Die „Jamaika“-Sondierungen 2017: Prozesse, Akteure und eine gesundheitspolitische Analyse

Prof. Dr. Nils C. Bandelow, Dr. Florian Eckert, Robin Rüsenberg

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Wie erklärt die Politikwissenschaft das Scheitern von „Jamaika“?
  3. Wie verliefen die „Jamaika“-Sondierungen?
  4. Wo lagen die gesundheitspolitischen Konfliktlinien bei „Jamaika“?
  5. Worauf liefen die „Jamaika“- Sondierungen im Politikfeld Gesundheit hinaus?
  6. Was war gesundheitspolitisch noch strittig?
  7. Was bleibt gesundheitspolitisch von „Jamaika“?
  8. Fazit

Literaturverzeichnis

Autoren

1.    Einleitung

Am Ende stand der „Fluch der Karibik“, das Scheitern. Vorangegangen waren intensive vier Wochen des Verhandelns, der medialen Kommunikation, innerparteilicher Debatten und wachsenden öffentlichen Drucks, bevor FDP-Parteichef Christian Lindner in der Nacht vom 19. auf dem 20. November 2017 die Reißleine zog: Die anvisierte sog. „Jamaika“-Koalition zwischen CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen scheiterte noch vor der Einleitung von förmlichen Koalitionsverhandlungen.

Bei Sondierungsgesprächen zwischen Parteien steht üblicherweise das „Ob“ einer Koalitionsbildung im Mittelpunkt, nicht das „Wie“ wie bei den nachgeschalteten Koalitionsverhandlungen (Bandelow et al. 2017). Schon früh zeigte sich, dass die Sondierungen 2017 von besonderer Qualität sein würden. Und rasch wurde klar, dass die parteipolitischen Konfliktlinien sich in der Öffentlichkeit auf wenige Politikfelder zuspitzen, insbesondere Energie, Migration, Europa, Finanzen. Das Politikfeld Gesundheit stand nicht im Mittelpunkt, lediglich die Grünen hatten die Bürgerversicherung in ihren „Zehn-Punkte-Plan für grünes Regieren“ aufgenommen (Bündnis 90/Die Grünen 2017). Es gab zwar gesundheitspolitische Vorerfahrungen mit „Jamaika“ in den Bundesländern (Saarland 2009-2012, Schleswig-Holstein seit 2017). Aber diese waren nicht sonderlich prägnant oder sind bisher zu frisch. Insgesamt könnten die regional vereinbarten Maßnahmen (vgl. CDU/FDP/Bündnis 90/Die Grünen 2009, 2017), cum grano salis, auch von Landesregierungen anderer parteipolitischer Couleur relativ problemlos vertreten werden.

Unmittelbar nach dem Abbruch der Sondierungen begannen noch in der Nacht zum 20. November 2017 sowohl die Beteiligten ihre Sichtweise der Hintergründe des Scheiterns zu kommunizieren (z. B. Kubicki 2017, Roth 2017) wie auch Journalisten versuchten, die Hintergründe auszuleuchten (z. B. von Bullion et al. 2017, Carstens et al. 2017). Mitunter wurde dabei der FDP vorgeworfen, die Sondierungen nur „simuliert“ zu haben (Zastrow 2018). Dieses Papier wählt einen anderen Weg und betrachtet die „Jamaika“-Sondierungen 2017 aus der Perspektive der Politikwissenschaft:[1] Wie kann das Scheitern erklärt werden? Wie verliefen die Gespräche? Darüber hinaus wird ein detaillierter Blick auf die Gesundheitspolitik geworden: Welche Themen und Konflikte gab es? Wie hätte „Jamaika“ in der Gesundheitspolitik ausgesehen – und welche längerfristigen Lehren und Tendenzen gibt es?

2.    Wie erklärt die Politikwissenschaft das Scheitern von „Jamaika“?

Die Politikwissenschaft unterscheidet drei idealtypischen Strategien bei Koalitionsbildungsprozessen (Strom 1990). Potentielle Koalitionäre können danach streben, ihre Inhalte durchzusetzen (Policy Seeking), sie können sich an einer möglichst vielversprechenden Ausgangsposition für zukünftige Wahlen orientieren (Vote Seeking) oder die Besetzung von Ämtern priorisieren (Office Seeking).

Aus der inhaltlichen Perspektive (Policy Seeking) ließ die Ausgangslage der „Jamaika“-Sondierungen 2017 beides zu: Scheitern wie auch die Einleitung von förmlichen Koalitionsverhandlungen. Policy-bezogene Verhandlungen können einem reinen Tauschprozess (Bargaining) entsprechen, wenn die Verhandlungspartner den Gegenstand als Nullsummenspiel betrachten. In solchen Fällen sind die Gewinne einer Partei als Verluste der anderen Seite zu interpretieren. Da dies bei den beteiligten Partnern zu einem sicheren Scheitern hätte führen müssen, bestand die einzige Option in der Suche nach den (wenigen) Übereinstimmungen und nach Lösungen mit einem Gemeinschaftsgewinn für alle beteiligten Parteien. Offenbar war es nicht möglich, einen solchen Gemeinschaftsgewinn – symbolisiert durch ein verbindendes „Jamaika“-Narrativ, eine gemeinsame Koalitionsidee – zu organisieren.

Erschwerend kam hinzu: Die für die Parteibasis als notwendig erachtete Transparenz über die Verhandlungen wie auch die mediale Kommunikation gab den Massenmedien eine zentrale Rolle bei den Verhandlungen. Allerdings konzentrierten sich die Medienberichte auf wenige inhaltliche Themen (Migration, Klima, Finanzen), die – medial verstärkt – direkt den Parteienwettbewerb berührten. Dadurch wurden gesichtswahrende Kompromisse schwieriger. Denn: Anders als in präsidentiellen Systemen, in denen politische Parteien als Akteure in Wahlkämpfen keine institutionalisierte Rolle spielen müssen, spielt in Deutschland der Parteienwettbewerb eine deutlich dominantere Rolle (Switek 2013). Die Verhandlungspartner streben also einerseits nach Konsens, müssen aber gleichzeitig die Parteienkonkurrenz im Hinblick auf die nächsten Wahlen berücksichtigen. Dies gibt der Strategie des Vote Seeking eine zentrale Bedeutung für die Bildung von Koalitionen. Anders als aus der Perspektive des Policy Seeking kann das Ziel der Stimmenmaximierung bei zukünftigen Wahlen vor allem Bündnisse zwischen Parteien mit ähnlichen inhaltlichen Profilen erschweren. Inhaltliche Nähe setzt den Parteienwettbewerb nicht außer Kraft.

