Desaströse Situation bei der Pflege mit Sofortmaßnahmen begegnen

Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (bpa)

Eigentlich müsste die Politik im Panikmodus sein. Zehntausende Pflegebedürftige sind unversorgt, Familien sind massiv überfordert, und die Zahl der Pflegefachkräfte steigt nicht mehr an, während der Bedarf unaufhörlich weiterwächst. Aber wer die Absicherung der pflegerischen Versorgung auf der Tagesordnung im Bundeskabinett sucht, wird enttäuscht.

Der Bundeskanzler hat noch nicht begriffen, wie der Angebotsmangel in der Langzeitpflege längst den Arbeits- und Wirtschaftsstandort Deutschland beeinträchtigt, und der zuständige Minister kämpft um Kiffer-Clubs.

Dabei gibt es kein Erkenntnisdefizit: Niemand konnte vor einem Jahr die Schock-Umfrage übersehen, in der fast 70 Prozent der bpa-Mitgliedseinrichtungen von ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten berichtet haben. Seitdem häufen sich die Berichte über Insolvenzen und den stillen Kapazitätsabbau, wenn vollstationäre Einrichtungen aufgrund des Personalmangels nicht mehr voll belegt werden können oder ambulante Dienste ihre Touren zusammenstreichen. Diese besorgniserregende Entwicklung vernichtet nach jahrelangem Wachstum zum ersten Mal pflegerische Infrastruktur in Deutschland.

 

Kein Aufschrei der Gesundheitspolitiker

Der Aufschrei der Gesundheitspolitikerinnen und -politiker bleibt aus, und die Kolleginnen und Kollegen aus dem Arbeits- und Wirtschafsressort verstehen erst langsam den Zusammenhang zwischen pflegerischer Versorgung und Wohlstand. Alle haben begriffen, dass (oftmals) Frauen in Teilzeit gehen, wenn Kitaplätze fehlen. Gleiches gilt aber auch für den Bereich der Pflege: Wer keinen Pflegedienst für seine Mutter oder keinen Heimplatz für seinen Vater findet, reduziert die eigene Berufstätigkeit oder gibt seinen Job ganz auf. Willkommen im Land des zunehmenden Arbeitskräftemangels in allen Branchen. Und wenn das Versprechen auf eine sichere Versorgung im Alter nicht mehr gilt, schwindet auch das Vertrauen in die Politik massiv weiter.

Die Gründe für die desaströse Lage sind eine toxische Mischung aus dem fortschreitenden Personalmangel, aus schleppendem und oft realitätsfernem Verhandlungsgebaren der Kostenträger und längst zusammengeschrumpften Möglichkeiten der Pflegebedürftigen, überhaupt professionelle Leistungen im notwendigen Umfang nachzufragen. Diesen drei Problemstellungen muss also mit konkreten und vor allem endlich einmal wirksamen Sofortmaßnahmen umgehend entgegengewirkt werden.

Der Personalmangel wurde nicht zuletzt durch die Einführung der generalistischen Pflegeausbildung beschleunigt. Nachdem in den zehn Jahren zuvor ein Zuwachs von über 60 Prozent bei den Ausbildungszahlen in der Altenpflege beobachtet werden konnte, wurde dieser wichtige Jobmotor durch die Zusammenlegung der Pflegeausbildungen abgewürgt. Das Statistische Bundesamt errechnete im letzten Jahr ein Minus von 7 Prozent.

Warum eigentlich wurde eine solche Erfolgsgeschichte wie die Altenpflegeausbildung beendet? Hier war in der Rückschau viel Ideologie am Werk, die wir als Gesellschaft gerade teuer bezahlen. Es gilt also, diese Entwicklung nun kritisch und faktenbasiert auf den Prüfstand zu stellen. In keinem Fall aber ist der Bedarf einer steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen ohne massive Zuwanderung in die Berufe der Langzeitpflege zu decken. Hier haben sich einige Bundesländer bereits in Richtung der von uns vor Jahren schon vorgeschlagenen One-Stop-Anerkennungszentren aufgemacht, die Verfahren dauern jedoch noch immer viel zu lang. Wer hierherkommt, um uns bei der Bewältigung des demografischen Wandels zu unterstützen, wird mit einem „Defizitbescheid“ ausgebremst und anschließend monatelang, wenn nicht sogar jahrelang auf die Ersatzbank geschickt, bis alle Stempel zusammen sind. Sehr deutsch.

