Veränderung der Machtverhältnisse

Gesundheitspolitik nach (und lange mit) Corona

Dr. Robert Paquet

Die Corona-Pandemie wird uns auf Jahre beschäftigen und unser Alltagsleben einschneidend verändern. Diese Entwicklung wird sich – das ist heute schon zu sehen – auf das Gesundheitswesen stärker als alle vorausgegangenen Epidemien auswirken. Zu überlegen ist, wie sich dadurch die Machtverhältnisse in der Gesundheitspolitik verändern werden und welche der bisher schon angelegten Trends damit zusätzliche Kraft gewinnen. Dass sich die Debatten und politischen Bemühungen in den letzten Wochen vor allem um das Krankenhaus gedreht haben (Intensivbetten, Beatmung etc.), könnte bereits das Signal einer Fehlentwicklung sein.

 

Umfassende Betroffenheit

Man müsste damit rechnen, dass ein Wunder geschieht, mit dem die Corona-Krise überraschend schnell zu Ende ginge: zum Beispiel die überaus schnelle Entwicklung eines massentauglichen Impfstoffs; die plötzliche Entdeckung eines Medikaments, das den Krankheitsverlauf erheblich mildert und die Letalität massiv reduziert; eine Mutation des Virus, die seine Übertragbarkeit oder seine Krankheitswirkung erheblich verringert. Da Wunder aber sehr unwahrscheinlich sind, muss man realistisch davon ausgehen, dass uns der Kampf gegen das Corona-Virus und die Behandlung von Covis19-Kranken die nächsten Jahre weiter intensiv beschäftigen wird. Das wird allein schon wegen der zu erwartenden zweiten und dritten Wellen und den nicht zu verhindernden regionalen Ausbruchsclustern der Fall sein, auch wenn wir diese – hoffentlich – relativ gut eindämmen können.

Da viele der jetzt eingeführten Hygienemaßnahmen und Verhaltensvorschriften voraussichtlich lange Zeit, wenn nicht dauerhaft bleiben werden, wird die Pandemie auch nicht „vergessen“, wie frühere globale Krankheitsentwicklungen (SARS, MERS etc.) oder drastische Infektionstragödien, die sich in fernen Ländern abspielen (z.B. Ebola in Sub-Sahara-Afrika, Malaria in Zimbabwe oder HIV in Südafrika). Diese hatten bzw. haben keine massenhaft spürbaren Auswirkungen und langdauernde schmerzlichen Konsequenzen in Deutschland. Im Gegensatz dazu wird bei Corona die Vigilanz ein sehr viel höheres Niveau behalten. Wir werden – soweit es heute absehbar ist – bis auf weiteres eine Gesellschaft im Risikomodus sein (bzw. bleiben), und die Abwehrreflexe werden sich fortsetzen.

Nicht ganz abgesehen von den allgemeineren gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen soll hier nach den kurz- und mittelfristigen Konsequenzen dieser Entwicklung für die Gesundheitspolitik gefragt werden. Dabei werden Tendenzen verstärkt, die schon vor der Corona-Krise angelegt waren.

 

Krankenhaus

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Krankenhäuser – jedenfalls mittelfristig – die Gewinner der Krise sein werden. Auch wenn der größte Teil der Infektionen (6 von 7) durch die niedergelassenen Ärzte betreut werden[1], fokussieren sich Medien und Politik auf die Krankenhäuser. Die Frage der Kapazität der Intensivabteilungen und der Beatmungsmöglichkeiten stand (und steht) seit spätestens Mitte März im Zentrum der Diskussion. Auch wenn das Kliniksystem in einer beeindruckenden Anpassungsleistung Tausende von Intensivbetten und Beatmungsplätzen neu bereitgestellt hat, wird dieser Schwerpunkt der Aufmerksamkeit (gerade wegen dieses Erfolgs) allmählich zurücktreten. Größere Aufmerksamkeit bekommen die Schwierigkeiten der im Moment noch stillgelegten Krankenhausabteilungen bzw. das Wiederanlaufen des „normalen“ Krankenhausbetriebs sowie das Nachholen der aufgeschobenen stationären Operationen und Behandlungen. Offen ist zudem, wie sich eventuelle Spätfolgen bei überstandenen Covid19-Erkrankungen entwickeln und welcher Behandlungsbedarf sich aus dem Zurückstellen bzw. Verschleppen von Behandlungen in der Shutdown-Phase ergibt. Ob daraus ein Mehrbedarf resultiert, bleibt abzuwarten.

Wie nicht anders zu erwarten war, wehren sich die Krankenhäuser nun gegen jede Strukturanpassung. Jetzt sei der Beweis erbracht, man brauche jedes Krankenhausbett; die „Bertelsmann-Studie“[2], die im vergangenen Jahr ziemlich viel Wirbel gemacht hat, habe sich nun endgültig als falscher Ratschlag erwiesen etc.[3] Auch andere Projekte zur Modernisierung der stationären Versorgung werden reflexhaft kritisiert[4]: „Die Corona-Krise zeigt, dass die von NRW-Gesundheitsminister Laumann auf einem Gutachten basierende Krankenhausplanung zur Umstrukturierung und Zentralisierung der Krankenhauslandschaft auf Eis gelegt werden muss. Die Maßstäbe, die zur Planung herangezogen wurden, haben sich im Lichte der Pandemie grundsätzlich verändert“, erklärten Lisa-Kristin Kapteinat, stellvertretende Vorsitzende, und Josef Neumann, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag NRW[5]. Dabei geht es bei diesen Studien nicht in erster Linie um einen generellen Bettenabbau, sondern um die Möglichkeiten einer Qualitäts- und Effizienzsteigerung der Versorgung (durch Spezialisierung und bedarfsgerechte Angebots-Anpassung der Fachabteilungen) sowie die Umsteuerung bestimmter stationärer Leistungen, die genauso gut (oder besser) auch ambulant erbracht werden könnten. Aus diesem Grunde hält Minister Laumann bis jetzt an seinen Umstrukturierungsplänen fest. Es dürfte jedoch – angesichts der Landtagswahl im Frühjahr 2022 – nur eine Frage der Zeit sein, bis seine Pläne im Sande verlaufen[6].

