Auf zu neuen Ufern: digitale Gesundheitsanwendungen im Digitale Versorgung-Gesetz

Sven Wunderlich

Der mit Spannung erwartete Gesetzgebungsvorschlag aus dem Bundesministerium für Gesundheit zu digitalen Gesundheitsanwendungen soll dafür sorgen, dass die Strukturen des deutschen Gesundheitssystems an die Dynamik der digitalen Transformation angepasst werden. Ein wesentlicher Bestandteil der Vorschläge zielt auf die Frage, wie digitale Gesundheitsanwendungen künftig rasch in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen werden sollen. Die Softwarehersteller werden das begrüßen. Was kommt auf die Ärzteschaft und die Versicherten der GKV zu?

Der Referentenentwurf vom 15.05.2019 für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale Versorgung-Gesetz, DVG) sieht einen neuen expliziten Leistungsanspruch der Versicherten auf digitale Gesundheitsanwendungen vor. Die Vorschrift wird weit vorne ins Sozialgesetzbuch (SGB V) eingefügt in einem neuen Paragraphen 33a. Umfasst sind digitale Gesundheitsanwendungen, die als Medizinprodukte mit niedriger Risikoklasse (Klasse I und Klasse IIa) auf dem Markt sind. Das amtliche Verzeichnis für diese Anwendungen nach einem ebenfalls neuen § 139e SGB V soll das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erstellen. Hersteller können die Aufnahme in dieses Verzeichnis beantragen. Mit der Aufnahme ist automatisch die Leistungspflicht der GKV begründet.

 

Digitale Gesundheitsanwendungen als eigenständiger Leistungsbereich

Damit wird eine grundsätzlich neue Leistungsart sozialrechtlich etabliert, für die die Regelungen zur Wirtschaftlichkeit, wie sie z. B. für die Verordnung von Arznei- und Heilmitteln gelten, außer Kraft gesetzt sind. Das ist bemerkenswert, da digitale Gesundheitsanwendungen eine äußerst heterogene Gruppe von Produkten sind. Das einzig Gemeinsame ist, dass sie aus Software bestehen und damit dem Bereich der Informationstechnologie zuzuordnen sind. Bei den Einsatzgebieten und medizinischen Zielen geht es um ein sehr weites Feld: Gesundheitsinformationen (z.B. Ratgeber bei bestimmten Krankheiten, Impfkalender), Förderung der Selbstwirksamkeit (z.B. Diabetestagebücher, Schlafüberwachung, Reminder für die Medikamenteneinnahme), aber auch Diagnostik- und Therapiesoftware fallen darunter (z.B. Muttermal-Apps, Insulin-Rechner, EKG-Erfassung, Online-Psychotherapie).

In der bisherigen Logik des Sozialgesetzbuches wäre vor Aufnahme in die Leistungspflicht der GKV zu prüfen gewesen, ob die medizinische Zielsetzung mit Mitteln eines digitalen Versorgungsangebotes besser oder zumindest gleich gut zu erreichen ist als mit den konventionellen Mitteln. Dieser strukturierten Bewertung werden die digitalen Versorgungsangebote entzogen. Es wird ein privilegierter Zugang in die Leistungspflicht geschaffen, der wesentlich niedrigere Anforderungen an den Nutzennachweis stellt und außerdem die leistungsrechtliche Abgrenzung zu Bedürfnissen des täglichen Bedarfs und zu Lifestyle-Anwendungen sehr großzügig gestaltet.

Das ist in etwa so, als ob man vor hundert Jahren zur Förderung der Elektrifizierung beschlossen hätte, alle elektrischen Anwendungen privilegiert in die Leistungspflicht der Krankenkassen aufzunehmen. So wäre z. B. eine elektrisch betriebene Knochensäge in der Chirurgie dann in jedem Fall besser befunden worden als eine Handsäge – unabhängig davon, ob sie wirklich präziser und schonender schneidet. Oder ein elektrisches Heizkissen hätte von den Kassen erstattet werden müssen, während eine Wärmflasche ein selbst zu bezahlendes Hausmittel geblieben wäre. Die Philosophie scheint zu sein, dass eine neue technologische Entwicklung in jedem Fall breit zum Einsatz gebracht werden soll.

