Droht das Aus vor dem Durchstarten?

Über Höchstbeträge für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)

Pia Maier, MBA, Mitglied des Bundesverbandes Internetmedizin

Digitale Gesundheitsanwendungen, also Apps auf Rezept, können seit Oktober verordnet werden. Mit der Einführung der DiGA hat der Gesetzgeber die finanziellen Rahmenbedingungen gleich stark eingeschränkt: Wie bei neuen Arzneimitteln müssen die Hersteller einen Vergütungsbetrag mit den Krankenkassen aushandeln, der ab dem 13. Monat greift. Zusätzlich wurde gleich noch ein weiteres Instrument angeboten: Höchstbeträge für die ersten zwölf Monate. Diese können von den Partnern der Rahmenvereinbarung, also vom GKV-Spitzenverband und den Herstellerverbänden, in eben jener Rahmenvereinbarung geregelt werden. Können. Müssen nicht. Es stellt sich die Frage, ob die Höchstbeträge für die DiGA das Aus bedeuten, bevor sie richtig durchstarten konnten. Vor allem technisch hochentwickelte DiGA, die mehr sind, als die Übersetzung analoger Instrumente in digitale Formen, drohen dabei nicht angemessen finanziert zu werden. Der Beitrag zeigt mögliche Gestaltungen eines Höchstbetragssystems für DiGA auf (siehe auch Observer Gesundheit „Was dürfen DiGA kosten?“).

 

Höchstbeträge – eine Kann-Regelung

Die Konstellation ist dabei recht transparent: Die Krankenkassen möchten keine „zu hohen“ Preise bezahlen, wobei offenbleibt, was „zu hoch“ ist. Die Hersteller, die schon ab dem 13. Monat den verhandelten Vergütungsbetrag akzeptieren müssen, wollen wenigstens im ersten Jahr ihren selbst festgelegten Preis erhalten. Und auf Seiten der Hersteller liegt die Wahrnehmung eines „zu hohen“ Preises sicherlich auf einem anderen Niveau.

Für die Nicht-Einigung hat der Gesetzgeber eine Schiedsstelle installiert, die, gebildet aus den beiden Bänken, im Zweifelsfall entscheidet. Nicht nur bei nicht entschiedenen Preisverhandlungen, sondern auch bei nicht einigungsfähigen Elementen der Rahmenvereinbarung selbst. Es ist hochgradig wahrscheinlich, dass die beiden Bänke in der Verhandlung der Rahmenvereinbarung zum Thema Höchstbeträge keine Einigung erzielen. Jede Seite hätte in ihren eigenen Reihen, in denen das Ergebnis vertreten werden muss, keine Chance, den erzielten Kompromiss zu verkaufen – solange noch kein Korridor für realistische Einigungen gefunden ist. Darin unterscheidet sich diese neu zu verhandelnde Rahmenvereinbarung von Tarifverhandlungen oder ähnlichen schwierigen Konstellationen, es gibt keine Basis für eine Einigung, die beide Seiten als sinnvolle Einigung erklären könnten. Also kommt die Schiedsstelle ins Spiel.

Die agile Gesetzgebung aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat schon vor der finalen Umsetzung des letzten Digitalisierungsgesetzes den nächsten Referentenentwurf auf den Markt gebracht. Im „Digitale Versorgung und Pflege – Modernisierungs-Gesetz (DVPMG)“ werden Details der Gesetzgebung zu den DiGA nachgebessert, darunter auch der Punkt Höchstbeträge. Wer nun eine klare Vorgabe erwartet hat, sieht sich allerdings getäuscht. Es bleibt bei der Kann-Regelung und bei der inhaltlich völlig freien Gestaltung. Es kommt eine Fristsetzungskompetenz des BMG. Bleibt es beim Wortlaut des Referentenentwurfes, hat das BMG künftig das Recht, den Verhandlungspartnern eine Frist zu setzen, bis zu der sie Höchstbeträge festsetzen müssen. Bis dieses Gesetz Rechtskraft erhält, sind die Verhandlungen der Rahmenvereinbarung längst abgeschlossen, und wird die Schiedsstelle die Frage der Höchstbeträge sicherlich entschieden haben. Es bleibt ein weiterer Satz im SGB V, der Kompetenzen im Zweifelsfall im BMG bündelt. Es bleibt die offene Frage, wie denn Höchstbeträge eigentlich ausgestaltet sein könnten.

 

Höchstbeträge – ausgehend von welchem Preis?

Vorweggeschickt sei an dieser Stelle, dass das Instrument der Höchstbeträge insgesamt höchst fragwürdig ist, wenn doch schon Vergütungsbeträge langfristig die Preise regulieren. Es erinnert an das Instrument der Festbeträge bei Arzneimitteln, das allerdings dann greift, wenn mehrere vergleichbare Produkte im Markt sind, wenn generische Alternativen zur Verfügung stehen, die einen Austausch möglich machen. Das ist etwa zehn Jahre nach der Einführung des Wirkstoffes der Fall. Hier wird nun regulierend eingegriffen, bevor sich Preise für DiGA auf dem Markt überhaupt entwickeln konnten. Und bevor es Erfahrungen gibt, wie der Markt sich denn gestaltet, um sinnvolle Gruppen von DiGA zusammen zu fassen.