Deutlich optimistischer scheint die Prognose des Ausgangs von Koalitionsbildungsprozessen zu sein, wenn man die Strategie des Office Seeking annimmt: Parteien können nur durch den erfolgreichen Abschluss des Bündnisses Ämter erreichen. Eine aktuelle Herausforderung für die Nutzung von Ämtervergaben zur Überwindung inhaltlicher Gräben liegt jedoch in den veränderten Mehrheitsverhältnissen. Die Stärkung „populistischer“ Parteien mit überwiegender und expliziter Policy-Orientierung bringt auch die etablierten Parteien unter Druck, möglichst klar identifizierbare Inhalte anzugeben und diese möglichst kompromisslos zu verteidigen, da sie sonst unter Druck der radikaleren Konkurrenz im Parteiensystem geraten.

Alle genannten Perspektiven können zur Erklärung des Scheiterns der Sondierungsverhandlungen von CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen beitragen. Nicht zu unterschätzen sind zudem allgemeine und prozessuale Einflüsse auf Verhandlungen, die in Form der Personalisierung zu einem besonderen Problem werden können. Verhandlungsdelegationen vergewissern sich durch interne Kommunikation ihrer eigenen, subjektiven Perspektiven. Bei Konflikten führt dies immer (!) dazu, dass die Motive der eigenen Seite idealisiert und die der Gegenseite verteufelt werden. Gleichzeitig überschätzen verhandelnde Gruppen den Einfluss der Gegenseite auf Prozesse – etwa im Hinblick auf Medienberichterstattungen (Vogeler und Bandelow 2016).

Um in dieser besonders schwierigen Konstellation erfolgreich zu verhandeln, sind mindestens zwei Voraussetzungen erforderlich: Erstens müssen Koalitionsbildungsprozesse so organisiert werden, dass Teufelskreise der Benennung von Konflikten, der Stärkung von Gruppengegensätzen und der Neudefinition von Konflikten vermieden werden. Die sehr langen Sondierungsgespräche 2017 waren so gesehen zwar inhaltlich nachvollziehbar, prozessual aber besonders risikoreich. Um eine „Jamaika“-Koalition funktionsfähig zu halten, sollte, so Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther, nicht nur der kleinste gemeinsame Nenner gefunden werden, sondern alle Partner sollten eigene Vorstellungen einbringen. In Schleswig-Holstein habe man darauf geachtet, dass jede Partei sich in bestimmten Themenbereichen „richtig durchsetzen“ könne (Günther 2017). Die für eine solche Strategie notwendige Ressource Vertrauen konnte offenbar aber nicht in ausreichendem Maßen auf allen Seiten aufgebaut werden. Denn: Zweitens, und das wurde auch öffentlich immer wieder betont, benötigen erfolgreiche Verhandlungen Vertrauen. Die US-amerikanische Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat herausgearbeitet, welche Faktoren vertrauensvolle Kooperation ermöglichen: Wesentlich sind unter anderem eine institutionalisierte, langfristige Kommunikation (erschwert bei Parteien, die phasenweise nicht im Bundestag vertreten sind), hohe Reputation der Verhandelnden (dies war angesichts der internen Machtkämpfe der beteiligten Parteien und der vorhergegangenen Stimmenverluste nicht bei allen gegeben), klare Regelungen für Eintritts- und Austrittsmöglichkeiten, langfristige Perspektiven und von allen akzeptierte Sanktionen. Zudem gilt: Kleine (Verhandlungs-) Einheiten haben deutlich bessere Chancen zum Vertrauensaufbau als große Einheiten (Ostrom 1990).

Folgt man diesen Erkenntnissen der Politikwissenschaft, wird das Ergebnis der „Jamaika“-Sondierungen besser verständlich, auch der monierte Mangel an Vertrauen wird von einem beklagenswerten Problem zu einem berechenbaren Faktor. Die Sondierungsverhandlungen 2017 sind somit sowohl an der schwierigen Ausgangslage wie auch am unzureichend strategisch durchdachten Design des Verhandlungssettings gescheitert. Dies räumten auch Beteiligte im Nachgang ein, vor allem mediale Durchstechereien, der schiere Umfang des Prozesses und fehlende Moderation, ebenso ein Mangel an Entschlusskraft wurden moniert (Habeck 2018, Lindner 2018).

3.    Wie verliefen die „Jamaika“-Sondierungen?

In der deutschen Koalitionsdemokratie sind ausführliche Sondierungsgespräche nach Bundestagswahlen ein noch vergleichsweise neues Phänomen. Die Sondierungen 2017 zwischen CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zeichneten sich dabei durch Dauer, Stress, Intensität, öffentlichen Druck und Kommentierung sowie Mehrdimensionalität aus.

Das Wort Sondierung leitet sich vom französischen „sonder“ ab und hat mit Vorsicht zu tun. Mittels einer Sonde testet man den Untergrund auf Lawinengefahr ab oder untersucht Organe, etwa den Magen. Etymologisch gingen also auch die Parteirepräsentanten vor, als sie sich über Wochen programmatisch abtasteten. Im Prozess solcher Verhandlungen sollen schließlich mögliche Problemstellen und bestehender Dissens frühzeitig herausgearbeitet werden, bevor es zu unüberbrückbaren Differenzen in den darauffolgenden Koalitionsverhandlungen kommt – oder noch schlimmer: Wenn es in der Praxis des Regierungshandelns am gegenseitigen Streit hakt und es vielleicht dann zu einem Scheitern der Regierung kommt. Wichtig auch: Neben den rein inhaltlichen Fragen spielen Persönlichkeiten eine Rolle: „Wollen“ und „können“ die einen vertrauensvoll mit den anderen? Es gelang schlussendlich nicht, so Beteiligte in der Rückschau (z. B. Kubicki 2017, vgl. Reimann 2017), ausreichend Vertrauen als den notwendigen Schmierstoff einer bisher bundespolitisch unerprobten Koalition aufzubauen. Als besonders problematisch erwies sich die öffentliche Kommentierung durch Verhandlungsteilnehmer selbst, die mitunter an eine Fortsetzung des Wahlkampfes erinnerte.

