Der Sozialstaat ist ökonomisch vernünftig

Buchbesprechung zu Hartmut Reiners: „Die ökonomische Vernunft der Solidarität – Perspektiven einer demokratischen Sozialpolitik“

Dr. Robert Paquet

Die Finanzierung von Kranken- und Pflegeversicherung steckt – für jeden sichtbar – in der Krise. Eine grundsätzliche Diskussion über die möglichen Lösungen wäre dringend erforderlich. Trotzdem hat sich die Ampel schon vor den eigentlichen Koalitionsverhandlungen zu diesem Thema einen Maulkorb verpasst. Dabei geht die Auseinandersetzung z.B. zur „Bürgerversicherung“ untergründig weiter. Andererseits wird das System der Umlagefinanzierung generell kritisiert.

Schlagworte wie Kapitaldeckungsverfahren, Generationengerechtigkeit, Umstellung auf eine generelle Steuerfinanzierung, Staatsfonds und Grundeinkommen etc. flattern durch die Debatte. Welche Alternativen sind realistisch? Das Buch von Hartmut Reiners[1] ordnet die Argumente und zeigt ihren theoretischen (und ideologischen) Hintergrund. Im Ergebnis bricht er eine Lanze für die Weiterentwicklung der solidarischen Sozialversicherungssysteme.

 

Einleitung

In der Lehrbuchökonomie kommen die Sozialabgaben im Allgemeinen nur als lästiger Kostenfaktor vor. Dass die sozialen Sicherungssysteme aber inzwischen auch ökonomisch zu einer Funktionsbedingung entwickelter Marktwirtschaften geworden sind, wird meist verkannt. Nach Reiners ist das Steigen der Sozialquote daher keine „Kostenexplosion“, sondern Ausdruck des Strukturwandels zur Dienstleistungsgesellschaft. Vor allem Kranken- und Pflegeversicherung seien längst über die Rolle von Einkommenstransfer-Agenturen hinausgewachsen. Sie finanzieren und organisieren wachsende Wirtschaftsbereiche.

Die ersten drei Kapitel drehen sich um die Frage, wie der Sozialstaat in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie im öffentlich-politischen Diskurs behandelt wird. In den folgenden vier Kapiteln weist der Autor am Beispiel der großen Lebensrisiken (Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit und Pflegebedürftigkeit) jeweils nach, dass „Systeme der Privatassekuranz“ nicht in der Lage wären, die erforderliche Stabilisierungsleistung für unsere Volkswirtschaft zu erbringen. Dabei wird der „erhebliche Reformbedarf“ unserer Sozialsysteme zwar nicht ganz ausgeblendet, aber in der Darstellung leider nur sehr grob umrissen (z.B. 14, 108).

 

Wirtschaftswissenschaften und Sozialsysteme

In der politischen Ökonomie war und ist der Sozialstaat umstritten. In der Einleitung erklärt Reiners: „Die in der akademischen Lehre dominierende neoklassische Ökonomik kann mit der Sozialpolitik wenig anfangen“ (9)[2]. Im ersten Kapitel „Die Ökonomen und der Sozialstaat“ zeigt er, dass viele Denkfiguren der klassischen Ökonomie schon für sich genommen fragwürdig sind, jedoch immer wieder gegen den Sozialstaat in Stellung gebracht werden (Homo oeconomicus als Nutzenmaximierer etc.). Hier das Beispiel von „Moral Hazard“, bei dem die Ökonomen von folgendem Theorem ausgehen: „Zwar sei es im Interesse aller, sich solidarisch zu verhalten. Da jedoch die einzelnen Gruppenmitglieder befürchten müssten, dass die jeweils anderen sich eigennützig verhalten und damit Vorteile verschaffen, verhalten sie sich selbst auch so, um nicht zu den Benachteiligten zu gehören“ (22)[3]. Gegen diese Annahme wendet Reiners zu Recht ein, dass etwa medizinische Behandlung kein „erstrebenswerter Genuss“ sei, von dem man nicht genug bekommen könnte. Demzufolge sei auch der Versuch, hier mit „Eigenbeteiligungen“ zu steuern fruchtlos: Entweder sie seien hoch und wirkten dann gesundheitsschädlich und sozial diskriminierend, oder sie seien niedrig und wirkungslos (25f.).

