der „zentrale Ankerpunkt“ in der gesundheitsbezogenen Daseinsfürsorge. Aus diesen Feststellungen leitet die DKG weitreichende Forderungen ab, bis hin zu einer „grundlegenden Reform der medizinischen Versorgung“, in deren Mittelpunkt natürlich die Krankenhäuser stehen sollen. Dabei wird ihre Rolle jedoch unberechtigt überhöht; aus ihrer Leistung in der Pandemie lassen sich keine zusätzlichen Rechte für die Kliniken begründen.

Wie so oft im Leben sind die Dinge differenziert zu betrachten. Sicher haben viele Krankenhäuser bei der Behandlung schwerstkranker Covid-19-Patienten Großartiges geleistet. Auch der Aufbau von zusätzlichen Intensivbetten in wenigen Wochen ist eine beeindruckende organisatorische und logistische Leistung, auch wenn man sie – Gott sei Dank – im Ergebnis nicht nutzen musste. Die Kliniken haben sich seit Anfang März vorbereitet und z.B. ihr Personal im Schnellverfahren geschult und umorganisiert. Es herrschte höchste Alarmstufe. Dann blieb erfreulicherweise der große Ansturm aus, und schon Ende April fragte ein Klinikchef: „Wo sollen unsere Leute denn jetzt hin mit dem ganzen Adrenalin?“ Das zeigt das Dilemma: Nur ein Teil der Klinken war mit den Corona-Problemen tatsächlich konfrontiert und, auch in diesen Häusern selbst gab es den Gegensatz von höchster Beanspruchung und (teilweisem) Stillstand in den Bereichen, in denen die elektiven Behandlungen seit März abgesagt wurden.

Diese Absage erwies sich in ihrer Radikalität schnell als falsch. Da die mittlere Verweildauer in Krankenhäusern inzwischen bei sieben Tagen liegt, wären kürzere und flexible Reaktionszeiten angemessen gewesen. So auch Matthias Gruhl in seinem Kommentar vom 18.6.2020[2]. Im Ergebnis haben einige Krankenhäuser fast uneingeschränkt weiterbehandelt. Andere haben den Betrieb weitgehend eingeschränkt.

 

Eher mäßige Belastung der Krankenhäuser

Als zweiten (inzwischen weitgehend korrigierten) Fehler bezeichnet Gruhl die einheitliche, undifferenzierte Pauschale von 560 Euro für jedes leerstehende Bett: „Dies führte dazu, dass insbesondere Krankenhäuser ohne ein hochdifferenziertes, komplexes Leistungsspektrum, die in der Regel einen geringeren CMI-Wert aufweisen, mehr Geld mit dem Leerstand (zumal sie Personalkosten durch zum Beispiel zu kompensierende, aufgelaufenen Überstunden noch reduzieren konnten) verdienten als mit ihren üblichen DRG-Erlösen.

Auch ein Blick in das DIVI-Register zeigt die Unterschiedlichkeit und insgesamt eher mäßige Belastung der Kliniken[3]:

  • Am 14.7. waren – wie seit Mitte Mai – mehr als ein Drittel der ca. 32.000 Intensivbetten unbelegt. Angeboten werden sie von rund 1.268 Krankenhaus-Standorten. Allein das heißt, dass nur ein Teil der deutschen Krankenhäuer überhaupt intensivmedizinische Betreuung vorhält.
  • Bundesweit gab es zu diesem Zeitpunkt 266 Fälle in den Intensivstationen, von denen knapp die Hälfte beatmet wurden. Das ist eine Inanspruchnahme der Intensivbetten durch Covid-19-Fälle von weniger als einem Prozent. Selbst beim Gipfelpunkt der Pandemie mit fast 3.000 intensivbehandelten Patienten wurden maximal 10 Prozent der Intensivbetten durch diese Patienten belegt. Die Fallzahlentwicklung zeigt somit, dass man seit vielen Wochen auch in den intensivmedizinischen Abteilungen der Krankenhäuser nach und nach wieder zum „Normalbetrieb“ zurückkehrt.
  • Von Anfang an (und mit der erfolgreichen Eindämmung der Pandemie immer mehr) gab und gibt es viele Intensivstationen, die überhaupt keine Covid-19-Fälle behandeln. Schwerpunkte ergaben sich jedoch dort, wo Hochleistungsmedizin geboten wird, also bei Universitätskliniken und Maximalversorgern. Dort wurden auch die meisten neuen Intensivbetten eingerichtet. Daran ist positiv, dass die Behandlung der neuen Erkrankung in besonders leistungsfähigen und erfahrenen Einrichtungen stattfindet, die auch einen Beitrag zur weiteren Erforschung der Krankheit leisten können.
  • Seit kurzem wirkt das BMG auf die Krankenhäuser ein, keine weiteren Intensivbetten einzurichten, weil das inzwischen als Missbrauch der ausgelobten Aufbau-Prämie von 50.000 Euro betrachtet werden müsste.