Höchstbeträge in einem so jungen Markt einzuführen, kann ihm jeden Raum zur Entwicklung nehmen. Vor allem, wenn man sich verschiedene Modelle ansieht, wie Höchstbeträge aussehen könnten. Ein Projekt der Humboldt-Universität[1] hat verschiedene Modelle durchgespielt, die diesen weiteren Überlegungen hauptsächlich zugrunde liegen. Es gibt zwei wesentliche Fragen bei der Bildung von Höchstbeträgen: Auf welcher Grundlage wird ein Betrag bestimmt? Welche Produkte bilden zusammen eine Gruppe, wenn nicht alle den gleichen Betrag bekommen sollen?

Für das Preisniveau könnte man sich am Selbstzahlermarkt orientieren und die dort bezahlten Preise für vergleichbare Produkte zu Grunde legen. Allerdings gleichen die Produkte, die sich an Selbstzahler richten, den DiGA nur bedingt. Die Anforderungen an die DiGA sind höher, vor allem bei vorzulegenden Studien und dem Datenschutz. Auch CE-zertifizierte Medizinprodukte im Selbstzahlermarkt müssen nicht die gleichen Anforderungen an die konkrete Umsetzung des Datenschutzes erfüllen und eben keine Studien zu ihren positiven Versorgungseffekten vorlegen. Wesentlicher aber ist, dass die Geschäftsmodelle nicht vergleichbar sind. DiGA dürfen sich nicht über Werbung, Datenvermarktung oder In-App-Käufe finanzieren, sie stehen als eigenständiges Produkt, das sich aus sich selbst finanzieren muss – und dabei nach den Regeln des GKV-Marktes spielen muss. Genau die Anforderungen, die gestellt werden, um eine Finanzierung aus dem GKV-Topf zu erhalten, treiben eben auch die Kosten in die Höhe.

Das Preisniveau könnte auch versuchen, die Entwicklungskosten zugrunde zu legen – allerdings ist die Vielfalt der DiGA so groß und notwendig verschieden, dass das kaum realistisch ist. Zudem würde auf diesem Weg die Schmalspur-Entwicklung belohnt, die auf Qualitätssicherungsmaßnahmen verzichtet.

Im Bereich der Festbeträge entstehen die Beträge rechnerisch aus dem Markt – vereinfacht gesagt: Die Formel bildet ab, dass die Anbieter unterhalb der Preisgrenze noch in der Lage sind, den Markt abzudecken. Der Mechanismus ist geübt; allerdings in einem ganz anderen Setting. Der DiGA-Markt müsste sich erst entwickeln dürfen, um zu solchen rechnerischen Preisbildungen kommen zu können. Und auch dann stellt sich noch die Frage: Welche Produkte gehören zusammen in eine Gruppe?

 

Höchstbetragsgruppen – wie bilden?

Die Definition der DiGA bietet einige Gruppencharakteristika an, die einzeln oder in Kombination Gruppenbildungen rechtfertigen können: Die beiden Risikoklassen der EU-Verordnung für Medizinprodukte (MDR) bilden schon mal zwei unterschiedliche Produktklassen ab. Es können die positiven Versorgungseffekte, von denen es verschiedene gibt, herangezogen werden, hier könnte noch das jeweilige Ausmaß in Betracht genommen werden.

Es können Indikationen zusammengefasst werden, wobei sich die Frage nach dem Detailgrad des ICD-10-Codes, der dann zu Grunde gelegt wird, stellt. Seit Mitte Dezember bietet auch das BfArM-Verzeichnis eine Einteilung in Kategorien[2]. Mit der Aufnahme der sechsten App wurde diese Änderung wohl vollzogen. Derzeit werden hier – gemäß den angebotenen DiGA folgende Kategorien angeboten:

  • Hormone und Stoffwechsel
  • Muskeln, Knochen und Gelenke
  • Ohren
  • Psyche.

Die gewählte Einteilung deutet darauf hin, dass die Kapitelüberschriften des ICD-10 Pate standen und etwas allgemeinverständlicher formuliert wurden[3]:

  • Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (Kapitel E)
  • Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (Kapitel M)
  • Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes (Kapitel H)
  • Psychische und Verhaltensstörungen (Kapitel F).

Die Übernahme dieser bestehenden und geübten Ordnung ist als Struktur für die Kategorisierung der Apps sehr nachvollziehbar. Als Basis für die Bildung von Höchstbeträgen allein jedoch kaum geeignet, denn völlig verschiedene komplexe Angebote können sich unter diesen Überschriften befinden.