Doch waren diese über vier Wochen andauernden Gespräche nicht viel mehr als ein Kennenlernen und vorsichtiges Testen der unterschiedlichen Positionen? Im Ergebnis muss man konstatieren, dass der Sondierungsprozess in Umfang, Detailtiefe und Ablauf eher Koalitionsverhandlungen ähnelte (vgl. Bandelow et al. 2017). Die Struktur der Gespräche verdeutlicht dies: Der Aufbau glich einer Pyramide und hatte vier wesentliche Ebenen: Basis der Sondierungsgespräche waren die Fachgruppen, die in zwölf Themenblöcken ausloteten, wo Gemeinsamkeiten erkennbar waren und Dissens bestand. Einzelne Politikfelder wurden dabei zu Themenblöcken zusammengefasst – die „Berichterstatter-Gruppen“. Gesundheit wurde mit Arbeit, Rente, Pflege und Soziales gemeinsam verhandelt. Teilnehmer berichten, dass die vier Parteien in diesem Politikfeld, insbesondere beim Thema Pflege, „sehr eng, entspannt und vertrauensvoll zusammengearbeitet“ hätten und die „Atmosphäre nicht schlecht gewesen“ sei. Vor allem von Unionsseite der Gesundheitspolitiker sei man daher vom Abbruch der Gespräche „schon überrascht“ gewesen. FDP-seitig wurden die Krankenversicherungsthemen als konfliktbehaftet wahrgenommen (Aschenberg-Dugnus 2017). Auch für die grüne Verhandlungsdelegation gab es an dieser Stelle einige Fragezeichen über die Ernsthaftigkeit der Verhandlungspartner.

Die Verhandlungsdelegationen zogen hier bereits Fachpolitiker als Berichterstatter hinzu, zuvorderst Herrmann Gröhe (CDU), Barbara Stamm (CSU), Marie-Agnes Strack-Zimmermann, später Christine Aschenberg-Dugnus und Heiner Garg (FDP) sowie Markus Kurth, später ebenfalls Maria Klein-Schmeink (Grüne). Neben jenen parteipolitischen Fachpolitikern nahmen ebenfalls externe Fachexperten an den Gesprächen teil. Bundesgesundheitsminister Gröhe band beispielsweise den Leiter der Abteilung Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik und Telematik im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in die Verhandlungen ein. Ein solches Vorgehen ist in Koalitionsverhandlungen normal, wenn es um die konkrete Ausgestaltung der Ziele für die nächsten vier Jahre geht und Ministerial-Expertise genutzt werden soll. Dass so parteipolitische Akteure zugunsten der Fachbürokratie bereits in den Sondierungen weniger relevant waren, ist indes bislang eher unüblich gewesen. Allerdings gab es das Angebot an alle Verhandlungsdelegationen, sich mit fachlichen Fragen an das BMG zu wenden, wobei die Ergebnisse im Anschluss allen Seiten zur Verfügung gestellt werden sollten. Peter Altmaier, Kanzleramtsminister und kommissarischer Finanzminister, bot der FDP offenbar außerdem an, auf das Bundesfinanzministerium zuzugreifen (Carstens et al. 2017).

Koalitionsverhandlungen ähnlich war im Verlauf der „Jamaika“-Sondierungen auch die nächsthöhere Ebene – die „große Runde“. Hier wurden u. a. die Ergebnisse der Berichterstatter-Gruppen zusammengetragen und im Plenum von über 50 Verhandlungsteilnehmern weiter besprochen. Wurde Dissens festgestellt, was häufig der Fall war, ging es mit den Streitthemen schließlich weiter in die nächsthöhere Ebene, die „kleine Runde“, mit über 20 Teilnehmern immer noch halb so groß wie die eigentlich große Runde. Mitglieder dieser Ebene waren die Parteivorsitzenden, die Generalsekretäre, Spitzenkandidaten, Fraktionsvorsitzenden oder der enge Parteivorstand. Im Falle der Union war zudem stets Peter Altmaier anwesend. Die Spitze der Pyramide bildete das „Gespräch der Verhandlungsführer“, der jeweils engste Parteizirkel („Jamaika-Achter“): Angela Merkel, Volker Kauder (CDU), Horst Seehofer, Alexander Dobrindt (CSU), Christian Lindner, Wolfgang Kubicki (FDP), Katrin Göring-Eckardt, Cem Özdemir (Grüne). Auch Vier-Augen-Gespräche und das „Beichtstuhlverfahren“ wurden durchgeführt.

Ein solches Verfahren der Verhandlungen war aus Perspektive der Parteiendemokratie nachvollziehbar, mit Blick den unverzichtbaren Aufbau von Vertrauen bei gleichzeitigem Erarbeiten von notwendigen Kompromissen vor dem Hintergrund divergierender parteipolitischer Verortungen und hohem Zeitdruck jedoch zumindest problematisch. Zielführender wäre es sicherlich gewesen, hätten sich die Parteispitzen zunächst auf die groben Linien eines Bündnisses, ein „Jamaika“-Narrativ, mit der Nennung zentraler Projekte verständigt – denn schließlich hätten die zur Detailierung entscheidenden Koalitionsverhandlungen noch bevorgestanden. Mit Blick auf die Dauer und die Detailtiefe der Sondierungsgespräche erlebte die Bundesrepublik aber vielleicht in den Wochen nach der Bundestagswahl eine Umkehr der Verhandlungsrelevanz – schließlich waren die Gespräche zwischen den vier Parteien weit mehr als ein bloßes erstes Testen der Durchsetzungsfähigkeit eigener Positionen und ein Prüfen des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses. Das hohe Ausmaß der Detaillierungen überraschte selbst die Sondierungsteilnehmer.

Insgesamt gab es drei inhaltliche Sondierungswellen, die in der Gesundheitspolitik zwei AG-Sitzungen von nur wenigen Stunden Dauer und insgesamt drei Ergebnispapiere (30. Oktober 2017, 9. November 2017 samt Anlage „Finanztableau“, 15. November 2017) mit sich brachten. Durch die Bündelung verschiedener Politikfelder in der Arbeitsgruppe und der Federführung von Rentenpolitikern kam die Gesundheitspolitik zunächst zu kurz. Beim Folgetreffen musste entsprechend nachgearbeitet werden (Die Treffen fanden in der Parlamentarischen Gesellschaft statt.). Das letzte umfassende Papier der beteiligten Parteien, der Sondierungsgesamtstand vom 15. November 2017, was bereits im Titel einen unscharfen Eindruck hinterlässt („Ergebnis der Sondierungsgespräche“), war 61 Seiten lang und umfasste 2.174 Zeilen. 237 Punkte waren in eckigen Klammern, hätten also noch der Klärung bedurft, einiges war hier jedoch mehr in Richtung der eigenen Parteien formuliert, um sich den Rückhalt der Basis zu sichern. Nicht alle offenen Punkte in den eckigen Klammern hätten hier aufgeführt werden müssen, da eine Einigung bereits informell vereinbart war, etwa im Falle der in Deutschland lagernden US-amerikanischen Nuklearwaffen (Carstens et al. 2017).