Auch das Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ tauge nicht zur Fundierung des modernen Wohlfahrtsstaates (32). Denn nach Ludwig Erhard sollten die Sozialversicherungen „auf untere Einkommensschichten beschränkt bleiben und ihre Aufgaben [sollten] mit steigender wirtschaftlicher Kraft auf Privatversicherungen übertragen werden.“ (34). Später sei auch die „Agenda 2010“ der rot-grünen Koalition dem neoliberalen Argumentationsmuster gefolgt und habe vor allem das Ziel gehabt, die Sozialabgaben auf 40 Prozent der Bruttolöhne zu begrenzen (35). Mit der „Sozialbremse“ sei man (insbesondere) bei der Rente auf das von „Medienintellektuellen“ wie Frank Schirrmacher (FAZ) „verbreitete Menetekel des ‚Methusalem-Komplotts‘ “ hereingefallen. So meint Reiners sehr vereinfachend. Eine steigende Sozialquote mag dabei in produktivitätsorientierten Gesellschaften durchaus verkraftbar sein. Die umstandslos positive Bewertung eines sinkenden Altenquotienten (arbeitende Bevölkerung zu Personen im Ruhestand) und „überproportional steigender Sozialausgaben“ (38/39) erscheint dann doch etwas überzogen.

 

Ideologie und die Strukturveränderungen der Sozialpolitik

Um die ökonomischen Zusammenhänge wabern „Ideologien“ (2. Kapitel). Zumal Sozialpolitik im Zusammenhang mit der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit steht. Dabei gehe es „eher um eine Stimmung als um einen klar definierten Sachverhalt“, meint Reiners (40). Dann setzt er sich u.a. mit dem Sozialstaatskritiker Sloterdijk auseinander, streift John Stuart Mill’s Utilitarismus (Maximierung des Gesamtnutzens einer Gesellschaft als Prinzip der sozialen Wohlfahrt) und stellt mit Rawls die Frage nach einem Kriterium der sozialen Gerechtigkeit (53). Er erklärt das Subsidiaritätsprinzip der Katholischen Soziallehre und unterstützt Nell-Breuning: Der postuliere, dass der Staat auch dafür zu sorgen habe, „dass die Menschen sich eigenverantwortlich verhalten können“. Damit wendet er sich gegen die „Vereinnahmung des Subsidiaritätsprinzips durch marktwirtschaftliche Ideologien“, die den Sozialstaat auf ein Minimum beschränken wollen (59).

Auch die Linken werden kritisch gesehen: Karl Marx werde von ihnen oft zum „Säulenheiligen“ der sozialen Gerechtigkeit ausgerufen, sei aber in Wahrheit „kein Prophet einer sozialistischen Gesellschaft“ gewesen (60). In seiner Theorie des Kapitalismus habe er den Wohlfahrtsstaat bestenfalls in zarten Ansätzen antizipieren können (63). Reiners wendet sich auch gegen Rosa Luxemburg, die die Entwicklung des Sozialstaats als Verrat am Ziel einer Revolution der Gesellschaft kritisiert hat (64f.). Die Linken der 70er Jahre hätten das aufgegriffen und den Sozialstaat als „Herrschaftsinstrument des Kapitals“ gesehen, der nur die Verfügbarkeit der Arbeitskraft sicherstellen“ soll (66)[4]. Auch Rawls‘ „Differenzprinzip“ (sozial gerecht ist, was die Lage der am schlechtesten Gestellten verbessert) sei noch zu sehr dem Utilitarismus verhaftet[5] (72). Erst Armatya Sen komme mit seinem Konzept der „Verwirklichungschancen“ an die Analyse moderner Wohlfahrtsstaaten heran. Am Schluss des Ideologie-Kapitels schiebt der Autor selbst die recht abstrakte Theorie-Debatte um soziale Gerechtigkeit zur Seite und erklärt: „Aber die Organisation des modernen Sozialstaats legitimiert sich weniger aus moralischen Prinzipien, sondern mehr aus ökonomisch rationalen Problemlösungen“ (74).