Populismus nutzt die Krise und hat dafür gute Chancen. Wer von den Lokaljournalisten und der allgemeinen Öffentlichkeit will und kann sich schon im Detail mit fachlichen Fragen der Krankenhausplanung auseinandersetzen? In deren Wahrnehmung ist „mehr“ einfach besser. Und so werden die Karten in diesem Spiel vollkommen neu gemischt. Das gilt etwa für den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung[7], in dem sich gerade die Kassenärztlichen Vereinigungen gegenüber dem „Diskussionsentwurf“ des BMG vom 12.07.2019 die maßgebliche Rolle bei der Sicherstellung erobert haben. Schon bevor sich die Corona-Krise richtig bemerkbar machte, erklärte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), die Reform der Notfallversorgung müsse grundlegend überarbeitet werden[8]. Die Chancen, dass die Krankenhäuser und die Länder wieder die entscheidende Gestaltungsmacht in diesem Bereich zugewiesen bekommen, sind jedenfalls mit Corona erheblich gestiegen.

Dabei spielt die Frage der Vorhaltung von Reserve-Kapazitäten im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle. Die Aufgabe der „Daseinsvorsorge“ der Länder (als Verfassungsaufgabe) wird eine überwältigende Durchschlagskraft in dieser Diskussion gewinnen. Ein Gegenargument könnte höchsten sein, dass die Mobilisierung von zusätzlichen Kapazitäten ja doch gerade gut gelungen ist und jetzt sogar möglicherweise zu viel „Reserve“ geschaffen wurde. Wobei der Preis dafür –Stopp aller elektiven Leistungen und Kurzarbeit in den anderen Krankenhaus-Abteilungen – sehr weh tut. Ein Argument, das aber wohl nur bei Fachleuten „ankommen“ dürfte.

Prompt kamen auch Forderungen, das DRG-System abzulösen. So fordert der Marburger Bund in einer Pressemitteilung vom 25. März, das „Fallpauschalensystem auszusetzen“: „Die Abrechnung nach diagnosebezogenen Fallpauschalen taugt schon nicht für den Normalbetrieb – in der Krise ist es ein bürokratisches Monster, das die Arbeit im Krankenhaus unnötig erschwert. Deshalb hätten wir uns gewünscht, dass wenigstens für die Zeit der Bewältigung der Corona-Krise auf jede Prüfung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen verzichtet wird.“ Die Rückkehr zum Selbstkostendeckungssystem ist bereits mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz für den Pflegebereich eingeleitete. Die nächsten Schritte werden voraussichtlich folgen.

Bei der politischen Linken ebenso wie bei den Schützengrabenkämpfern des Status quo wird „Effizienz“ zum Unwort (soweit nicht mit Digitalisierung verknüpft), „Daseinsvorsorge“ zum Heilsversprechen. Die pauschale Kritik der „Ökonomisierung“ wird bei Krankenhäusern und Ärzten wieder Hochkonjunktur bekommen (etwa wie durch Prof. Giovanni Maio). So rauscht es im Blätterwald: Mindestmengen werden als Qualitätskriterium diskreditiert. „Masse“ (egal wie gut) soll es sein. Andere Qualitätssicherungs-Ansätze werden mit dem Bürokratie-Vorwurf soweit beschädigt (z.B. durch das Aussetzen der Dokumentationspflichten), dass sie keine interpretierbaren Ergebnisse mehr bringen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Die Länder werden sich erneut als „Paten ihrer“ Krankenhäuser zeigen und die bundespolitische Strategie der Kapazitätsreduktion wieder blockieren. Die kleinen Ansätze der Diskussionsbereitschaft der Krankenhausseite über Effizienz und Qualität bzw. Anpassungsmaßnahmen werden in sich zusammenfallen. So hieß es noch in einem viel beachteten Eckpunktepapier der DKG vom 2.3.2019[9] unter der Überschrift „Neuausrichtung“: „Der Abbau von nachweisbar nicht bedarfsnotwendigen Kapazitäten, Standortzusammenführungen und im konkreten Fall auch Standortschließungen sind ebenso Teil dieser Strukturentwicklung wie der Erhalt, die Stärkung und inhaltliche Weiterentwicklung von Standorten in Regionen mit Versorgungsdefiziten zur Sicherstellung der sozialen Daseinsvorsorge und bundesweit gleicher Lebensverhältnisse“. Von diesem Diskussionsangebot, das für DKG-Maßstäbe eine kleine Revolution darstellte, wird nur der zweite Teil übrigbleiben.

Trotzdem werden die Länder ihren Investitionsverpflichtungen nicht besser nachkommen. Das gilt allein schon wegen der mit der kommenden Rezession eintretenden Finanznot aller Gebietskörperschaften. Die neu erforderlichen Summen dürften dagegen aus dem Gesundheitsfonds und damit mittelbar von den Krankenkassen geholt werden. Ohne dass diese allerdings ein Mitspracherecht bei der tatsächlichen Verwendung hätten.