Zumindest in Umfang und Detailtiefe hätte nicht viel zu einem (rudimentären) Koalitionsvertrag gefehlt – ohne formelle Koalitionsverhandlungen. Gerade vor diesem Hintergrund wären (grobe) Leitplanken der Parteiführungen vorab hilfreich gewesen. So wurde jedoch direkt mit Details begonnen, welche weder das Verhältnis der unterschiedlichen Parteien befrieden konnte, noch dem Vorankommen der voran gestellten Gespräche dienlich war.

So ungleich die programmatische Ausrichtung der „Jamaika“-Parteien, so unterschiedlich war auch die Prokura der einzelnen Verhandlungsebenen: Bei Union und FDP lag das Entscheidungsmoment in Händen weniger. Für die CDU waren die Parteivorsitzende, der Vorsitzende der Bundestagsfraktion und der Merkel-Vertraute Peter Altmaier entscheidend. Die CSU trat ähnlich auf, allerdings kam neben Seehofer und dem Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, noch Generalsekretär Andreas Scheuer eine Schlüsselrolle zu. Der parteiinterne Führungsstreit schränkte dabei die Handlungsspielräume ein. Bei den Liberalen verkörperte Lindner bereits Partei- und Fraktionsführung, weshalb neben der Generalsekretärin Nicola Beer noch Partei-Vize Kubicki dem engsten Kern angehörte. Parteichef Lindner korrigierte in der Europapolitik teilweise Positionen der eigenen Fachpolitiker. Bei den Grünen war das Machtzentrum hingegen nicht so klar umrissen – alleine aufgrund der jeweiligen Doppelspitzen in Partei und Fraktion waren mehrere Personen von Einfluss, hinzu kam Jürgen Trittin als erfahrener Verhandler. Doch bei den Grünen war das gesamte erweiterte 14-köpfige Sondierungsteam bedeutsam, hier wurden alle Parteiströmungen und die unterschiedlichen Regionen der Parteien aufgegriffen, weshalb den Grünen von Beginn an eine breite Verhandlungsbasis wichtig war – was die rasche und verbindliche Einigungsfähigkeit im kleinen Kreis der Parteichefs erschwerte.

Für Verhandlungen entscheidend sind zunächst ein vertrauensvoller Umgang, aber auch strategische „Ruheräume“, die notwendig sind, um politische Kompromisse vorzubereiten und auszuhandeln. Verhandlungsexperten empfehlen zusätzlich eine strikte Nachrichtensperre (Schranner 2017). Umso überraschender war deshalb, dass von Beginn an ein hohes Maß an Transparenz gepflegt wurde, gewollt oder ungewollt: Mit relativ hoher Geschwindigkeit wurden Texte und Verhandlungszwischenschritte an die Öffentlichkeit „durchgestochen“. Schließlich wurde auch mit Absenderklarheit kommuniziert, indem beispielsweise Mitglieder der Verhandlungsdelegationen Papiere abfotografierten und selbst über ihre Twitter-Kanäle publik machten oder Dokumente auf den Internetauftritten von CDU und Grünen zugänglich gemacht wurden. Dies betraf allerdings nicht die Sondierungspapiere der letzten Verhandlungswellen. Nicht neu, aber in ihrem Ausmaß doch bemerkenswert war die Kommunikation über die Massenmedien, was nicht selten (negative) Rückwirkungen auf die Atmosphäre der Sondierungsgespräche hatte (z. B. von Bullion et al. 2017).

4.    Wo lagen die gesundheitspolitischen Konfliktlinien bei „Jamaika“?

Die Gesundheitspolitik wurde – anders als die „Megathemen“ wie Migration, Klima, Europa, Finanzen – in der öffentlichen Kommunikation der Verhandlungsdelegationen wenig bis gar nicht während der Sonderungsgespräche 2017 problematisiert. Im Gegenteil, auf der fachlichen Ebene bestand viel Konsens. Dies bedeutet freilich nicht, dass zwischen CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gesundheitspolitisch völlige Einigkeit besteht.

Dies gilt vor allem für das identitätsstiftende Unterscheidungsmerkmal des gesundheitspolitischen Parteienwettbewerbs – die Finanzierung: Die Grünen stehen hier auf einen der einen Seite des Lagergrabens, indem sie ein Bürgerversicherungsmodell vertreten, das vor allem auf eine Verbreitung des Versichertenkreises und der Beitragsbasis setzt. Ebenso soll die paritätische Finanzierung von Arbeitgebern und Mitgliedern in der GKV wiederhergestellt werden. Diese Sichtweise wird jedoch auf der anderen Seite des Lagergrabens nicht geteilt: Union und FDP definierten sich in ihren Wahlprogrammen über die strikte Ablehnung einer „sogenannten Bürgerversicherung“ was ebenso für die Parität gilt. Die FDP sprach sich vielmehr für die freie Wahl von GKV oder PKV aus, was auf eine Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze hinausläuft.

Die in den Medien als „Geheimpapier“ gehandelte Übersicht vom 7. November 2017 über die „Jamaika“-Dissenspunkte nach der ersten Sondierungsrunde, aber auch das letzte Sondierungspapier vom 15. November 2017 zeigen dann, wenig überraschend, Streitpunkte bei im weitesten Sinne zur Finanzierung gehörenden Fragen (Bürgerversicherung, Parität, Deckelung Zusatzbeiträge, Beamtenwahlfreiheit). Auch der Fokus auf die 40%-Marke bei der Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge gehört in diesen Kontext. Die sonstigen Streitthemen betrafen schließlich deutlich weniger gesundheitspolitische Grundsatzfragen, sondern umfassten eher Prestigeprojekte wie die Cannabis-Versorgung (FDP, Grüne) oder die Einschränkung bei privaten Pflegekosten auf ein Einkommen ab 100.000 Euro (CSU). Über ihre Versorgungsrelevanz hinaus hat sich jüngst die Frage des Versandhandels von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (Pro: Grüne, FDP, Contra: CDU/CSU) zu einem besonderen parteipolitischen Zankapfel aufgeladen.

Die Gesundheitspolitik war aber nicht das entscheidende „Jamaika“-Schlachtfeld. Diese Erkenntnis bestätigt frühere Befunde (Bandelow et al. 2017): Die gesundheitspolitischen Konfliktlinien haben sich auch zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen in den letzten Jahren deutlich entschärft, es gibt durchaus tragfähige Übereinstimmungen bei Problembewusstsein und Lösungsoptionen – wenn bei diesen selbstverständlich noch der Teufel im Detail stecken kann. Auch Hermann Gröhe zeigte sich – freilich vor Beginn der Sondierungen – überzeugt: „Unüberwindliche Gräben sehe ich nicht“ (Gröhe 2017).