Denkbar wäre auch eine Einteilung nach der wesentlichen Funktionsweise der App im Sinne von Diagnostik, Monitoring, indirekte und direkte Prävention. Eine Idee, die aus dem NHS-System der Bewertung von digitalen Produkten kommt.[4] Allerdings sind die Anforderungen, die sich an die jeweilige Funktionalität knüpft, je nach Indikation völlig unterschiedlich. Entsprechend verschieden ist auch der Aufwand, der hinter einer DiGA steckt. Diagnosezwecke können sowohl digitalisierte analoge Papiertests sein oder patentierte neue Methoden digitaler Medizin. Ebenso verschieden ist der medizinische Nutzen solcher Anwendungen – vom reinen Erkennen ohne Behandlungsmöglichkeiten, über Vermeidung der Eskalation depressiver Störungen bis hin zur frühzeitigen Erkennung von Herzrhythmusstörungen zur Vermeidung von Herzinfarkten. Dieser unterschiedliche Entwicklungsaufwand muss sich auch im Preis abbilden könnten. Würden alle Diagnostik-Apps in eine Preiskategorie fallen, würde das vor allem hochentwickelten Apps schaden, da sie durch die Preise der „einfachen“ Apps „nach unten gezogen“ werden. In der Folge würde gerade die hochentwickelte Medizin nicht angemessen vergütet, einfache digitale Übersetzungen von analogen Fragebögen aber bevorteilt. Gruppenbildungen im Bereich der Arzneimittel sind nicht umsonst langwierige Verfahren, die Stellungnahmen der Hersteller auch miteinschließen.

Ein automatisiertes Verfahren, das nur aus groben Beschreibungen und Angaben der Indikation eine Gruppenzuteilung macht, ist extrem fehleranfällig. Das mag die Behandlung von Tinnitus via App kurz illustrieren. Die bereits zugelassene App Kalmeda behandelt Tinnitus als psychisches Problem, dem mit Selbstmanagement-Tools begegnet wird – eine App zur Behandlung der Ohren laut DiGA-Verzeichnis, im Bereich der indirekten Intervention. Die App Tinnitracks widmet sich Tinnitus dagegen als Hörproblem, das mittels manipulierter Musikdateien therapiert wird – also ebenfalls Bereich Ohren, vermutlich auch einzuteilen in die indirekte Intervention, da die Beschallung des Tinnitus ja keine unmittelbare Wirkung hat, sondern erst über längere Zeit einen Heilungsprozess auslöst. Beide Apps sind im Entwicklungsaufwand gänzlich unterschiedlich: Tinnitracks beinhaltet patentierte Technik, die bei der Einteilung in eine Gruppe preislich wohl nicht angemessen erstattet würde.

 

Höchstbeträge – zwischen Raubrittertum und Austrocknen

Die Preise der ersten DiGA im Markt, zwischen 120 und 500 Euro im Quartal, haben viele erschreckt – zu Unrecht. Denn es handelt sich um echte Behandlungsalternativen, nicht um digitale Gadgets, die wie analoge Blutzuckertagesbücher quasi umsonst abgegeben werden. Die Preise stellen kein Raubrittertum dar, sondern sind – soweit man das in allgemeiner Kenntnis von Entwicklungs-, Studien- und kontinuierlichen Kosten zum Beispiel für die Datensicherheit beurteilen kann – einfach realistisch aufgrund der Anforderungen. Auch die Skalierbarkeit von digitalen Produkten rechtfertigt keine Dumping-Preise, denn sie müssen sich – genau wie andere Medizinprodukte auch – am Markt erst durchsetzen, bevor Skaleneffekte wirklich greifen.

So nachvollziehbar der Wunsch nach Sicherheit vor Überforderung ist, so unrealistisch ist doch ein faires System, solange noch so offen ist, welche Produkte / Preise in den Markt kommen und wie häufig verordnet werden. Hochrechnungen der Kassen, die den Anwendungsbereich einer App mit der Zahl der mit der Indikation erfassten Patienten multiplizieren, ergeben keine realistische Zahl. DiGA sind keine Anwendung, die alle Betroffenen erhalten werden, denn sie setzen technische Ausstattung und eine gewisse Bereitschaft zum Einsatz voraus. Sie werden auch nicht alle als Add-On zur bestehenden Therapie verordnet werden, sondern sie werden sich ihren Platz in der Eskalation von Therapieoptionen nach und nach erarbeiten. Diesen Raum sollten die DiGA zunächst auch mit fairen Preisen bekommen.

 

[1] https://www.mig.tu-berlin.de/fileadmin/a38331600/I.DiGA_Ergebnispapier_5.pdf

[2] https://diga.bfarm.de/de/verzeichnis, zuletzt eingesehen am 14.12.2020

[3] https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2020/ zuletzt eingesehen am 14.12.2020

[4] https://www.nice.org.uk/Media/Default/About/what-we-do/our-programmes/evidence-standards-framework/digital-evidence-standards-framework.pdf zuletzt eingesehen am 14.12.2020


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