Digitalisierung ist auch eine Kulturfrage

Prof. Dr. Volker Möws, Geschäftsführer Politik und Kommunikation der Techniker Krankenkasse (TK)

Das neue Buch „Zukunft der Gesundheit – vernetzt, digital, menschlich“ soll als Impulsgeber für Entscheider aus Politik, Gesellschaft und Gesundheitswesen dienen. Mit einem klaren Ziel: Eine Verbesserung der sektorenübergreifenden Versorgung zu erreichen.

Die Strukturen im deutschen Gesundheitswesen werden sich in den nächsten zehn Jahren stärker verändern als in den 100 Jahren zuvor. Wie die Elektrizität zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Leben der Menschen grundlegend verändert hat, wird dies jetzt die Digitalisierung tun. Die 32 Autorinnen und Autoren des Buches, das von TK-Chef Dr. Jens Baas, herausgegeben wurde, leisten dazu einen Beitrag und stellen sich dem Anspruch, den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn formuliert hat: „Die Digitalisierung muss eigentlich bei allen Vorhaben mitgedacht werden.“

In dem Buch geht es um die weitreichendste Umgestaltung unseres Gesundheitssystems seit der Erfindung von Stethoskop oder Röntgentechnik. Diese Instrumente haben die Grundlage für überlegenes Wissen des Arztes gelegt. Jetzt ist es wieder ein technisches Gerät, das das Verhältnis zwischen Arzt und Patient revolutionieren wird: das Smartphone. Es ist ein „game changer“, der das Miteinander von Arzt und Patient verändert und so auch die gesamte Organisation unseres Gesundheitswesens. Das betrifft alle Institutionen, selbstverständlich auch die Krankenkassen.

 

Patient muss der Gewinner der Digitalisierung sein

Herausgeber sowie Autorinnen und Autoren dieses Buches eint die Vorstellung, dass sie diesen Prozess aktiv gestalten wollen: mit klarem Blick für die Risiken, aber mit Fokus auf die Chancen. Gewinner muss der Patient sein, darüber herrscht klarer Konsens. Die Beiträge sind ein Wetterbericht zur Lage unseres Gesundheitswesens am Beginn des digitalen Sturms über Europa. Die Wetterfront, die heraufzieht, wird im ersten Kapitel „Die Digitalisierung als Treiber des Wandels“ beschrieben. Die sieben Beiträge beschäftigen sich mit den Herausforderungen, vor die chinesische und US-amerikanische Konzerne das Gesundheitswesen in Europa stellen. Hier geht es um die Bedeutung von Plattformtechnologien, von Daten für Diagnose und Therapie bis hin zur elektronischen Gesundheitsakte als ersten Schritt zum digitalen Gesundheitswesen. Beiträge zu Mobile Health, zur Robotik im Dienst der Patienten und zu vernetzter Versorgung und Digitalisierung runden das Kapitel ab. Der Leser wird mitgenommen in die Werkstatt von Praktikern, die einen Einblick in den aktuellen Stand der Entwicklung geben. Und diese Einblicke zeigen, dass sich die Autoren klar darüber sind, dass wir erst am Anfang einer langen Entwicklung stehen. Aufschlussreich ist es, wenn die Forscher aus dem Fraunhofer-Institut den Stand der Robotik in der Medizin mit der Fahrt von Berta Benz in der ersten „Motorkutsche“ vergleichen. Dennoch: Eine bessere Vernetzung, die wird die Digitalisierung sicher bringen. Der Leser kann hier aber auch die Botschaft mitnehmen, dass „Patienten-Empowerment“ und die Stärkung der Kommunikation zwischen allen Beteiligten an Bedeutung zunehmen werden. Das sind Felder, auf denen der Mensch gefragt ist, nicht die Technik. Digitalisierung ist eben auch eine Kulturfrage.

 

Aus internationalen Trends und Entwicklungen lernen

Um zu erkennen, welche Chancen wir in Deutschland haben und um zu sehen, wie weit der Rückstand bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu anderen Gesundheitssystemen inzwischen ist, stellen die drei Beiträge im zweiten Kapitel aktuelle Entwicklungen in Estland, Dänemark und Schweden dar. Vorbildlich ist, wie die Esten ihre digitale Infrastruktur vom Menschen herdenken. Sie wollen „die Lebensqualität der Bürger erhöhen“ und die „Zusammenarbeit zwischen Gesundheitswesen und sozialem Bereich verbessern.“ Digitalisierung gibt es nicht zum Nulltarif, das kann man von den Dänen lernen, die derzeit für ihre Krankenhäuser ein enormes Investitionsprogramm fahren. Und was war das Erfolgsrezept bei der Einführung der elektronischen Gesundheitsakte in Schweden? -– Die „menschenzentrierte und wertebasierte Entwicklung von IT-Systemen.“

 