5.    Worauf liefen die „Jamaika“- Sondierungen im Politikfeld Gesundheit hinaus?

Alle Verhandlungsdelegationen benannten Themen für die Verhandlungsagenda, etwa den Morbi-RSA (CSU) oder Entbudgetierung (FDP), die allerdings teilweise für mögliche Koalitionsverhandlungen auf Wiedervorlage gelegt wurden. In den Sondierungsrunden zeigten sich dann schnell erste gesundheitspolitische „Jamaika“-Themen und -Tendenzen. Bereits das erste Sondierungspapier vom 30. Oktober 2017 offenbarte die inhaltlichen Schwerpunkte, die sich Union, FDP und Bündnis 90/Die Grünen vornehmen wollten: „Jamaika“-Ziel war, eine gute Versorgung, unabhängig von Wohnort und Einkommen, auch künftig sicherzustellen. Hierfür bestand Einigkeit, die sektorübergreifende Versorgung wie auch die Notfallversorgung anzugehen. Handlungsbedarf wurde auch in Sachen Digitalisierung sowie Hebammenversorgung gesehen.

Allerdings: Weder das Ziel noch die Themensetzung wären ein Alleinstellungsmerkmal einer „Jamaika“-Koalition gewesen. Letztlich gilt dies auch für die prominente Nennung der Geburtshilfe, die aber auf einem Allparteienkonsens beruht. Die gesundheitspolitische Präambel von „Jamaika“ beruhte nicht zuletzt auf dem Willen, den strittigen Punkten bereits konsentierte Aspekte voranzustellen. Sehr viel konkreter wurden anschließend auch die Folgepapiere vom 9. November 2017 und 15. November 2017 nicht: Kooperation und Vernetzung sollten verbessert, Hürden für eine vernetzte regionale Versorgung abgebaut, Schritte zu einer sektorübergreifenden Versorgung eingeleitet, die Notfallversorgung weiterentwickelt und die digitale Vernetzung, vor allem durch Investitionen im Krankenhausbereich, vorangetrieben werden.

Offen blieb, wie die entscheidenden Parameter – Planung und Finanzierung – für einen die Versorgungssektoren übergreifenden „Jamaika“-Ansatz ausgesehen hätten: Vor allem seitens der Grünen gibt es Sympathien für eine deutlich stärkere Steuerung der ambulanten Kapazitäten auf regionaler Ebene, etwa durch das Gemeinsamen Landesgremium nach § 90a SGB V, und vor allem kommunaler Ebene – was mit entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen einhergehen müsste (Greß/Stegmüller 2017). Um Kompetenz- und Finanzierungsfragen, nicht zuletzt die Rolle der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), hätte sich absehbar auch die Debatte um die zukünftige Ausgestaltung der ambulanten Notfallversorgung gedreht. Zwar sollen die KVen laut Krankenhausstrukturgesetz (2016) entweder sog. Portalpraxen an Krankenhäusern als erste Anlaufstelle einrichten oder aber die Notfallambulanzen der Krankenhäuser unmittelbar in den Notdienst einbinden. Den Fachpolitikern der Verhandlungsdelegationen schwebten aber weitere Schritte vor. Der sektorenübergreifenden Versorgung ähnlich hätte hier ein Modell Pate stehen können, bei dem die Planung zukünftig sektorübergreifend auf Landesebene erfolgt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) würde Vorgaben zur Strukturqualität entwickeln. Zur Vergütung würden MGV und DRGs entsprechend bereinigt (Terpe et al. 2017).

In Umrissen erkennbar war eine mögliche „Jamaika“-Krankenhauspolitik: Da die Investitionsfinanzierung durch die Bundesländer immer noch ein erhebliches Problem darstellt, diskutierten die Verhandlungsdelegationen, eine „Innovationsoffensive Digital/Krankenhäuser“ aus Bundesmitteln in Höhe von einer Milliarde Euro jährlich ins Leben zu rufen. Hier wäre man Forderungen der Bundesländer nachgekommen, die auf der Gesundheitsministerkonferenz im Sommer 2017 erneut vorgebracht worden waren. Aber auch bei Krankenkassen findet sich für diese Maßnahme Zustimmung. Bis zum Schluss war allerdings offen, ob den Bundesländern damit eine Änderung der Planungszuständigkeiten hätte schmackhaft gemacht werden können, so die Ideen der Grünen, oder ob das Förderprogramm, das auf die CSU zurückging, nicht doch exklusiv als reines Bund-(Länder-)Programm zum Abbau des Investitionsstaus in Folge mangelnder Länderfinanzierung gedient hätte. Um Kürzungen zu Lasten des Pflegepersonals zu verhindern, war hingegen verabredet, ein „Sofortprogramm Pflege“ auf den Weg zu bringen. Dieses sah unter anderem die vollständige Refinanzierung von Tarifsteigerungen durch die Krankenkassen an, eine alte Forderung der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG 2017). Das Finanztableau vom 9. November 2017 schätzte die resultierende Mehrbelastung der GKV für ein „Sofortprogramm Krankenpflege“ auf ebenfalls eine Milliarde Euro. Dass der GKV-Spitzenverband angesichts dieses Szenarios auf die Barrikaden ging, war wenig überraschend: Bereits gegenwärtig seien Kostensteigerungen in den Krankenhäusern inklusive Tariferhöhungen über den Orientierungswert abgedeckt (GKV-Spitzenverband 2017). Eingeständnis der Verhandlungsdelegationen in diesem Punkt war allerdings lediglich eine geregelte Nachweispflicht, was immerhin Krankenkassen-Forderungen entgegengekommen wäre.

Überhaupt legte „Jamaika“ einen Schwerpunkt in einer besseren Personalausstattung in der Alten- und Krankenpflege. Hier bestand schnell Einigkeit. Als weitere Maßnahmen sah das „Sofortprogramm Pflege“ unter anderem eine Ausbildungsoffensive, Anreize für eine bessere Rückkehr von Teil- in Vollzeit oder eine Weiterqualifizierung von Pflegehelfern zu Pflegefachkräften vor. Das Finanztableau kalkulierte für ein „Sofortprogramm Altenpflege“ einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf von einer Milliarde Euro. Diese einheitliche Position zwischen den Verhandlungsdelegationen war schon früh in den Sondierungsgesprächen absehbar. Das Thema war bei den Fachpolitikern nicht erst seit der Reaktion der Bundeskanzlerin auf die Frage eines Krankenpflegers in der ARD-Sendung „Wahlarena“ am 11. September 2017 prominent auf der Agenda. „Weitere Schritte“ in Richtung Personalbemessungsinstrumente sollten folgen. Offenbar wurde, durch Bündnis 90/Die Grünen forciert, hierbei an eine verschärfte Weiterentwicklung der Regelungen des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II, 2016) gedacht.