 

Ärzte

Die niedergelassenen Ärzte leisten in der Corona-Krise einen wesentlichen Beitrag. So betonte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, bereits am 1. April, dass die Vertragsärzteschaft durch die Betreuung vieler leicht und mittelschwer erkrankten Covid19-Pateinten einen „ambulanten Schutzwall“ schafft, damit die Krankenhäuser nicht übermäßig belastet werden. So zutreffend das auch ist, die Vertragsärzte stehen in dieser Krise nicht im Mittelpunkt. Hausärzte tragen zwar eine erhebliche Last bei der Versorgung; alle Niedergelassenen hatten die Probleme mit der Schutzausrüstung. Vor allem die Fachärzte und ihr Personal (mit häufiger Kurzarbeit) leiden unter dem Ausbleiben vieler Patienten, die nicht akut behandelt werden müssen. Trotzdem richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Maximalversorgung, d.h. die stationäre Versorgung der schwersten Fälle.

Daher gewinnt auch das Krankenhaus und nicht die niedergelassene Ärzteschaft in dieser Krise. Im Krankenhaus wiederum dürften die Ärzte (und da bestimmter Fachrichtungen wie Intensivmedizin, Pneumologie) den Gewinn an Einfluss auf ihrem Konto verbuchen. Vor allem dürfte es einen Machtgewinn der ärztlichen Experten von Universitätskliniken, Fach-Instituten und staatlichen Forschungsstellen geben[10].

Nicht gewinnen werden voraussichtlich auch die nicht-ärztlichen Berufsgruppen. Die Aufwertung des Personals vor allem in der Pflege wird zwar langsam weitergehen, erfährt durch die Corona-Krise aber keinen Schub. Die Delegationsmöglichkeiten ärztlicher Kompetenzen werden nur in homöopathischen Dosen erweitert. Zum Beispiel die Intensivpfleger sind in dieser Krise als eine wichtige „Fachkräfte“-Gruppe überhaupt erst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Die enorme Differenzierung des Pflegepersonals (z.B. OP-technische und anästhesietechnische Assistenten etc.) dürfte kaum im allgemeinen Bewusstsein verankert sein. Der Widerstand der Ärzteschaft gegen mehr Delegation wird jedoch bleiben und sich bis auf weiteres durchsetzen. Die Organisations- und Artikulationsfähigkeit der Pflegeberufe bleibt weit hinter der der Ärzte zurück. In Krisen setzen sich ja regelmäßig die konservativen Strukturen durch. Die Pflegenden werden sich zusammen mit den Supermarkt-Verkäuferinnen und -Verkäufern mit dem Ehrentitel der „Helden des Alltags“ abfinden müssen.

 

Kommunikation in Krisen

In Krisen triumphiert das Hergebrachte und (angeblich) Bewährte. „Keine Experimente“ ist die Parole des Tages. Der Mainstream drückt alles andere weg. Das Lehrbuchbeispiel dafür ist die deutsche Wiedervereinigung. Alle (kritischen) Ansätze der 1980er Jahre zum Gesundheitswesen, wie zur Qualitätsdiskussion, zu Managed Care, zu Modellen sektorenübergreifender (integrierter) Versorgung (etwa in HMOs), zur Schwerpunktversorgung mit DMPs etc. hatten plötzlich keine Chance mehr und mussten gegen Ende der 90er Jahre mühsam wiedergefunden werden[11]. So wurden auch die Elemente des DDR-Gesundheitssystems, die potentiell hätten innovativ wirken können (Polikliniken und Dispensaires für Chroniker etc.), mit eisernem Besen weggekehrt, obwohl sie nicht konzeptionell, sondern nur materiell unterausgestattet waren. Dabei findet eine solche Strategie mehrheitlichen Beifall in der Bevölkerung. „Sicherheit“ steht im Vordergrund[12].

Andererseits besteht nur in Krisenzeiten die Möglichkeit, grundlegende Strukturreformen durchzusetzen[13]. Bei der aktuellen Corona-Krise zeichnet sich jedoch in dieser Hinsicht kaum Bewegung ab. Bisher erkennbar ist allein ein Durchbruch bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Das betrifft vor allem die Kommunikation der Patienten mit den Praxen, nicht nur durch Video-Sprechstunden. Der Sachverständigenrat Gesundheit hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass sich der Rückstand Deutschlands in diesem Bereich nachteilig auswirkt: „Wenn wir heute schon (und nicht erst 2021) eine sektorenübergreifende elektronische Patientenakte hätten, könnte eine Identifikation und Information von Menschen mit erhöhtem Risiko wesentlich zielgenauer und schneller erfolgen. Auch könnten wir schneller die Frage beantworten, welche Menschen mit welchen Vorerkrankungen möglicherweise besonders gefährdet sind.[14] Trotzdem ist keineswegs klar, dass die Corona-Krise die Bereitschaft bei den Interessengruppen und der Bevölkerung zu einer schnelleren Digitalisierung auf breiter Front erhöhen wird. Das zeigen u.a. die zähen Auseinandersetzungen um die Tracing-App.