 

Verhandlungen mit Kostenträgern von Misstrauen geprägt

Wir brauchen stattdessen eine Kompetenzvermutung, die den Überprüfungsprozess für internationale Pflegekräfte komplett umdreht: Wer eine entsprechende dreijährige Ausbildung und die passenden Sprachkenntnisse hat, muss sofort als Fachkraft in Deutschland arbeiten dürfen. Ein eventuell notwendiger Vergleich der Ausbildungsinhalte kann im Nachgang erfolgen, während sich diese dringend benötigten Kräfte längst kompetent um pflegebedürftige Menschen kümmern können. Auch Digitalisierungs- und Technisierungsprozesse müssen in Pflegeeinrichtungen endlich strukturell und finanziell abgesichert und damit befördert werden, weil mehr Personal allein die enormen Bedarfe und Herausforderungen nicht schultern kann und diese Entlastungen dringend brauchen. Noch stehen die Kostenträger dabei jedoch auf der Bremse.

Die Verhandlungen mit den Kostenträgern sind überhaupt nach wie vor oft von Misstrauen geprägt und lassen es schon aufgrund der langen Prozesse kaum zu, die massiven Kostensteigerungen in nahezu allen Bereichen der Pflege in angemessener Zeit abzubilden. Hier müssen Vereinfachungen gesetzlich verbrieft werden, damit die wichtige Arbeit der Pflegeeinrichtungen wieder angemessen refinanziert wird.

Und zuletzt muss die Pflegeversicherung schlicht ihr Versprechen wieder erfüllen, pflegebedürftige Menschen vor Armut zu schützen und die Betroffenen in die Lage versetzen, die Versorgung im angemessenen Umfang nachzufragen. Das ist längst nicht mehr der Fall, weil die minimalen Anpassungen der Leistungen aus der Pflegeversicherung den Kostenanstieg der letzten Jahre nicht annähernd ausgleichen. Also kürzen Pflegebedürftige die ambulante Versorgung oder den Besuch in der Tagespflege und erleben in der vollstationären Pflege, wie kurz nach einem langen Arbeitsleben der Weg in die Sozialhilfe sein kann. Das muss sich ändern.

 

Lasten der pflegerischen Versorgung neu verteilen

Mit einer korrekten, sachbezogenen Verteilung der finanziellen Lasten könnte die Bundesregierung Milliardenentlastungen für die Pflegeversicherung ermöglichen. Notwendig ist ein einmaliger Kostenausgleich, der die Leistungen der Pflegebedürftigen den erheblich gestiegenen Kosten adäquat anpasst, sowie eine jährliche sachgemäße Dynamisierung der Sachleistungsbeträge. Zudem muss die Bundesregierung die Lasten der pflegerischen Versorgung im Rahmen der aktuellen Möglichkeiten neu verteilen, indem die Kosten den Systemen zugeordnet werden, die grundsätzlich dafür zuständig sind: 2 bis 3 Mrd. Euro jährlich für die medizinische Behandlungspflege in vollstationären Pflegeeinrichtungen müssen durch die Krankenkassen übernommen werden, ca. 3 Mrd. Euro jährliche für die soziale Absicherung der Pflegepersonen (u.a. Rentenpunkte für pflegende Angehörige) sowie ein zweistelliger Millionenbetrag jährlich für Förderbeträge u.a. für Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf müssen aus Steuermitteln bestritten werden.

Für die Herausnahme der Ausbildungskosten aus den Eigenanteilen der Pflegebedürftigen muss endlich die entsprechende Passage aus dem Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen umgesetzt werden. Mit diesen Verschiebungen würde die Pflegeversicherung um mehrere Milliarden jährlich entlastet. Damit könnten Pflegebedürftige schnell und spürbar deutlich höhere Leistungsbeträge erhalten.

Mehr Personal, schnellere und auskömmliche Refinanzierungen sowie eine Anpassung der Leistungen für Pflegebedürftige – das ist der Dreiklang, mit dem Versorgung gesichert, Arbeitskräftepotential in anderen Branchen gestärkt und damit Wohlstand sowie das Vertrauen in das pflegerische Versorgungssystem bewahrt werden können.


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