Hingegen auf die Unions-Parteien gingen zwei weitere Vorhaben zurück: Bayerns Sozialministerin Melanie Huml (CSU) hatte sich bereits in der Vergangenheit dafür stark gemacht, dass erst ab einem Einkommen von 100.000 Euro/Jahr auf das Einkommen von Kindern pflegebedürftiger Eltern zurückgegriffen wird. Mit Blick auf die demografische Entwicklung könnte die CSU hier ein Thema mit Zugkraft gefunden haben. Beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) hatten die Verhandlungsdelegationen ebenfalls bereits Pflöcke eingeschlagen: Der MDK sollte von der GKV stärker getrennt werden. Angedacht war eine unabhängige Trägerschaft mit dezentraler Struktur. Diese Idee, die vor allem auf Nordrhein-Westfalens Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) zurückgeht, hat auch große Sympathien unter grünen Gesundheitspolitikern.

6.    Was war gesundheitspolitisch noch strittig?

Vor Beginn der Sondierungen erwartete Gesundheitsminister Gröhe bei der Finanzierung – dem Dissensthema aus dem Politikfeld Gesundheit zwischen den Parteien – Probleme: „Das wird nicht leicht“ (Gröhe 2017). Und so kam es auch, allerdings gab es beides: Stillstand wie Bewegung. Zwar kristallisierten sich einerseits schnell – siehe „Geheimpapier“ vom 7. November 2017 – die Sollbruchstellen heraus: Parität, Bürgerversicherung und Wahlfreiheit für Beamte bei der Krankenversicherung. Andererseits zeigte sich auch eine gewisse Entwicklung: Mit der Bürgerversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung sowie der paritätischen Finanzierung der GKV waren zwei grüne Kernanliegen nicht durchsetzbar – zugleich schälte sich eine Kompromisslinie heraus, die über den Tag hinaus wirken dürfte: Die FDP signalisierte (zumindest öffentlich), sich eine stärkere Beteiligung der Arbeitgeber an den Krankenversicherungsbeiträgen vorstellen zu können. Dies schuf eine Schnittmenge zu Ideen aus dem Kreis christdemokratischer Fachpolitiker, wonach die durch die GKV-Mitglieder zu zahlenden Zusatzbeiträge ab einem gewissen Punkt gedeckelt – und damit die Arbeitgeber wieder ins Boot geholt – werden sollten. Die Sondierungen zogen die Grenze hierfür bei einem Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitrages auf wahlweise 1,1% (Bündnis 90/Die Grünen) oder 1,5% (CDU/CSU). Führt man sich vor Augen, dass der durchschnittliche Zusatzbeitrag für das Jahr 2018 Ende Oktober 2017 durch Gesundheitsminister Gröhe auf 1% gesenkt worden war und der GKV-Spitzenverband die GKV-Mehrbelastungen, die sich in den Sondierungsgesprächen abzeichneten, auf 6,5 Mrd. Euro kalkulierte (GKV-Spitzenverband 2017), hätte folglich eine gewisse Chance bestanden, immer abhängig von den Finanzlagen der Kassen, die „Schmerzgrenze“ in der 19. Wahlperiode zu erreichen.

Verschiedene Auswirkungen hätte das geeinte Ziel haben können, die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt bei 40% zu deckeln – was insbesondere der FDP, aber auch der Union, wichtig war: Zwar besteht durch den 2018 sinkenden Rentenbeitragssatz gegenwärtig eher Entspannung, für künftigere finanzielle Herausforderungen hatten sich die Verhandlungsdelegationen jedoch vorgenommen, unter anderem versicherungsfremde Leistungen stärker über Steuern zu finanzieren. Die leidvollen bisherigen Erfahrungen von Gesundheitspolitikern wie auch Krankenkassen mit der wechselhaften Entwicklung des Bundeszuschusses hätten gleichwohl schwierige Debatten mit den Haushaltspolitikern erwarten lassen. Im Falle von Kostendruck wären dann (ergänzend) als künftige Handlungsoptionen verblieben: Das wenig populäre Instrument der Kostendämpfung oder aber eine Erweiterung der Beitragsbasis, was eher grünen Ideen entspricht, nicht aber Union und FDP.

Denn: Falls positiv beschieden, hätte „Jamaika“ Neuland in einem Punkt betreten, der am letzten Sondierungswochenende noch strittig auf dem Tisch lag: „Die Wahlfreiheit der Beamten bei der Auswahl ihrer Krankenversicherung wird gestärkt“ (Sondierungspapier vom 15. November 2017). Dieser von Bündnis 90/Die Grünen stammende Passus zielte auf die Verbreitung des Versichertenkreises der GKV, indem Beamten Anreize erhalten, sich in der GKV zu versichern. Für das duale Krankenversicherungssystem wäre dies ein echtes Novum und für die PKV ein harter Schlag gewesen. Je nach Ausgestaltung, etwa bei Anreizen für „schlechte Risiken“ zu wechseln, wären allerdings auch die Krankenkassen nicht glücklich geworden. Allerdings stand das eher moderate Modell des rot-grünen Senats in Hamburg Pate, das 2018 Gesetz werden soll und sich vor allem auf die Zielgruppe von bereits in der GKV versicherten Beamten und Berufsanfänger konzentriert. In Verbindung mit dem durch die „Jamaika“-Verhandlungsdelegationen bereits konsentierten „Paket kleine Selbstständige“, das für Selbstständige auf eine Reduzierung der Mindest-Krankenversicherungsbeiträge zielte, ein zwischen den Parteien unstrittiges Ziel, wären dann die drei Elemente eines ersten Schritts eines grünen Bürgerversicherungsmodells (zumindest teilweise) aufgegriffen worden: Parität (hier verstanden als stärkere Heranziehung der Arbeitgeber), Einbezug von Beamten sowie Regelungen für Selbstständige. Die Bezeichnung Bürgerversicherung hätte sicherlich gefehlt – wie auch die Zustimmung von Union und FDP, zumindest zur Beamtenwahlfreiheit, offenbleiben muss, da die Thematik am 19. November 2017 nicht mehr besprochen wurde. Eindeutige Tendenz: Keine Zustimmung.

