Der digitale Gesundheitsmarkt: Empirie als bittere Pille?

Dr. Alexander Schachinger, Geschäftsführer von EPatient Analytics

Der Durchbruch ist geschafft. Der digitale Gesundheitsmarkt erreicht eine kritische Masse an Nutzern von Digital-Health-Anwendungen. Haben Gesetzgeber und Selbstverwaltung also alles richtig gemacht? Der Blick auf die aktuelle Marktsituation und ihre Nachfrage- und Angebotsseite zeigt sowohl Hürden wie auch mögliche Lösungen auf. Die Analyse ist eine empirische Basis – eine noch viel zu selten genutzte Ressource für Entscheidungen.

In der digitalen Gesellschaft ist die App vom Arzt à la Jens Spahn eine gute Idee. Dabei ist es müßig, über die vielen verlorenen Jahre auf dem Weg zur elektronischen Patientenakte (ePA) zu klagen. Ein internationaler Vergleich kann motivieren: In Dänemark ist das ePA-Pendant „sundhed“ schon länger aktiv. Derzeit nutzen von den 5,8 Mio. Dänen circa 0,25 Mio. täglich ihre Online-Akte. Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung ergibt sich daraus ein Potenzial von rund 3,5 Mio. Deutschen – wohlgemerkt: für die tägliche Nutzung. Dänemark hat für diesen Weg an die 17 Jahre gebraucht. Ich bin überzeugt: Wir schaffen das in Deutschland auch. Die Ergebnisse des aktuellen „EPatient Survey“ stimmen zuversichtlich: Immerhin 3,3 Mio. Deutsche (5 %) haben schon einmal die Online-Arztsprechstunde genutzt – mit steigender Tendenz – und knapp 10 Mio. Nutzer eine Diagnostik-App verwendet. Diese Hochrechnungen ergeben sich aus der repräsentativen Befragung für den EPatient Survey; dem etablierten Befragungs-Monitor für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), der 2020 methodisch neu aufgesetzt wurde mit dem Ziel repräsentativer Ergebnisse[1]. Die Botschaft aus diesen Zahlen: Willkommen auf dem digitalen Gesundheitsmarkt. Die Frage: Wie sieht dieser Markt aktuell aus? Schließlich ist der Markt für Gesundheits-Apps der Ort, an dem digitale Therapielösungen (Angebotsseite) auf Nutzer und Patienten treffen (Nachfrageseite).

 

 

Der digitale Gesundheitsmarkt: Folie 1

 

 

Der Markt und seine Besonderheiten

Die sogenannten „Early Adopter“ von Technikinnovationen sind seit Jahrhunderten in ähnlichen Mustern zu beschreiben. 1817 wurde in Deutschland offiziell das Fahrrad erfunden, und seine ersten Nutzer waren wohlhabende junge Städter. 203 Jahre später: Eine exemplarische Analyse der Nutzergruppen von Online-Arztsprechstunden offenbart Parallelen; etwa fünfmal so viele Nutzer mit Hochschulabschluss und eine zwei- bis dreimal stärkere Nutzung in größeren Ortschaften. Diese plakative Aussage hat allerdings eine Restriktion: Die Bundesregierung hat versagt bei dem Ziel, auch in der Provinz für Videosprechstunden schnelles Internet zu gewährleisten; die Infrastruktur beschränkt den Markt[2].

Eine interessante Erkenntnis aus dem EPatient Survey: Nicht alle digitalen Gesundheitsanwendungen folgen diesem Muster in ihren Nutzermilieus. Gerade Mess- oder Medikamenten-Apps sind auch bei chronischen Patienten aus bildungsferneren Schichten relativ gut verbreitet. Diese Patienten sind es gewohnt, sich mit „Hilfs-Geräten“ jeglicher Art auseinanderzusetzen, sei es aus dem Leidensdruck heraus oder schlicht aus der Notwendigkeit, Medizin-Geräte zu benutzen. Die Zahlen zeigen: Der Digital Health Markt entwickelt sich sehr ungleich und selektiv.

Dies zeigt auch ein anderes Beispiel: Der Besitz eines Smartphones ist nicht nur alters-, sondern eindeutig auch bildungsabhängig, womit wir zu einer zweiten Sondergruppe kommen: die Never-User. Harte Zahlen aus der Wirklichkeit: Personen über 70 Jahre mit Hochschulabschluss haben, je nach Quelle der Mediennutzungsforschung[3], zu 30-33 % ein Smartphone. Bei der gleichen Altersgruppe in den bildungsfernsten Schichten im Alter gilt das nur für 6-7 %. Das ergibt einen etwa fünffachen Unterscheidungsfaktor! Verdeutlichen lassen sich solche Beschränkungen am Beispiel der Indikation Herzinsuffizienz. Im Jahr 2020 ist nicht einmal ein Drittel der Patienten mit Herzinsuffizienz per mobiler Anwendung erreichbar[4]. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll: Jede digitale Versorgungstrategie, egal von welchem Player im Markt initiiert, braucht eine Analyse der digitalen Wirklichkeit seiner Zielgruppe. Andernfalls läuft jede Initiative Gefahr, von der Versorgungsstrategie zur PR-Kampagne zu verkümmern.