 

Industrie

Bei der Überlegung, wer zu den Gewinnern zählen könnte, kommt man auch auf weitere Leistungserbringer wie die Pharmaindustrie, incl. Impfstoff- und Diagnostika-Hersteller sowie die Medizinprodukteindustrie, einschl. Digitalindustrie. Allerdings kann der plötzliche Boom einzelner Produkte (Beatmungsgeräte, Schutzausrüstung etc.) für die Industrie nicht verallgemeinert werden. Ein Beispiel mag das illustrieren[15]: Die Arzneimittelausgaben der GKV sind im März 2020 nach Angaben der ABDA gegenüber dem Vorjahresmonat um 25 Prozent gestiegen, während die Monate Januar und Februar noch unauffällig waren. Dabei dürfte es sich jedoch vor allem um Vorzieh-Effekte handeln. „Erste Marktdaten für April zeigen … stark rückläufige Arzneimittelumsätze. Das lässt darauf schließen, dass neben einer umfangreichen Akutversorgung auch viele chronisch kranke Patienten reguläre Arztbesuche mit Folgeverschreibungen vorgezogen haben“, erklärte Fritz Becker, Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbandes (DAV). Es seien auch größere Packungen verordnet worden, weshalb die Ausgaben stärker als die Rezept- und Packungszahlen gestiegen seien. Das dürfte auch mit der Verhaltensempfehlung des RKI zusammenhängen, Arzt- und Apothekenbesuche auf das unbedingt nötige Maß zu reduzieren. Im Ergebnis verdienen die Apotheken jedenfalls nicht mehr; durch die geringere Zahl der Apothekenbesuche reduziert sich wahrscheinlich auch der Umsatz beim lukrativen OTC- bzw. Begleitsortiment, und schließlich entstehen Zusatzkosten für Schutzmaßnahmen (Kleidung, Masken, Trennscheiben etc.). Diese Umsatzschwankungen dürften nach vorne durchschlagen, über den Großhandel bis in die Industrie, auch wenn einzelne Hersteller, z.B. von Impfstoffen (etwa für die in Zeiten drohender Lungenerkrankungen angeratene Pneumokokken-Impfung), Mehrumsätze machen[16].

Die Pharmaindustrie profitiert jedenfalls nicht generell[17]. Zwar arbeiten viele Unternehmen an Impfstoffen gegen das Virus und Medikamenten zur Linderung der Krankheit. Das löst allerdings zunächst einmal Investitionen aus, deren Rentabilität in den Sternen steht. Nur wenigen Firmen wird es gelingen, diesen Aufwand aus dem Verkauf der Impfstoffe etc. wieder reinzuholen. Daher will die Bundesregierung der Pharmaindustrie unter die Arme greifen, um die Risiken, die sie beim Aufbau von Produktionsinfrastruktur eingeht, zu bewältigen. Das hat Gesundheitsminister Jens Spahn in einem Interview bestätigt und (wegen der Liefersicherheit) Absatzgarantien für europäische Pharmahersteller in Aussicht gestellt. In den Vereinigten Staaten haben Behörden bereits mit Arzneimittelfirmen Verträge zur Förderung beim Aufbau spezieller Fabriken abgeschlossen. Ziel ist eine bevorzugte Lieferung für amerikanische Bürger, wenn künftig Impfstoffe hergestellt werden können. Bezeichnend sind jedoch bestimmte Reaktionen der Politik auf solche Initiativen: Die stellvertretende Vorsitzende des Europaparlaments, Katarina Barley (SPD), unterstellte der Industrie auf Twitter „Gier“, denn den Unternehmen winkten hohe Gewinne.

Im Hinblick auf die (Preisgestaltung für) Entwicklungsländer forderte UN-Generalsekretär António Guterres, ein Impfstoff gegen Covid-19 müsse wie ein öffentliches Gut angesehen werden etc. Bei vielen Politkern, vor allem auf der Linken, herrscht Ambivalenz: Einerseits gibt es die Hoffnung, dass die Firmen helfen können, andererseits werden deren Risiken ignoriert und antikapitalistische Reflexe kommen hoch.

Auch ein drittes Beispiel[18] zeigt, wie differenziert sich die Lage darstellt: Die fachärztlichen Labore haben ihre Kapazität, gezielt zu testen, massiv erhöht. Zum Teil wird dieses Potential aber noch nicht abgefragt. Gleichzeitig ging die Nachfrage in „anderen Bereichen der Labordiagnostik dramatisch zurück. So sind bei manchen präventiven Tests, wie zum Beispiel dem iFOBT-Darmkrebsscreening, die Anforderungen um über 70 Prozent gesunken. Auch andere Parameter (z. B. Cholesterin, TSH, Creatinin) werden seltener angefragt.“ Das sei nicht nur medizinisch ein Problem, wenn chronisch kranke Menschen nicht mehr adäquat mit Diagnostik versorgt werden. Auch für die fachärztlichen Labore selbst werde das dramatische Auswirkungen haben: „Einerseits sind unsere bereits grundlegend hohen Fixkosten wegen des Kapazitätsausbaus für die erforderliche Corona-Testung nochmal zusätzlich gestiegen, auf der anderen Seite sinken aber unsere Honorar-Einnahmen drastisch“, so der ALM-Vorstand Prof. Jan Kramer. Hier brauche es unterstützende Maßnahmen der Politik, d.h. einen weiteren Rettungsschirm.

 

Krankenversicherung

Der Leistungskatalog der GKV wird unberührt bleiben. Aber die Kassen, die wegen der Rezession wieder mehr darauf achten müssen, das Geld zusammenzuhalten, werden einen schweren Stand haben. Die Leistungserbringer, vor allem die Krankenhäuser und diverse Arztgruppen, dürfen wohl für die Einkommenseinbußen während der Krise auf einen Mitleids-Bonus hoffen. Mit den Krankenkassen hatte noch keiner Mitleid. Erst recht kein Politiker. Stattdessen wird es eine neue Debatte darüber geben, warum es mehrere Kassen gibt und was der Sinn der Unterschiede zwischen ihnen sein soll. Schon jetzt wird der Wettbewerb der Krankenkassen in der GKV kritisiert (von der LINKEN und bis weit in die SPD hinein). Ohne die nötigen Spielräume kann er sich nicht positiv auswirken und wird daher nicht begriffen. Es wird in der Regel erwartet, dass öffentlich-rechtliche Institutionen gleichförmig handeln.