Offen blieben auch drei weitere „Jamaika“-Streitthemen, bei denen die Konfliktlinie allerdings zwischen Union/Grünen und FDP verläuft: Vor allem die FDP wollte die sog. „Doppelverbeitragung“ von Betriebsrenten aus Direktversicherungen und sonstigen Versorgungsbezügen im Sinne eines vollständigen Verzichts angehen. Der Umstand, dass sowohl während der Anspar- bzw. Anwartschaftsphase als auch während des späteren Leistungsbezugs Beiträge abgeführt werden müssen, führt bei Betroffenen verlässlich zu Ärger. Das Betriebsrentenstärkungsgesetz (2017) der Großen Koalition schafft ab 2018 zwar bei Riesterverträgen Abhilfe – nicht jedoch darüber hinaus. Die mit einer generellen Abschaffung verbundenen beitragssatzrelevanten Einnahmeausfälle für die GKV in Höhe von 2,5 Milliarden Euro lassen aber bei Union und insbesondere im BMG, aber auch bei Bündnis 90/Die Grünen Widerspruch laut werden. Im Raum steht auch die Frage, ob es sich nicht eigentlich um einen gesamtgesellschaftlichen – also nicht über die GKV zu lösenden – Aspekt handelt. Seitens der Grünen wäre es denkbar gewesen, Betroffene direkt zu unterstützen, was für die GKV keine Einbußen bedeutet hätte.

Parteipolitisch anders aufgeladen ist hingegen das Thema Versandhandel: Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2016 entschieden hatte, dass die deutsche Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel gegen EU-Recht verstößt, entbrannte eine heftige Debatte über ein Versandhandelsverbot, für das sich vor allem Gesundheitsminister Gröhe stark machte – und damit auf Widerstand bei FDP und Bündnis 90/Die Grünen stieß (vgl. Aschenberg-Dugnus 2017). Gleiche Akteurskonstellation beim Thema Cannabis: Über eine bessere Versorgung von Patienten mit Medizinalhanf war man sich einig, nicht jedoch über die Einrichtung von legalen Cannabis-Abgabestellen – ein Thema, welches der Bundestag im Juni 2017 kontrovers diskutiert und ablehnend entschieden hatte. Dabei war ebendieses Thema in der Öffentlichkeit als besondere gesundheitspolitische Duftmarke von „Jamaika“ auserkoren worden: „Ein solcher Akt der Vernunft wäre doch ein toller Auftakt für eine Jamaika-Koalition“ (Haucap 2017).

7.    Was bleibt gesundheitspolitisch von „Jamaika“?

Ungeachtet des Scheiterns kristallisierten sich in den Sondierungsgesprächen Inhalte heraus, die absehbar auch in einer anderen Regierungskonstellation Politik werden können. Zum einen existiert ein parteiübergreifender Konsens, für bessere Personalausstattungen im Bereich Kranken- und Altenpflege zu sorgen und die Attraktivität des Berufsbildes zu erhöhen. Das zwischen Union, FDP und Bündnis 90/Die Grünen rasch verhandelte „Sofortprogramm“ zeugt ebenso davon, wie die am 21. November 2017 durch die Linksfraktion in den Bundestag eingebrachten Anträge „Wahlkampfversprechen erfüllen – Verbindliche Personalbemessung in den Krankenhäusern durchsetzen“ sowie „Sofortprogramm gegen den Pflegenotstand in der Altenpflege“. Die Parteien unterscheiden sich hier nicht im Ziel (vgl. Franke 2017). Nach dem „Jamaika“-Scheitern schrieben sich folgerichtig fast alle Seiten das vereinbarte „Sonderprogramm“ auf die eigene Fahne (z. B. CDU 2017). Jede künftige Koalition wird also weitere Finanzmittel zur Verfügung stellen (lassen) – muss aber mit dem Manko umgehen, dass der Arbeitsmarkt gegenwärtig nicht unbedingt vor Bewerbern strotzt. Außerdem gibt es einen engen Zusammenhang mit dem leidigen Thema Investitionskostenfinanzierung.

Darüber hinaus geben die „Jamaika“-Sondierungen einen deutlichen Fingerzeig, dass die Zusatzbeiträge für die GKV-Mitglieder nicht ins Unendliche steigen werden. Absehbar ist vielmehr eine Art „Obergrenze“, ab der der allgemeine Beitragssatz wieder angepasst wird. Eine informelle Absprache zwischen Union und SPD während der Koalitionsverhandlungen 2013 hatte ja ebenfalls genau auf diesen Punkt gezielt, kam aber nicht zum Tragen. In Abhängigkeit von der parteipolitischen Couleur ist auch die vollständige Parität nicht ausgeschlossen, wenn auch vergleichsweise weniger wahrscheinlich. Auch bei der Krankenhausfinanzierung scheint der Weg in Richtung mehr Bundesmittel eingeschlagen. Das Thema Digitalisierung hingegen war schon vorher gesetzt und blieb in den Sondierungen eher abstrakt.

Nicht vergessen werden darf, dass BMG und Union ebenfalls den nächsten Koalitionsvertrag (wahrscheinlich) inhaltlich eng begleiten werden. Das Finanztableau vom 9. November 2017 skizzierte in diesem Zusammenhang Maßnahmen, die – fachlich stark durch das BMG geprägt, aber auch Unions-Anliegen spiegelnd – wohl auch bei einer anderen Regierungskonstellation auf der Agenda stehen würden: Mit einer Finanzwirkung von jährlich 3 Milliarden Euro sollte die medizinische Behandlungspflege von der Pflegeversicherung in die GKV verschoben werden, was in der Umsetzung zu Bereinigungs- und Berechnungshürden führen dürfte. Hierbei handelt es sich um ein CDU-Anliegen, das in beiden Versicherungszweigen die Bereitschaft zu Rehabilitationsleistungen stärken will (CDU 2016). Folgerichtig, so der Plan, müsste dann allerdings die Zuständigkeit und Finanzierung der Rehabilitation auf die Pflegeversicherung übergehen. Den Krankenkassen dürfte dies angesichts einer völlig anderen Wettbewerbssituation in der GKV nicht gefallen.

