Über eine sprachlich und inhaltlich entgleiste Debatte

Lauterbachs Weihnachtswünsche oder das „Politikum MVZ“

Susanne Müller, Geschäftsführerin Bundesverband Medizinische Versorgungszentren (BMVZ)

„Profitorientierte Ketten von Arztpraxen feiern wahrscheinlich ihr letztes schönes Weihnachten. Schon bald kommt das Ende.” Diesen Satz twitterte der Bundesgesundheitsminister am 25. Dezember 2022, nachdem zuvor ein „Bild“-Interview erschienen war. Dort wurde bereits in der Überschrift thematisiert, dass „er Profitgier in Arztpraxen verbieten“ wolle – ein ministerielles Paradebeispiel dafür, wie sehr die MVZ-Debatte seit einiger Zeit emotional und inhaltlich überfrachtet wird.

Im Gespräch mit der „Bild“ beschreibt Karl Lauterbach einen „fatalen Trend“ zu „absurden Profitzielen“ und „unnützer Behandlung in schlechter Qualität“ und erklärt, dass er zeitnah ein regulierendes Gesetz vorlegen wolle. Auf gerade 150 Wörter, mit denen er dieses Thema berührt, kommen dabei zwölf Superlative (maximaler Gewinn) oder abwertende Begriffe (Discountermedizin, Heuschrecke).

Das MVZ als neuartige Praxisstruktur weckt von jeher abwehrende Emotionen. Dies, kurz gesagt, auch deshalb, weil sich in ihm schlichtweg alle Elemente vereinen, die den aktuellen Wandel der ambulanten Versorgung (und der Medizin im Allgemeinen) versinnbildlichen. MVZ machen so unmittelbar sichtbar, was das Heute von der „guten alten Zeit“ unterscheidet: Trend zu Anstellung und Teilzeit, Aufteilung zwischen ärztlicher und kaufmännischer Verantwortung, Wertewandel der Ärzteschaft, Einbindung neuer Akteure, usw. Suggeriert wird dabei einerseits, wenn man nur genügend Verbote erließe, ließen sich diese Trends wieder umkehren. Andererseits wird in beständiger Wiederholung behauptet, dass nicht-ärztliche MVZ-Betreiber in unlauterer Weise ausschließlich auf ihre Rendite schielen und daher – wahlweise – zu viel, zu wenig oder nicht den Qualitätsstandards entsprechend behandeln. Dass also Patienten, die solche MVZ-Praxen aufsuchen, prinzipiell in Sorge sein sollten, falsch betreut zu werden.

 

Gefühlte Evidenz verunsichert Patienten

Fast ließe sich von einem MVZ-Mobbing reden, dessen erstes Opfer fatalerweise vor allem verunsicherte MVZ-Patienten sind, wenn ihnen jetzt auch der Bundesgesundheitsminister via „Bild“ erklärt, dass sie „unnütz“ und „schlecht“ behandelt werden. Als Belege reichen in der Regel die anekdotische bzw. gefühlte Evidenz oder – aktuell gern herangezogen – die durch die KV Bayerns im Kontext ihrer „Versorgungsanalyse zu MVZ im Eigentum von Finanzinvestoren“ in die Welt gesetzte Behauptung, dass „in investorengetragenen Medizinischen Versorgungszentren …  die abgerechneten Honorarvolumina deutlich über denen in anderen MVZ [liegen].“ (Quelle: Pressemitteilung der KVB, 7. April 2022) – während eben diese Versorgungsanalyse an mehreren Stellen belegt, dass „der Träger, der am ehesten mit konstant höheren Honorarvolumina assoziiert ist, … die Vertragsärzte“ seien. (IGES-Gutachten vom April 2022 für die KV Bayerns (Kurzfassung), Seite 18).

Aber was kümmern schon komplexe Fakten und differenzierte Betrachtungsweisen bei einer Debatte, die vor allem davon lebt, dass grundlegende Angsttrigger angesprochen werden: Die Sorge nämlich, als Patient in systematisch und durch Krankheit zusätzlich schlechter Position hilflos einem Gesundheitswesen ausgeliefert zu sein, dem nur die eigenen Gewinne am Herzen liegen – in Steigerungsform übrigens Gewinne, die als Rendite ins (nichteuropäische) Ausland abfließen; als ob aus Patientensicht besser wäre, würde die angenommene reine Renditeorientierung stimmen, wenn selbige in Deutschland verbliebe!?