Im Effekt führt das dazu, das ist schon jetzt der Trend, dass die Gliederung der GKV (von ihrem Wettbewerb ganz zu schweigen) an Bedeutung abnimmt und von den Politikern eher als irritierend wahrgenommen wird. Die PKV spielt nur noch eine (eher störende) Nebenrolle. Die Legitimation des gegliederten Krankenkassensystems wird weiter sinken. Die Länder würden der Vereinheitlichung der Krankenversicherung in Richtung auf regionale Einheitskassen sicher keinen Stein in den Weg legen. Die Kassen werden inzwischen immer öfter als nachgeordnete Behörden des BMG und der Länderminister betrachtet, die sie für ihre Zwecke einsetzen können.

Die relative Selbständigkeit selbstverwalteter Körperschaften spielt eine immer geringere Rolle. Der Unterschied in der Finanzierungssystematik von Steuern und Beiträgen verschwimmt. Das Geld der Kassen wird als politische Verfügungsmasse betrachtet. Das hatte man schon bei der (finanziellen) Zuständigkeit der GKV-Kassen für die Gesundheits-Prävention in Settings, bei der primären Finanzierung der gematik bzw. der Telematik-Infrastruktur[19], bei der (mittelbaren) Übernahme der Ausbildungskosten für das Pflegepersonal, der Finanzierung des Innovationsfonds und des Strukturfonds für die Krankenhauslandschaft via Gesundheitsfonds etc..

Das jüngste Beispiel ist die Idee von Gesundheitsminister Jens Spahn, die GKV-Kassen dazu zu verpflichten, „Massenschnelltests“ für große Bevölkerungsgruppen zu bezahlen (pro Monat ca. 1,5 Milliarden Euro). Dieser Vorstoß stößt zwar zunächst auf Widerstand. So erklärte – exemplarisch für die Kassen – AOK-Chef Martin Litsch, grundsätzlich begrüße er die Ausweitung der Tests. Es sei jedoch „rechtlich fragwürdig“, die Kosten den Kassen aufzubürden. Schließlich handele es sich um eine Maßnahme zum allgemeinen Bevölkerungsschutz, für die die Länder zuständig seien[20]. Man wird sehen, wie es ausgeht.

Noch vor etwa einem Jahr wurde von den enormen Überschüssen und Rücklagen der Kassen und des Gesundheitsfonds gesprochen. Sogar Beitragssatzsenkungen wurden verlangt. Aber schon das Jahr 2019 wurde mit einem (weitgehend geplanten) Minus abgeschlossen. Und die neuen Gesetze Spahns aus den letzten Jahren werden teuer, wenn auch langsam. Mit der Corona-bedingten Rezession werden die Einnahmen der Kassen dagegen rasant in den Keller rauschen. Zwar wird es in einigen Bereichen (durch den Shutdown verursachte und unbeabsichtigte) Minderausgaben geben (z.B. beim Zahnersatz, elektiven Operationen wie Hüft- und Knie-Prothesen sowie bei einigen veranlassten Leistungen wie z.B. der Physio-, Ergotherapie und Logopädie). Im Moment geht man bei den Kassen überwiegend davon aus, dass diese „Einsparungen“ die Mehrbelastungen durch die diversen Rettungsschirme nicht kompensieren können. Im Ergebnis werden die Kassen spätestens im nächsten Jahr deutlich höhere Zusatzbeiträge brauchen. Einige Kassen könnten bis dahin durch die genannten Turbulenzen in Liquiditätsengpässe kommen. Eine (traditionelle) Kostendämpfungsrunde wird es zwar nicht geben[21], es sei denn, die seltsame Idee der ‚Selbstkostendeckung‘ (siehe unten) macht sich auch für die Arzneimittel insgesamt und weitere Leistungsbereiche breit.

Außerdem ist zu beachten, dass die Kassen u.a. wegen der regionalen Schwerpunkte der Corona-Pandemie unterschiedlich belastet werden. Eine Wettbewerbsverzerrung, die durch den Risikostrukturausgleich (RSA) nicht ausgeglichen wird und nach seiner prospektiven Logik kurzfristig auch gar nicht ausgeglichen werden kann. In Fachkreisen wird bereits darüber nachgedacht, ob man beim RSA für die Krisenzeit (einige Monate oder das ganze Jahr 2020?) zu einem Ist-Ausgleich übergeht, weil die aktuellen Kostenunterschiede mit der individuellen Verantwortung der Kassen nichts mehr zu tun haben.

Alle Planungsgrundlagen für die Haushalte sind durch die Entwicklungen obsolet. Im Ergebnis ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch die GKV (bzw. einzelne Krankenkassen) im zweiten Halbjahr einen „Rettungsschirm“ braucht. Nach Lage der Dinge könnte der nur durch zusätzliche Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt werden, was den Staatseinfluss natürlich steigern würde.

 

Regulierung

Das staatliche Handeln in der Corona-Krise zeigt stellenweise ein geradezu kriegswirtschaftliches Selbstverständnis. Minister Altmaiers Ideen zu einer nationalen Industriepolitik, die deutsche Unternehmen retten soll, wurden im vergangenen Jahr noch teilweise belächelt. Jetzt überbieten sich Politiker aller Couleur mit Forderungen nach nationalen Vorräten von Masken und Schutzausrüstungen, Laborreagenzien und Arzneimitteln etc. und rufen mindestens nach europäischer, wenn nicht deutscher Produktion dieser Gegenstände. Natürlich lassen die Hersteller von Generika die Gelegenheit für ihre Forderungen nicht aus: Sie wollen die Abschaffung der Arzneimittel-Rabattverträge oder mindestens die gesetzliche Verankerung einer Pflicht zur Mehrfachvergabe[22]. Bei aller Autarkie-Seligkeit wird allzu schnell vergessen, dass die Globalisierung der Lieferketten auch Flexibilitäts- und Sicherheits-Potentiale bietet, wenn man sich nicht allein auf einen Lieferanten konzentriert.