Wohlwollen würde dafür eine andere Maßnahme finden: Offenbar ist in der Politik die Einsicht gewachsen, bei den Kosten für die Versorgung von ALG-II-Empfängern zu handeln. Die vom Bund gezahlte Pauschale von ca. 90 Euro moniert der GKV-Spitzenverband schon seit geraumer Zeit als zu gering, vielmehr müssten es pauschal 136 Euro sein. Das Ergebnis sei eine Lücke von 2,3 Milliarden Euro (Beerheide 2016). Diesen Verschiebebahnhof will der Bund – oder genauer gesagt: das BMG – mit jährlich einer Milliarde Euro, „schrittweise aufwachsend“ (Finanztableau vom 9. November 2017), angehen. Da allerdings zwischen den Spitzen der Verhandlungsdelegationen sowohl der künftige finanzpolitische Handlungsspielraum wie auch seine Nutzung zu erheblichen Streit führte, ist zumindest fraglich, ob die Maßnahme schlussendlich Eingang in einen Koalitionsvertrag gefunden hätte. Die Hürde der Haushaltspolitiker hatte das Finanztableau noch nicht genommen.

8.    Fazit

Wahrnehmbarer Bestandteil der Regierungsbildung sind Sondierungen eigentlich erst seit der Bildung des ersten Kabinett Merkel (2005 und 2013, in verschiedenen Kombinationen), vorher waren sie kaum bzw. gar nicht üblich oder gar notwendig. Im Vorfeld eines möglichen vierten Kabinetts Merkel erlebte die Bundesrepublik 2017 schließlich zum ersten Mal ausgedehnte Sondierungen, die sich durch eine besondere Qualität und Quantität auszeichneten: Die „Jamaika“-Sondierungen 2017 waren durch ihre Dauer, den Aufbau und die breite Einbindung von Parteivertretern bis hin zur Detailtiefe ein Novum. Sie könnten zu einer Relevanzumkehr führen: Waren bislang Koalitionsverhandlungen das entscheidende Momentum, so könnten im Falle von ungeliebten oder nicht-erprobten Regierungsbündnissen perspektivisch viel stärker Sondierungsgespräche entscheidend werden. Die „Jamaika“-Sondierungen zeigten allerdings, dass dann freilich das wesentliche Element von Koalitionsverhandlungen – das inhaltliche „wie“ – zumindest rudimentär in die Sondierungen organisatorisch und strategisch sinnvoll integriert werden muss. Und: In den „Jamaika“-Gesprächen pflegten die Beteiligten eine Transparenz, die in dieser Form neu war. Zu der Vielzahl von Interviews und Stellungnahmen kam die Veröffentlichung wichtiger – aber nicht aller (!) – Sondierungspapiere durch die Verhandlungsdelegationen selbst, etwa im Internet, insbesondere auf Twitter. Hinzu kam, allerdings zwischen den Parteien unterschiedlich, eine stärkere Einbindung der Fraktionen und Fachpolitiker. Die in diesem Ausmaß neue Art und Weise der öffentlichen Kommunikation – vor allem im digitalen Raum – wirkt einerseits positiv auf die innerparteiliche Meinungs- und Willensbildung, verkleinert aber andererseits sowohl dringend benötigte strategische „Ruheräume“ wie auch eigentlich notwendige Kompromissfähigkeit.

An dem Politikfeld Gesundheit wäre eine „Jamaika“-Koalition nicht gescheitert. Die Schnittmengen zwischen Union, FDP und Grünen in der Gesundheitspolitik waren ausreichend groß. Folgerichtig findet die Gesundheitspolitik in der Übersicht der FDP (2017) über die „zentralen Dissenspunkte“ auch keine Erwähnung. Die positive Finanzlage tat ebenfalls ihr Übriges. Vor allem im Bereich der Alten- und Krankenpflege hätte ein „Jamaika“-Schwerpunkt gelegen. Selbstredend wäre für folgende Koalitionsverhandlungen noch ausreichend Detailierungspotenzial geblieben – etwa bei der Frage der „Landarztgarantie“, die in den Gesprächen lediglich ein Platzhalter war. Es bestand in diversen Punkten noch Unklarheit, über welches Instrument vereinbarte Ziele denn konkret hätten erreicht werden sollen. Dieser Befund galt mitunter auch für das neue Megathema Pflege. Der finale Sondierungsstand vom 15. November 2017 wirkte zudem noch ungeordnet, die langfristigen Linien waren erst in Umrissen erkennbar. Nicht zu vergessen: Viele Themen der gesundheitspolitischen Agenda wurden gar nicht behandelt (etwa Selbstverwaltung, Arzneimittelversorgung) oder geschoben (z. B. Entbudgetierung, Morbi-RSA).

Die „Jamaika“-Sondierungen 2017 bieten somit sowohl konzeptionell wie auch inhaltlich Anschauungsmaterial und Anknüpfungspunkte für mögliche Gespräche zwischen Union und Sozialdemokraten. Dies gilt für das Format Sondierungsgespräche wie auch für gesundheitspolitische Inhalte: Um Sondierungen erfolgreich zu führen, könnte künftig ein kleiner Kreis entscheidungsbefugter Verhandler zusammenkommen, um abseits öffentlichen Einflusses Vertrauen aufzubauen und einige (eher wenige) gemeinsame Ideen und größere Vorhaben zu formulieren, bevor es an die eigentliche Detailarbeit geht. Diese inhaltlichen Leitplanken könnten sich auch an ihrer Umsetzbarkeit orientieren: Aktuell verfügen etwa weder „Jamaika“ noch Union und SPD jeweils über eigene Mehrheiten im Bundesrat, zustimmungspflichtige Gesetzesvorhaben müssten also jeweils Länderregierungen anderer koalitionspolitischer Couleur einbinden. Die erwähnten Leitplanken könnten sich somit auf vornehmlich auf zustimmungsfreie Politikbereiche konzentrieren.

 

[1] Wie schon für eine vorangegangene Untersuchung (Bandelow et al. 2017) wurden auch für die vorliegende Untersuchung Hintergrundgespräche geführt. Die Autoren sind für die wertvollen Hinweise sehr dankbar. Persönliche Erfahrungen sind gleichwohl naturgemäß subjektiv, neue Erkenntnisse immer möglich. Der Beitrag wurde am 12. Februar 2018 in wenigen Punkten aktualisiert. Die „GroKo“-Verhandlungen von CDU, CSU und SPD werden an anderer Stelle analysiert (Bandelow et al. 2018).

 

Literaturverzeichnis

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Autoren:

  • Dr. Nils C. Bandelow, Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Chair of Comparative Politics and Public Policy, Institut für Sozialwissenschaften, TU Braunschweig
  • Dr. Florian Eckert, Director Public Affairs, fischerAppelt AG, Berlin
  • Dipl. -Pol. Robin Rüsenberg, Geschäftsführer, Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä) e.V., Berlin

Die Autoren vertreten ihre private Meinung.

 

Berlin/Braunschweig, 30. November 2017

 


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