 

Produkteliste erstellt vom BfArM

Hersteller müssen dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit dem Antrag auf Aufnahme in das Verzeichnis darlegen, dass Grundanforderungen an Sicherheit, Funktionstauglichkeit und Qualität erfüllt sind. Das wird in aller Regel als gegeben angenommen, wenn das Produkt ein entsprechendes CE-Kennzeichen trägt. Bei digitalen Gesundheitsanwendungen der Risikoklasse I kann sich der Hersteller das CE-Kennzeichen selbst und ohne Einschaltung einer externen Prüfung erteilen. Das ist für den Hersteller natürlich praktisch. Bei Produkten der Klasse IIa findet in aller Regel nur die Prüfung des generellen Qualitätsmanagementsystems der Herstellerfirma statt, aber keine eingehende Prüfung des einzelnen Produktes.

 

Positive Versorgungseffekte definiert vom BMG

Darüber hinaus sollen dann noch „positive Versorgungseffekte“ nachgewiesen sein. Der Rahmen für diese positiven Versorgungseffekte wird in der Begründung äußerst weit gesteckt: Es kann ein medizinischer Nutzen im Sinne einer therapeutischen Verbesserung sein. Der muss durch Fallberichte, Expertenmeinungen, Anwendungsbeobachtungen, Studien oder sonstige valide Daten nachgewiesen werden. Darüber hinaus werden aber auch Verfahrens- und Strukturverbesserungen in der gesundheitlichen Versorgung, die Förderung der Patienteninformation und Patientensouveränität, die Bewältigung krankheitsbedingter praktischer Schwierigkeiten u. ä. als mögliche Versorgungseffekte in Erwägung gezogen. Somit gilt die für die Bereiche Arzneimittel und Hilfsmittel gültige Abgrenzung zur privaten Lebensgestaltung und zu Lifestyle für digitale Gesundheitsanwendungen nicht.

Aber auch wenn nicht einmal solche „positiven Versorgungseffekte“ gezeigt sind, kann die vorläufige Aufnahme der Produkte auf die Erstattungsliste erfolgen. Voraussetzung ist, dass der Hersteller nach Vorgaben des BfArM eine zwölfmonatige Erprobung durchführt, wobei die Erprobung dann noch einmal um zwölf Monate verlängert werden kann. Das Nähere zu der Frage, was eigentlich „positive Versorgungseffekte“ sind, bestimmt das BMG in einer Verordnung. Die Formulierungen in der Gesetzesbegründung deuten auf sehr weiche Kriterien hin. Ebenso niedrig sind dann entsprechend der Anforderungen an die Erprobung.

 

Preisgestaltung und Kostenwirkungen

Die Krankenkassen müssen in den ersten zwölf Monaten den vom Hersteller geforderten Listenpreis bezahlen. Ab dem zweiten Jahr soll auf Grundlage der dann vorliegenden Erkenntnisse über die nachweisbaren positiven Versorgungseffekte ein angemessener Erstattungspreis zwischen GKV-Spitzenverband und dem Hersteller vereinbart werden. Das dürfte eine ungemütliche Aufgabe für den GKV-Spitzenverband werden. Da es keinerlei Vorgaben über den jeweiligen Vergleichsmaßstab gibt, ist eine solche Preisfestsetzung nach rationalen Kriterien kaum möglich. Pate für diese Regelung ist die Gesetzgebung zur Arzneimittelfrühbewertung (AMNOG). Dort erfolgt die Preisverhandlung auf Basis einer definierten zweckmäßigen Vergleichstherapie. Die konkrete Forderung nach einer Nennung einer konkreten konventionellen Vergleichsintervention zu den digitalen Gesundheitsanwendungen wird im Referentenentwurf aber gerade vermieden. Zuzahlungen oder eine finanzielle Eigenbeteiligung der Versicherten bei den gelisteten Produkten soll es auch nicht geben. Patienten, die selbst für lebensnotwendige Arzneimittel weiterhin Zuzahlungen leisten müssen, könnten das durchaus verwunderlich finden. Die Kostenwirkungen der Regelung insgesamt sind kaum abschätzbar, so dass man eigentlich mit lautem Protest der Krankenkassen rechnen sollte. Allerdings enthält der Gesetzentwurf auch einige Elemente, die die geplante Neuregelung attraktiv für die Kassen machen.

 

Krankenkassen als neue Player – und wer noch?