Selbst der „Nachholeffekt“, auf den manche Häuser sogar als Ertragsmöglichkeit hoffen, dürfte die Krankenhäuser nicht belasten. Bei durchschnittlichen Belegungsquoten unter 80 Prozent wird er leicht zu verkraften sein, wenn er denn überhaupt eintritt. Auch Gruhl zweifelt daran. Das bestätigt eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) zu den Diagnosen der Krankenhausfälle in der Phase des Lockdowns (März bis April). „Insgesamt zeigt sich in den Daten ein sehr rationales Vorgehen der behandelnden Ärzte in der Phase des Lockdowns: Nicht so dringliche Operationen, zum Beispiel zur Implantation von künstlichen Gelenken, wurden den Vorgaben der Politik entsprechend verschoben, um Kapazitäten für die Behandlung von Covid-19-Patienten freizuhalten. Zugleich wurden aber offensichtlich dringliche und medizinisch notwendige Operationen weiter durchgeführt“, sagt WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber[4]. Zum Beispiel hat sich die Gesamtzahl der vollständigen Gebärmutterentfernungen (Hysterektomien) nahezu halbiert (minus 48 Prozent), was ausschließlich auf Eingriffe bei gutartigen Veränderungen zurückzuführen war (minus 66 Prozent), während die Eingriffe bei Gebärmutterhalskrebs sogar anstiegen (plus 23 Prozent). Insoweit ist nur mit einer Verschiebung von Behandlungen zu rechnen, die jedoch keinesfalls zu einer Überforderung der Kliniken führen wird.

Das zeigt: Trotz der psychischen Belastungen und dem Erwartungsstress erlebten die Kliniken insgesamt und tatsächlich eine Phase der Unterauslastung bei finanziell weitgehender Grundabsicherung. Angesichts dieser Unterschiede und Widersprüchlichkeiten trägt das DKG-Positionspapier viel zu dick auf.

Es ist sicher hoch anzuerkennen, dass die Krankenhäuser etwa 30.000 Corona-Patienten stationär versorgt haben, von denen etwa die Hälfte intensiv behandelt werden musste. Dabei habe sich wegen der hohen Hygienestandards (im Vergleich zu anderen Ländern) wenig Personal infiziert. Das ist eine gute Zwischenbilanz, aber auch unter normalen Umständen hat niemand bezweifelt, dass die deutschen Krankenhäuser Großes leisten. Trotzdem ist es einfach unzutreffend, dass die Krankenhäuser damit zur „zentralen Anlaufstelle“ für Corona-Patienten geworden seien. Ebenso unzutreffend ist, dass die Krise bewiesen habe, dass man „nicht zu viele Kapazitäten“ vorhalte und die Organisation der ambulanten Notfallversorgung an die Klinken gehöre[5].

 

Überfüllung der Notfallaufnahmen in der Krise schlagartig verschwunden

Man könnte eher auf die Idee des Gegenteils kommen: Die sonst beklagte Überfüllung der Notaufnahmen (mit Patienten, die dort nicht hingehören) ist in der Krise schlagartig verschwunden. Der Anteil der „ambulant-sensitiven“ Eingriffe im Krankenhaus ist massiv zurückgegangen. Das sehen sogar manche Krankenhausärzte als Chance, sich künftig auf die Patienten zu konzentrieren, die ambulant nicht angemessen behandelt werden können. Auch dass sich „die flächendeckende, nicht auf die Ballungsräume beschränkte Vorhaltung von Krankenhauskapazitäten als besonderer Vorteil des deutschen Gesundheitswesens erwiesen“[6] habe, ist angesichts der tatsächlichen Konzentration der Corona-Fälle in relativ wenigen Kliniken eine Legende der DKG.

Im Ergebnis fordert die DKG die Weitergeltung der Ausgleichzahlungen über den 30.9. hinaus, einen „Pandemiezuschlag für Corona-bedingten Mehraufwand“, das Aussetzen des Fixkostendegressionsabschlags bis zum Wiedererreichen des Leistungsniveaus 2019 sowie die dauerhafte Verkürzung des Zahlungsziels für die Begleichung der Krankenhausrechnungen durch die Kassen. Erwartungsgemäß wird die Gelegenheit genutzt, erneut die Abschaffung der Pflegepersonaluntergrenzen, von Strukturvorgaben und Dokumentationspflichten i.S. Qualität zu fordern. Es überrascht auch nicht, dass in dem Papier einmal mehr der föderale Aufbau des Gesundheitswesens gerühmt wird, der sich in der Wirklichkeit der Krise jedoch auch als problematisch erwiesen hat. Die Länder bleiben die Paten des Status quo der Krankenhausstruktur. Was sollen Verbandsfunktionäre denn anderes auch erklären, wenn sie die Gunst der Stunde nutzen wollen.