Der Blick auf den Markt lässt auch politische Schlussfolgerungen zu: Die digitale Schere durch die Bevölkerung und die Breitbandlöcher auf der Landkarte drohen eine digitale Zwei-Klassen-Medizin zu provozieren. Konzertierte, gemeinsam initiierte Public Health Initiativen könnten hier gegensteuern, fehlen derzeit aber völlig. Auch hier kann der internationale Vergleich motivieren: In den führenden Digital Health Ländern (z.B. den nordischen Staaten, Benelux oder Israel) sorgen Integrationsmaßnahmen dafür, dass sich digitale Lösungen verflechten, von der proaktiven SMS bis hin zu neuen ePA-Kompetenzen für die Mitarbeiter am Praxistresen.

 

Neue Trends zur Verbreitung

Digitale Güter bewegen sich häufig fernab der traditionellen Vertriebskanäle. Der zentrale „point of interest“ ist daher die Quelle, über die ein Patient eine DiGA bezieht. Strukturierte Marktanalysen seit 2014 zeigen: Es besteht bislang ein völlig dezentraler Flickenteppich aus Apps, Anbietern und Datenstandards. In Deutschland werden digitale Therapielösungen in unterschiedlichen Datenstandards entwickelt, und den Konzepten liegen oft verschiedene Versorgungs-Szenarien zugrunde. Die (entsprechend inkompatiblen) Ergebnisse landen in verschiedenen Werbe- und Vertriebskanälen, je nach den Patienten- oder Versichertenzielgruppen.

Darüber hinaus entstehen verstärkt kommerzielle, vertikal integrierte digitale Versorgungsprozesse, welche ebenfalls mit unterschiedlichen Standards Patienten einbinden wollen. Daraus könnte sogar Konkurrenz zur „offiziellen“ Telematik-Infrastruktur bzw. zur ePA entstehen. Die gesetzlichen Vorgaben, wie die Pflicht zur Anbindung der ePA, können dabei eine Lücke nicht schließen: Es fehlt an Orientierung aus und für die Praxis, an einer unvoreingenommenen Sicht auf die Marktwirklichkeit und letztlich auch an Absprachen. In diese Lücke könnten kommerzielle Systemanbieter stoßen mit eigenen Standards. Das wäre dann so, als ob alle miteinander telefonieren wollen und jeder seine eigene Telefonleitung baut – mit eigenem Kabelstandard.

Weiterhin zeigen die Marktdaten einen Trend: Die Nutzer suchen sich ihre Lösung immer weniger selbst im Netz, sondern erhalten diese verstärkt über Offline-Massenmedien, insbesondere über ihre Versorger vor Ort (Arztpraxis, Apotheke)[5]. Dies ist ein guter Trend, da die Patienten sich von ihren Behandlern vor Ort auch eine kurze Face-to-Face-Einführung in den Gebrauch einer Gesundheits-App wünschen. Gerade das kurze Erklären einer DiGA durch medizinisches Fachpersonal optimiert die Wirkung, nicht zuletzt weil dadurch die häufig dramatischen Abbruchraten gesenkt werden. Dies ist international erforscht[6]. Die koordinierte Einbindung des Nutzers einer DiGA dürfte auf absehbare Zeit der Flaschenhals für eine erfolgreiche digitale Versorgung sein. Die Wirklichkeit, wir nennen es „digitale Versorgungsszenarien“[7], ist aber auch hier heterogen. Politik und Gesundheitssystem haben diesen Schlüsseleffekt bisher wirklichkeitsfremd vernachlässigt. Nun richtet sich der kritische Blick zunehmend auf die Versorger vor Ort: Können sie der wachsenden Verantwortung für digitale Versorgungsformen gerecht werden?