 

Unterstellungen gegen Ärzte

Einfach alles an der Debattenführung zu MVZ als Politikum weist auf die emotionale und inhaltliche Überfrachtung eines Themas hin, dessen grundlegende Sorgen dagegen durchaus berechtigt sind. Natürlich müssen wir uns als Gesellschaft regelmäßig neu die Frage stellen, ob es Fehlentwicklungen gibt oder ob regulative Bremsen eingezogen werden müssen, um solche für die Zukunft zu verhindern. Und ja, auch mehr Strukturtransparenz wäre wichtig. Aber die Art und Weise, wie die Debatte gerade um MVZ geführt wird, belegt vor allem die starken Abwehrmechanismen des Ärzteverbandswesens, die von der Politik aufgegriffen werden, die aber tatsächlich deutlich vom Verhalten der Ärzte als Individuen abweichen.

Zum Jahreswechsel 2022/23 gibt es in der Humanmedizin rund 4.500 MVZ mit etwa 30.000 Ärzten und Psychotherapeuten, sowie 1.400 Zahn-MVZ mit geschätzt 5.500 Zahnärzten. Etwa 1.100 Zahnärzte und gut 2.000 Vertragsärzte sind zudem gleichzeitig Inhaber eines MVZ. Weshalb sich mit Fug und Recht behaupten lässt, dass es insbesondere die Ärzte selbst sind, die – über alle Trägerschaften hinweg – die MVZ-Entwicklung vorantreiben. Kein Investor könnte ein MVZ eröffnen oder betreiben, wenn nicht Vertrags(zahn)ärzte ihre Zulassung in selbiges einbringen oder sich Kollegen finden lassen, die die Arztsitze besetzen.

Anteilig gilt derzeit, dass ambulant rund 18 % der Ärzte, 7 % der Zahnärzte und 3,5 % der Psychotherapeuten in einem MVZ arbeiten; zumeist angestellt. Wieso in diesem Kontext den in MVZ tätigen Ärzten, insbesondere natürlich den Kollegen in MVZ nicht-ärztlicher Träger, implizit unterstellt wird, reihenweise ihre Integrität als Mensch und Mediziner abzugeben, sobald sie durch die MVZ-Tür schreiten und MVZ-Patienten behandeln, erschließt sich dem sachlich-neutralen Beobachter nicht.

 

Qualität, Versorgung und Effizienz statt Scheinheiligkeit und Stammtischparolen

Und so ist die Kernfrage nicht, wie man „das Kapital“ möglichst aus dem Versorgungsmarkt raushalten kann, sondern wie die Qualität und Effizienz der Breitenversorgung unabhängig von der Trägerschaft kontrolliert und sichergestellt werden kann. In dieser Debatte besteht allerdings eine gewisse Scheinheiligkeit. Es wird vorausgesetzt, dass niedergelassene Ärzte in ihrer Doppelfunktion als Arzt und Unternehmer – und im Gegensatz zu nichtärztlichen Trägern – das wirtschaftlich Notwendige jederzeit und widerspruchsfrei mit dem ethisch Richtigen vereinen könnten.

In dieser Sichtweise wird jedoch unterschlagen, dass alle früheren und gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Vergütung ärztlicher Leistungen ausschließlich von den wirtschaftlichen Interessen der „nicht-gewerblichen“ Vertragsarztpraxen und dem Status eines jeden Praxisinhabers als Unternehmer geprägt sind.

Vielleicht wäre daher gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, einmal grundsätzlich und strukturübergreifend über Qualitätssicherung, Flächenversorgung und Effizienzreserven in der ambulanten Versorgung zu reden? Eventuell entpuppte sich die Fokussierung der Debatte auf die mit weniger als ein Prozent Versorgungsanteil eher kleine Gruppe der „investorengetragenen MVZ“ dann als das, was eingangs schon beschrieben wurde: Die emotional gesteuerte Abwehr einer Gestaltungsvariante, die aufgrund ihrer Besonderheiten einfach greifbar macht, was aus Prinzip in jeder Arztpraxis angelegt ist: den beständigen und grundsätzlichen Widerspruch zwischen Ethik und Monetik? Was das betrifft, waren die drei Regierungspartner jedenfalls vor einem Jahr bei Abfassen des Koalitionsvertrages bereits deutlich weiter, als der Bundesgesundheitsminister in seinem aktuellen, offensichtlich stammtischorientierten Weihnachtsinterview.

 

Lesen Sie zu diesem Thema auch:

Martin Degenhardt: „Wo hört patientenzentrierte Behandlung auf, wo fängt profitorientierten Behandlung an“, Observer Gesundheit, 9. Mai 2022,

Dr. Robert Paquet: „MVZ-Zukunftsmodell oder Opfer von Private Equity, (2.Teil)“, Observer Gesundheit, 14. Januar 2021,

Dr. Robert Paquet: „MVZ-Zukunftsmodell oder Opfer von Private Equity, (1.Teil)“ , Observer Gesundheit, 12. Januar 2021.


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