Sektorenübergreifenden Versorgung: Welche Probleme Deutschland angehen muss

Das Buch zeigt, dass es wichtig ist, jetzt die Weichen richtig zu stellen. Ein zentrales Feld, in dem dies aktuell geschieht, ist die sektorenübergreifende Versorgung. Diese bietet große Chancen, ist aber nicht ohne Risiken, wenn wir hierzulande nicht handeln. Unbestreitbar ist, dass wir jetzt die Weichen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung stellen müssen. Das Buch geht deshalb bewusst auf die Themen ein, die in der aktuellen Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur sektorenübergreifenden Versorgung bearbeitet werden und widmet ihnen ein ganzes Kapitel: „Welche Probleme Deutschland angehen muss“. Die sieben Beiträge entsprechen den Schwerpunkten der Arbeitsgruppe, die aus Vertretern der Länder, der Koalitionsfraktionen sowie zahlreicher Bundesministerien besteht:

  • „Ausblick auf eine sektorenübergreifende Bedarfsplanung der ambulanten Versorgung“ von Prof. Dr. Leonie Sundmacher und anderen,
  • „Zulassung von intersektoralen/interdisziplinären Leistungserbringern“ von Prof. Dr. Thomas Schlegel,
  • „Honorierung – Was zeichnet eine moderne Honorarordnung aus?“ vom stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der TK, Thomas Ballast,
  • „Kodierung und Dokumentation in der vertragsärztlichen Versorgung“ von Dr. Dominik von Stillfried,
  • „Kooperation der Gesundheitsberufe“ von Prof. Dr. Stephanie Stock,
  • „Sektorenübergreifende Versorgung durch Versorgungsmanagement“ von Prof. Dr. Jonas Schreyögg sowie
  • „Der Patient im Mittelpunkt – Möglichkeiten und Grenzen der sektorenübergreifenden Qualitätssicherung“ von Dr. Regina Klakow-Franck.

Eines wird in den Beiträgen schnell erkennbar, nämlich dass die Digitalisierung diejenige Kraft sein wird, die bestehende Grenzen einreißt und so den Patienten in den Mittelpunkt stellt:

  • Die Sektorengrenzen werden nach und nach verschwinden.
  • Politische Grenzen verlieren ihre Relevanz bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Mobile Menschen in einem freien Europa erwarten, dass ihre Gesundheitsdaten dort verfügbar sind, wo sie sind. Die technischen Lösungen dafür gibt es schon. Wie können da Planungen entlang von Grenzen von Gebietskörperschaften, Bundesländern oder auch nur beschränkt auf Deutschland Zukunftsfähigkeit beanspruchen?
  • Arbeitsabläufe und Versorgungsketten werden sich verändern. Wir müssen die Versorgungsprozesse an den Bedürfnissen der Patienten ausrichten, nicht an den Organisationsbedürfnissen der Leistungserbringer oder Krankenversicherer.
  • Die tradierten Berufsbilder im Gesundheitswesen werden sich verändern und neue Berufsbilder entstehen bereits.
  • Die Grenzen von medizinischen Fachgesellschaften und -disziplinen verlieren an Bedeutung.
  • Die Entlastung bei Dokumentationspflichten und Mustererkennung wird den unverzichtbaren menschlichen Austausch zwischen den Gesundheitsberufen und den Patienten stärken.
  • Die Heilkunst wird eine Heilkunst bleiben, die aber auf Expertensysteme und Wissensnetze nicht mehr verzichten kann und will. Intuition und Erfahrung des medizinischen Personals werden auch in Zukunft unerlässlich sein.
  • Die Menschen werden älter und vor allem gesünder älter. Prävention und frühzeitiges Erkennen von Krankheiten werden durch Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) besser auf die persönliche Situation abgestimmt und damit auch erfolgreicher sein.

Die Beiträge zeigen auch, dass es bei der digitalen Transformation nicht nur um Technik und Geld geht. Es geht um eine Haltung, wie Volker Amelung und Patricia Ex in ihrem Beitrag „Vernetzte Versorgung zwischen Digitalisierung, Wettbewerb und Kooperation: Das Verwechseln von Zielen und Strategien“ zu Recht feststellen: „Vernetzung ist ein Prozess, der hierarchischem Denken zuwiderläuft. Das Verhältnis zwischen Ärzten und medizinischen Fachangestellten sowie zwischen Ärzten und Patienten ist aber bis heute meist ausgesprochen paternalistisch geprägt. Mit dieser Einstellung werden wir die Vorteile, die die Digitalisierung bietet, niemals voll ausschöpfen können. Noch schlimmer ist aber, dass am Ende nicht nur unsere Infrastruktur veraltet ist, sondern auch unser Verständnis der Arzt-Patienten-Beziehung.“

Dieser Gefahr wollen sich die Autoren in diesem Band entgegenstemmen.

 

Zukunft der Gesundheit – vernetzt, digital, menschlich, Dr. Jens Baas (Hrsg.), Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, ISBN: 978-3-95466-467-2


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