 

 

Der digitale Gesundheitsmarkt: Folie 2

 

Der digitale Gesundheitsmarkt: Folie 3

 

Anbieter und Szenarien

Das Angebot an digitalen Gesundheitslösungen wächst seit wenigen Jahren exponentiell, sowohl in der Vielfalt als auch im Umfang. Die Vielfalt offenbart sich in kreativen Nischenlösungen und in der Art, wie sich DiGAs mit den traditionellen Leistungserbringern verflechten. Der wachsende Umfang zeigt sich an mehreren Kerngrößen, wie z.B. steigende Zahlen an Nutzern, Versorgungsverträgen oder auch an Werbeaktivitäten in Publikumsmedien. Ein Beispiel hierfür ist das Online-Reha-Programm „Caspar Health“, das seine Nutzerzahl im letzten Jahr von wenigen Tausend auf circa 100.000 steigern und die dreistellige Zahl an Versorgungspartnern (Reha-/Kliniken) fast verdreifachen konnte[8]. Andere Angebote sind öffentlich präsent. Startups wie Selfapy oder Care Care sind in der Prime-Time-Fernsehwerbung zu sehen, und der Anbieter für Online-Konsultationen Kry begegnet einem als Anzeige, ganzseitig in der Tageszeitung oder auf einem Straßenplakat.

Manch smarte Helfer schließen patientenorientiert die Servicelücken im Gesundheitssystem sogar auf Selbstzahler-Basis. Ein Beispiel hierfür ist Aporize, ein junges Startup aus Hamburg, welches seinen Nutzern einen Medikationsplan als App-Version bietet. Das Alleinstellungsmerkmal ist die persönliche Optimierung des digitalen Medikationsplans, eins zu eins vom Apothekenpersonal für jeden Patienten. Diagnostik-Apps wiederum können Leidensursachen beispielsweise für chronisch-entzündliche Magen-Darmerkrankungen erkennen und bieten so dem Nutzer die Möglichkeit, die Symptome erheblich zu reduzieren.

Schon lange vor dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) haben digitale Versorgungslösungen angefangen, sich ihre Marktnische zu suchen, in Form von GKV-Selektivverträgen, B2B-Geschäftsmodellen oder auch rein auf den Selbstzahlermarkt ausgerichtet. In einigen Patientensegmenten kann man sogar von einer steuernden Funktion der Angebote ausgehen. Beispiel MySugr:  Nach Gesprächen mit dem Hersteller vermuten wir, dass die Mehrheit der Diabetes Typ 1-Patienten schon die App MySugr nutzt. Beide Gruppen (sowohl die Anzahl der Diabetes Typ 1-Patienten in Deutschland, als auch die MySugr Nutzer) bewegen sich im unteren sechsstelligen Bereich. Das DVG dürfte die Verbreitung von Apps noch erheblich fördern.

 

 

Der digitale Gesundheitsmarkt: Folie 4

 

 

Die Lehre aus der Marktanalyse

Hersteller von DiGA, Kostenträger und Versorger laufen immer Gefahr, ihre digitale Versorgungsstrategie entweder in eine Sackgasse oder in ein gesättigtes Marktsegment zu steuern. Daher sollten die Akteure die Marktsituation rund um die Zielgruppe genau kennen. Auch bei den Weichenstellungen „Partnerschaft oder eigenes Produkt?“ bzw. „Netzwerkansatz oder Koordination komplementärer Lösungen?“ hilft eine auf die Nutzer bezogene Analyse des Marktes.

Der Gesetzgeber steuert mit „baby steps“ in die richtige Richtung, aber der digitale Markt ist hochdynamisch und stark fragmentiert. Der digitale Gesundheitsmarkt wächst und erinnert dabei eher an eine Wildnis als an einen englischen Garten. Ist das von Politik und Selbstverwaltung so gewollt? Die Debatte krankt nicht zuletzt an fehlender Kenntnis des Marktes. Neben Grundsatzdebatten braucht es mehr Empirie. Diese ist vorhanden.

 

[1] Siehe unter epatient-survey.de.

[2] Siehe exemplarisch: Breitbandatlas dem BMVI.

[3] Siehe exempl.: Bonfadelli: Medienwirkungsforschung, 6. Aufl. 2017.

[4] Quelle: EPatient Dashboard: Marktdaten für den digitalen Gesundheitsmarkt 2020: epatient-analytics.com/dashboard.

[5] Exemplarische Zahlen hierzu aus der Pressemitteilung zum 10. EPatient Survey 2020 unter epatient-analytics.com/aktuelles.

[6] Siehe exemplarisch: Talboom-Kamp et al: J Med Internet Res 2017;19(5):e185.

[7] EPatient Analytics verwendete diese Beobachtungsgröße seit 2014. Wir verstehen unter einem digitalen Versorgungsszenario den genauen Kontext und alle beteiligten Akteure, welche das Einbinden des Nutzers und das Funktionieren einer digitalen Versorgungslösungen gewährleisten (ebenso Geschäftsmodelle, Datenströme, Primär-/Peripherpartner u.w.).

[8] Siehe unter caspar-health.de.


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