Auch dass der Staat selbst die Beschaffung von Schutzausrüstungen übernommen hat, ist noch keine Erfolgsgeschichte. Die Bevorratung von Impfstoffen vor einiger Zeit war jedenfalls kein Ruhmesblatt. Eine interessante, um nicht zu sagen groteske Idee findet sich aktuell in der am 22.04. in Kraft getretenen „SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung“. Statt der ursprünglichen Selbstermächtigung des BMG zur Marktüberwachung wird nun den Herstellern und Vertreibern bestimmter Produkte ein Sicherstellungsauftrag erteilt. In § 7 Abs. 2 heißt es: „Hersteller und Vertreiber von versorgungsrelevanten Produkten des medizinischen Bedarfs stellen im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit und des ihnen Zumutbaren eine angemessene und kontinuierliche Bereitstellung der versorgungsrelevanten Produkte des medizinischen Bedarfs sicher, damit der Bedarf der Bevölkerung im Geltungsbereich dieser Verordnung gedeckt ist. Preise von versorgungsrelevanten Produkten des medizinischen Bedarfs müssen sich an den Kosten der Bereitstellung orientieren“. Dabei ist zwar rechtlich völlig unklar, was ein solcher „Sicherstellungsauftrag“ wirklich bedeuten soll. Und die Verordnung ist bis 30.9.2020 befristet. Sie zeigt aber beispielhaft, wie sich die „Denke“ bei der Regierung entwickelt: Dass mit einer Minister-Verordnung – und sei es auch nur zeitweilig – die Marktwirtschaft und das Gewinnprinzip aufgehoben werden, ist schon ein später Erfolg der Planwirtschaft.

Aber abgesehen von diesen Absonderlichkeiten: Der Bund hat sich mit den Veränderungen am Infektionsschutzgesetz Befugnisse verschafft (z.B. erhebliche Grundrechtseingriffe durch Verordnungen ohne Zustimmung des Bundesrats), die man bis vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte. Aber auch die Länder haben jetzt gemerkt (und die Öffentlichkeit sowie die Medien haben es registriert), dass sie in der Gesundheitspolitik Verantwortung tragen und einen erheblichen Gestaltungsspielraum haben. Das werden sie sich nicht mehr nehmen lassen. Das wird dazu führen, dass sie z.B. die Gremien nach § 90a SGB V (Gemeinsames Landesgremium) stärker nutzen werden (z.B. in Sachen „sektorenübergreifende Notfallversorgung“). Außerdem ist damit zu rechnen, dass sie z.B. die Landesausschüsse (§ 90 SGB V) ausbauen und ihren Einfluss durch Mitgliedschaft, Vetorechte und Genehmigungsvorbehalte verstärken wollen. Das führt zwangsläufig zu einer Minderung des Einflusses des G-BA und der zentralen Ebene. (Obwohl die Länder auch auf einen weiteren Ausbau ihrer Beteiligung in diesem Gremium dringen werden).

In der Konsequenz wird der föderale Flickenteppich bunter, auch z.B. bei der ärztlichen Zulassung oder durch eine Lockerung der bisher einheitlichen Regelungen zur Qualitätssicherung im Krankenhaus (Mindestmengen etc.). Auch wenn die Folgen noch nicht näher zu fassen sind: Der Staat (und da vor allem die Länder) bekommt mehr Macht gegenüber der (gemeinsamen) Selbstverwaltung. Die Kassen sind die Verlierer und die Krankenhäuser – bis auf weiteres – die relativen Gewinner.

Dazu passt, dass der in der Corona-Krise gerade erst wiederentdeckte Öffentliche Gesundheitsdienst[23] (ÖGD) gestärkt werden soll. Er führte lange Zeit ein Schattendasein und wurde von Ländern und Kommunen meist auf das geringstmögliche Maß heruntergespart. Mit den Meldeverpflichtungen zu Covid19 rückt er plötzlich wieder ins Bewusstsein der Politiker. Die gesetzgeberischen Reflexe sind jedoch typisch: Zunächst geht es bei der vorgesehenen Stärkung des ÖGD nur um Aufgaben des Pandemie-Managements. Wenn diese Institution jedoch tatsächlich aufgewertet werden soll (und schon zur erfolgreichen Bekämpfung der Corona-Krise wäre das erforderlich), müsste sie mit sinnvollen Daueraufgaben gestärkt werden, die über die (nach einigen Jahren vorübergehende) Corona-Krisenbewältigung deutlich hinausgehen. Attraktive Arbeitsplätze werden dort nämlich nur geschaffen, wenn die Institution hochwertige und interessante Aufgaben übernimmt. Hier wäre z.B. die gesundheitliche Prävention in den sozialen Settings zu nennen, die die Krankenkassen selbst nicht effektiv leisten können (aber finanzieren müssen) und an der die BZgA als zentrale PR-Agentur gescheitert ist. Regionale Institutionen wie die Einrichtungen des ÖGD könnten hier viel Sinnvolles leisten, auch z.B. im Bereich der Impfangebote in Schulen, Kitas und Betrieben etc. Von Beratungs- und ggf. sogar Behandlungsangeboten in Alten- und Pflegeheimen ganz abgesehen.