Die digitalen Gesundheitsanwendungen können entweder auf ärztliche Verordnung oder mit Zustimmung der Krankenkasse abgegeben werden. Das bedeutet, dass die Krankenkassen hier erstmals ganz explizit selber ihren Versicherten Therapieangebote machen und auch zur Verfügung stellen können. Der Arztvorbehalt in der medizinischen Versorgung der GKV gehört damit der Vergangenheit an. Die Grenzen zwischen therapeutischen Angeboten, Disease-Management, Kostenmanagement und Marketingaktionen der Kassen sind dabei fließend. Was wird der nächste Schritt der digitalen Transformation sein? Dass dann auch deutsche Ableger von Google & Co Leistungserbringer gemäß SGB V werden?

Der Weg ist schon vorgezeichnet: Es soll Krankenkassen erlaubt werden, zwei Prozent ihrer Finanzreserven bei Herstellern digitaler Innovationen zu investieren und somit selbst in die Produktentwicklung einzusteigen. Bei der derzeitig guten Finanzlage sind das immerhin einige 100 Millionen Euro an Beitragsgeldern, die auf diesem Weg in den Markt gepumpt werden können. Dadurch wird ein weiteres Problem entstehen: Die bisher geltende Trennung zwischen Entwicklung, Nutzenprüfung, Vermarktung und Entscheidung über die Leistungsgewährung bei Innovationen wird aufgehoben. Wird ein Krankenkassenvorstand so leicht zugeben, dass das Produkt, das mit finanzieller Unterstützung seiner Kasse bei einer „befreundeten“ Firma entwickelt worden ist, die Erwartungen nicht erfüllt? Oder wird die Kasse versuchen, ihr Investment in jedem Falle schön zu reden und die Leistung möglichst breit in die Erstattung zu bringen? Darüber hinaus entsteht ein neuer Interessenskonflikt. Krankenkassen wären am Gewinn von Herstellern beteiligt, sie haben schließlich ein Investment getätigt. Andererseits haben sie eigentlich ein Interesse daran, dass die Preise für die Produkte möglichst niedrig liegen und der Gewinn der Hersteller nicht in den Himmel wächst.

Der größte Schatz der Krankenkassen aus Sicht der Digitalindustrie sind die Versichertendaten mit allen Informationen über Diagnosen, erfolgte Behandlungen, Arzneimittel u.a. Auch der kann nun gehoben werden, denn zusätzlich zum finanziellen Engagement können Krankenkassen im Rahmen ihrer Kooperation mit Beteiligungsgesellschaften auch ihre versichertenbezogenen Daten auswerten (lassen). Wenn dabei mal was schiefgeht, wird der Vertrauensverlust in Folge eines Datenskandals bei einer Kasse die GKV insgesamt beschädigen.

Den Ärzten werden erstmal großzügige Honorare in Aussicht gestellt, nicht nur für die Apps, die sie selbst verordnet haben, sondern auch für die Beratung der Patienten zu den Apps, die die Krankenkassen selbst ausgeben haben. Das Gefühl, dass in unserem System nicht die Ärzte finanziell gut dastehen, die sich um die medizinisch relevanten Probleme der Patienten kümmern, wird sich dadurch weiter verstärken.

 

Worum geht es wirklich?

In der Gesamtschau werden in diesem Vorschlag Grundstrukturen deutlich, wie sie auch in früheren Gesetzesinitiativen des Gesundheitsministeriums erkennbar sind. Zum einen soll die gemeinsame Selbstverwaltung aus Krankenkassen und Leistungserbringern entmachtet und die Entscheidung über die Aufnahme von neuen Leistungen der GKV in staatliche Hände gegeben werden: bei den neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in die des Bundesministeriums für Gesundheit (Siehe Observer Gesundheit), bei den digitalen Gesundheitsanwendungen in die einer nachgeordneten Bundesbehörde wie des BfArM. Zum anderen werden die konkreten Anforderungen an Nutzennachweise und Wirtschaftlichkeit drastisch heruntergefahren mit dem Ziel, schnell neue Produkte zu Lasten des Beitragszahlers in den Markt zu bringen. Ob das am Ende den Patientinnen und Patienten nutzt, schein nicht so entscheidend zu sein. Oder es wird zumindest als von vornherein gegeben und selbstverständlich vorausgesetzt, so dass es auch keiner vertieften Überprüfung bedarf.

Das Muster bleibt somit das gleiche: Es geht um Wirtschaftsförderung auf Kosten des Beitragszahlers. Das medizinische Risiko tragen die Kranken. Gesundheitspolitik verliert ihre sozialstaatliche Fundierung und wird zum bloßen Instrument der Wirtschaftspolitik.


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