Allerdings blieb der Aufschlag der DKG nicht unwidersprochen. Die KBV konterte: Sechs von sieben Corona-Patienten seien im ambulanten System behandelt worden, Ärzte in Krankenhäusern hätten vor leeren Betten gestanden. Das Zi verweist auf die gestiegene Zahl von Hausbesuchen im März. Der SpiFa schlägt einen Dialog über die Leistungsfähigkeit der ambulanten Versorgung und den Abbau unnötiger Krankenhausstrukturen vor.

 

Leistungen der Niedergelassenen nicht ausreichend kommuniziert

Die besondere Aufmerksamkeit (und die großzügige und Bazooka-artige Unterstützung), die den Krankenhäusern von der Politik zukam, war vor allem durch die Fernseh-Bilder aus Bergamo geprägt. Dabei gab es dort nicht nur einen Hotspot der Infektionen. Der Run auf die Krankenhäuser wurde – selbst in Norditalien –- nicht durch ein ausgebautes und leistungsfähiges ambulantes Versorgungssystem (wie in Deutschland) abgebremst. Die entsprechende Leistung der niedergelassenen Ärzte in unserem System wurde jedoch nicht ausreichend kommuniziert. Die KBV fand relativ spät zu dem „Narrativ“, das Wirken der Vertragsärzte als „Schutzwall“ für die Krankenhäuser zu loben.

Angesichts der gewaltigen Befürchtungen und der kommunizierten Todesraten wollte man sich vor allem auf das Schlimmste gefasst machen: Das erklärt den starren Blick auf die Krankenhäuser; die Wahrnehmung der minderschweren Fälle (und ihrer Bewältigung) ging dabei unter. Das könnte eine Lehre sein, denn nach wie vor gilt für die mediale Vermittlung: „Bad News are good News.“ Trotzdem sollte man wünschen, dass die Politik auf neue Corona-Infektionscluster (und selbst auf eine nicht auszuschließende zweite Welle) künftig mit mehr Augenmaß reagiert.

Die Entwicklungen im Krankenhaus und die Entscheidungen des Managements während der Corona-Krise zeigen sogar, „dass eine Konzentration von Leistungen insbesondere für komplexe oder komplizierte Behandlungen machbar und sinnvoll ist. Damit bestätigt sich auch die Kernthese der in der Corona-Epidemie anfangs stark gescholtenen Bertelsmann-Studie – „Neuordnung der Krankenhauslandschaft“ zur Konzentration von Leistungen.“ (Gruhl)

Das Positionspapier zielt zum Schluss auf „Eckpunkte für eine grundlegende Reform der medizinischen Versorgung“. Dabei ist der DKG zugute zu halten, dass man sich trotz des fulminanten Eigenlobs der folgenden Einsicht nicht verschließt: „Der Abbau von nachweisbar nicht bedarfsnotwendigen Kapazitäten, Standortzusammenführungen und im konkreten Einzelfall auch Standortschließungen sind ebenso Teil dieser Strukturentwicklungen wie der Erhalt, die Stärkung und inhaltliche auch sektorenübergreifende Weiterentwicklung von Standorten in Regionen mit Versorgungsdefiziten zur Sicherung der sozialen Daseinsvorsorge und bundesweit gleichwertiger Lebensverhältnisse.“[7]

 

Frage ist, wer in Netzwerken das Sagen hat

Dann folgt ein Bekenntnis zur „flächendeckenden sektorenübergreifenden Versorgung“, wobei „regionale Versorgungsnetzwerke“ als „zentrales Leitbild“ fungieren. Man stellt sich diese Netzwerke als „krankenhauszentriert“ vor: Es geht um die Erweiterung der „teilstationären Versorgung“ und „ambulanter und stationsäquivalenter Behandlungsmöglichkeiten (einschließlich der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung, Institutsermächtigungen usw.)“. Integriert werden soll auch die ambulante Notfallversorgung. So weit ist das ja durchaus diskussionswürdig. Doch wie stets ist die Frage, wer in diesen Netzwerken am Schluss das Sagen hat. Die Krankenhäuser sehen sich natürlich selbst in dieser Rolle. Ihre Performance in der Corona-Krise liefert dafür allerdings keine besondere bzw. keine zusätzliche Legitimation.

 

[1] https://www.dkgev.de/dkg/presse/details/lehren-aus-der-pandemie-fuer-gute-krankenhauspolitik-1/

[2] „Fazit aus Corona: Erkenntnisse und Konsequenzen für die Krankenhausversorgung“ im Observer Gesundheit.

[3] www.intensivregister.de – Tagesreport

[4] WIdO-Pressemitteilung vom 29. Juni 2020

[5] So Gerald Gaß, Präsident der DKG, bei der Vorstellung des Positionspapiers am 1.7.2020 in Berlin.

[6] Positionspapier Seite 2

[7] Positionspapier Seite 8


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