Übrigens: Der Europäische Rat hat zwar ein großes Hilfspaket für die Wirtschaft beschlossen. Dessen Umsetzung und Finanzierung sind jedoch noch weitgehend ungeklärt. Im Gesundheitsbereich im engeren Sinne beschränken sich die europäischen Kompetenzen auf die Regulierung von Medizinprodukten und Arzneimitteln im Binnenmarkt. Hier wird sich durch Corona (hoffentlich) langfristig nicht viel ändern. Allerdings ist von zeitweiligen Irritationen auszugehen, die dadurch entstehen, dass die einzelnen Mitgliedstaaten (für diese Krise und künftige Notfälle) unterschiedliche Markteingriffe planen bzw. vornehmen (Bevorratung, Anweisungen für die Produktion, Preisregulierungen etc.). Trotz verschiedener nationaler Autarkie-Bestrebungen scheint sich aber noch keine generelle Tendenz zu verfestigen, die betreffenden Produkte dem Binnenmarkt zu entziehen. Beeinträchtigungen könnte es auch für die Arbeitnehmer-Freizügigkeit geben. Auch bei der Aufhebung der Grenzbeschränkungen und Isolationsvorschriften könnten neue und diskriminierende Regelungen fortbestehen (z.B. besondere Gesundheitsprüfungen für medizinisches bzw. Pflegepersonal aus anderen Mitgliedstaaten).

Insgesamt dürfte die Begeisterung für europäische Regelugen in Deutschland durch die Corona-Krise nicht wachsen. Die Bewältigung der Krise findet vor allem auf nationaler Ebene statt; nur hier gibt es eine handlungsfähige Exekutive. Auch der Wettbewerb der Mitgliedstaaten beim Krisenmanagement und die dabei hervortretenden Unterschiede der Mentalitäten und Maßnahmen dürften die Europa-Skepsis eher nähren. Aus der Überwindung der Krise dürfte eher die nationale Regulierungsebene gestärkt hervorgehen als die EU-Ebene.

 

Fazit

Auch in Krisenzeiten wird das demokratische Spiel – und das hat bei aller Dramatik auch etwas Beruhigendes – weitergespielt. Die Interessengruppen fordern das, was sie schon immer gefordert haben, jetzt zur Abwechslung mit der Corona-Krise begründet. So herrscht gewöhnliches Handeln auch in ungewöhnlichen Zeiten[24]. Denn wer hätte „erwartet, dass Bürger und Lobbys Grundüberzeugungen ablegen, weil gerade Pandemie herrscht?“[25], wie der Tagesspiegel fragt. Was sollen in dieser Lage diejenigen tun, die sich – wie im Großen und Ganzen die Krankenkassen und viele wissenschaftliche Experten – für mehr Effizienz und Rationalität in der Versorgung und der Gesundheitspolitik eingesetzt haben?

Ein schönes Beispiel sind die „Lieferengpässe“ bei Arzneimitteln. Hier haben die Krankenkassen klug reagiert und die Sanktionen für Verstöße gegen die Austauschverpflichtungen der Rabattverträge zügig ausgesetzt. Wenn sie das Instrument bei den Arzneimitteln politisch retten wollen, sollten sie weiter kompromissbereit sein (mit der Perspektive der Mehrfachverträge) und im Sinne eines „taktischen Rückzugs“ dafür eintreten, europäische Produktion zu fördern, auch wenn dafür mehr Kosten entstehen[26].

Die skizzierten Machtveränderungen werden jedoch weitere Wirkungen zeigen. Wenn die Krankenkassen damit rational umgehen wollen, sollten sie die Stärkung des stationären Sektors ohne allzu hörbares Zähneknirschen hinnehmen und sich nicht kräftezehrend dagegen verkämpfen. Sie sollten allerdings ihren verbleibenden Einfluss dahingehend geltend machen, dass die kommenden Investitionen in die Kliniken zur Modernisierung beitragen (z.B. für die weitere Spezialisierung, Zentrenbildung und Digitalisierung) und nicht– mit der Gießkanne verteilt – die bestehenden insuffizienten Strukturen stabilisieren.

Die Corona-Krise sollte nicht dazu führen, die Gesundheitsversorgung wieder generell auf die Krankenhäuser auszurichten. Dass Deutschland neben Österreich und Südkorea die höchste Bettenzahl pro 100.000 Einwohner vorhält, spricht nämlich nicht für ein besonders leistungsfähiges Krankenhauswesen. Auch die (relativ) bescheidene und auf zu viele (und kleine) Einheiten verstreute Personal- und Qualifikationsausstattung spricht dagegen. Die Fähigkeit zum schnellen Aufbau vieler zusätzlicher Intensivbetten lag und liegt nicht in der Breite der stationären Angebotsstruktur begründet. Die neuen Kapazitäten wurden vor allem dort geschaffen, wo Spezialisierung und Konzentration bereits fortgeschritten sind und „Reserven“ durch ein flexibles Management mobilisiert werden konnten. Insoweit gibt die aktuelle Krise keinen guten Grund, die fortschreitende Ambulantisierung der Medizin zu bremsen bzw. den Trend zur sektorenübergreifenden Flexibilisierung der Versorgung zugunsten der Krankenhäuser zurückzudrehen.

Spätestens auf mittlere Sicht – nämlich, wenn die absehbare Rezession zu einer Finanzierungskrise der Krankenkassen führt – werden Konzepte zur Rationalisierung der Versorgung wieder gefragt sein (auch wenn dafür der Begriff der „Kostendämpfung“ füglich vermieden werden wird). Wissenschaftler wie der Sachverständigenrat für Gesundheit, verschiedene Krankenkassen, aber auch z.B. das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung sollten sich nicht davon abhalten lassen, an diesen Konzepten weiter zu arbeiten.

 

[1] So die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) in der ersten ihrer inzwischen regelmäßigen Pressekonferenzen zur Corona-Krise am 1. April 2020

[2] Bertelsmann-Stiftung (Hg.): „Zukunftsfähige Krankenhausversorgung – Simulation und Analyse einer Neustrukturierung der Krankenhausversorgung am Beispiel einer Versorgungsregion in Nordrhein-Westfalen“, Gütersloh Juli 2019

[3] Zum Beispiel Bericht im Tagesspiegel vom 23.4.: „Wie viele Krankenhäuser braucht das Land?“ (Woratschka, S.14). Zum Sprachrohr macht sich auch die SPD-Fraktion im NRW-Landtag: „Wäre NRW dem Vorschlag der Bertelsmann-Stiftung gefolgt, wären die Kliniken jetzt überrannt worden“, sagte der gesundheitspolitische Sprecher der SPD im Landtag, Josef Neumann. https://www.wallstreet-online.de/nachricht/12295486-coronavirus-bertelsmann-stiftung-verteidigt-umstrittene-klinik-studie

[4] Es geht um die Studie zur Krankenhausbedarfsplanung: „Gutachten – Kurzfassung (KF): Krankenhauslandschaft Nordrhein-Westfalen“, Berlin im August 2019; Herausgegeben von PD – Berater der öffentlichen Hand GmbH, Friedrichstraße 149, 10117 Berlin. https://www.mags.nrw/pressemitteilung/gutachten-empfiehlt-grundlegende-reform-der-krankenhausplanung-nordrhein-westfalen

[5] PM der SPD-Fraktion vom 26.03.2020; https://www.spd-fraktion-nrw.de/news/lisa_kristin_kapteinat_josef_neumann_corona_krise_zeigt_moratorium_zur_krankenhausplanung_muss.html

[6] Siehe auch im OBSERVER Gesundheit am 11.11.2019 „Politische Analysen“: Dr. Robert Paquet: „NRW-Krankenhausplanung: Jetzt kommt’s drauf an!“

[7] Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit vom 8.1.2020

[8] Pressemitteilung der DKG vom 16.02.2020

[9] https://www.dkgev.de/dkg/presse/details/ende-einer-destruktiven-krankenhauspolitik/

[10] Wenn es nicht demnächst zu einer kollektiven (und internationalen) Blamage der Virologen in einer entscheidenden Frage wie z.B. der Übertragungswege oder der Immunisierung nach Erkrankung etc. kommt. Alles sehr unwahrscheinlich.

[11] Exemplarisch z.B. aufgezeigt in der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung“, Endbericht als BT-Drucksache 11/6380 vom 12.02.1990 sowie den ersten Gutachten des 1985 gegründeten „Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“. https://www.svr-gesundheit.de/index.php?id=6

[12] Thomas Petersen (Institut für Demoskopie Allensbach): „Gefahr für die Freiheit“, in FAZ vom 24. April 2020, Seite 8. – Zumal viele Bürger die Einschränkungen des Öffentlichen Lebens gar nicht so drastisch wahrnehmen, weil sie ohnehin nicht aktiv daran teilnehmen. Von Fußballspielen, Karnevalsveranstaltungen und dem Oktoberfest mal abgesehen. Den wer geht schon zu Demonstrationen, Kongressen, in die Oper oder ins Theater?

[13] So etwa der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder

[14] Stellungnahme im Spiegel vom 22.4.2020: https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/corona-daten-teilen-besser-heilen-sachverstaendigenrat-gesundheit-a-ed21193d-84cf-4765-a085-cca5de840078

[15] ABDA Pressemitteilung vom 27. April 2020: https://www.abda.de/aktuelles-und-presse/pressemitteilungen/detail/arzneimittelausgaben-waehrend-corona-pandemie-anstieg-im-maerz-und-rueckgang-im-april/

[16] ebenda

[17] Siehe FAZ vom 27.4.2020, „Spahn: Absatzgarantien für Impfstoff“, Seite 1

[18] Akkreditierte Labore in der Medizin – ALM e.V.: Pressemitteilung vom 21. April 2020. https://www.alm-ev.de/pressemitteilung/fachaerztliche-labore-sind-fuer-testung-nach-lockerung-der-kontaktbeschraenkungen-geruestet-kapazitaeten-sind-laengst-nicht-ausg.html

[19] Die PKV ist erst kürzlich dieser Finanzierung wieder beigetreten.

[20] BILD vom 24.4.2020, Seite 2

[21] So meint auch Jürgen Wasem im Interview der WELT vom 20.04.2020, Seite 4

[22] Siehe etwa: https://www.progenerika.de/presse/zahl-des-monats-februar/ und Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag vom 15.04.2020: „Dr. Georg Nüßlein: „System der Rabattverträge anpassen“

[23] Formulierungshilfe für die Fraktionen der CDU/CSU und SPD für einen aus der Mitte des Deutschen Bundestages einzubringenden „Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 20. April 2020

[24] DIE LINKE im Bundestag etwa stellt anlässlich der Corona-Krise erwartungsgemäß fest: „Privatisierung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen war falsch“, Pressemitteilung vom 30.03.2020, Statement von Klaus Ernst, wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.

[25] Christoph von Marschall im Leitartikel des Tagesspiegel vom 24. April 2020 auf Seite 1.

[26] Siehe Kommentar von Dr. Robert Paquet im OBSERVER Gesundheit vom 10.03.2020: „Lieferengpässe und Rabattverträge – Wie ist der Zusammenhang?“


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