In gewisser Weise setzt das dritte Kapitel die Auseinandersetzung mit (aktuellerer) Ideologieproduktion fort, entwickelt dabei aber auch die Klärung bestimmter wesentlicher Elemente moderner Wohlfahrtstaaten. Seit den 60er und 70er Jahren hätten sich die Institutionen des Sozialstaats immer mehr „auf fast die gesamte Bevölkerung“ erstreckt (75). Gegen Ende der 70er Jahre habe aber auch eine neue Phase des Sozialabbaus und der Sozialstaatskritik eingesetzt. „Die veralteten Strukturen der Sozialbehörden waren dabei ein nützlicher Anknüpfungspunkt“ der Kritiker (77). Der Sozialstaat war schon längst nicht mehr ausschließlich durch Einkommenstransfers und Armenhilfe charakterisiert. Durch die zunehmende Bedeutung der Dienstleistungen (vor allem bei Gesundheits- und später auch Pflegeleistungen) habe „das Bedarfsprinzip gegenüber dem Äquivalenzprinzip an Bedeutung gewonnen“ (78). Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat müsse daher auf einer Theorie des „sozialen Wandels“ beruhen und sich mit dem ökonomischen Phänomen der „erheblichen Ausdehnung nicht marktmäßig gesteuerter Produktionssektoren“ beschäftigen (79). Sozialpolitik werde dadurch immer mehr zu einem „Teil der Infrastrukturpolitik“ (81).

In diesem Zusammenhang bedauert Reiners zu Recht, dass die Wissenschaftler, die sich überhaupt noch mit dem Sozialstaat beschäftigt haben, dafür keine „ökonomische Begründung“ entwickelt hätten (ebenda). Er entlarvt Heiner Geißlers „neue soziale Frage“ als parteipolitische Kampagne (86) und kritisiert die Vertreter der Frankfurter Schule (Offe, Habermas etc.). Sie hätten in den 80er Jahren die „Krise des Sozialstaats“ auf eine überholte „arbeitsgesellschaftliche Utopie“ zurückgeführt; daher seien auch seine Institutionen nicht mehr zeitgemäß (88). Das hatte – so Reiners – eine gewisse Nähe sogar zu Gorz‘ Mega-These vom „Ende der Arbeit“ (89). In der Auseinandersetzung mit Ulrich Becks Konzept der (globalen) „Risikogesellschaft“ und Reckwitz‘ Individualisierungs-Konzept hält Reiners fest: „Invalidität, Alterung, Arbeitslosigkeit und Krankheit verschwinden nicht mit dem Wachstum individueller Freiheiten. … Die konkreten Anforderungen an den Sozialstaat haben sich über die Jahre geändert, aber nicht seine prinzipielle Notwendigkeit“ (93/94). Die von den genannten Autoren aufgegriffenen Phänomene (z.B. „Abstiegsgesellschaft“) seien nicht neu und sprächen eher für einen weiteren Ausbau des Sozialstaats als für seinen Rückbau. Zum Teil seien sie die Folge der „in den westlichen Volkswirtschaften seit den 1980er Jahren betriebenen Deregulierung der Märkte und der Privatisierung der sozialen Infrastruktur“ (99). Im Ergebnis müsse man (mit Eduard Heimann) „Sozialpolitik als konservativ-revolutionäres Doppelwesen“ sehen (106). Und: Die „ökonomischen Vorteile des Sozialstaats gegenüber einer privaten Risikoabsicherung müssen in den Vordergrund der politischen Debatte gerückt werden“ (77). Dieses Arbeitsprogramm wird in den folgenden Kapiteln für die großen Sozialversicherungszweige umgesetzt.

 

Arbeitslosigkeit

Reiners zeigt erstens (am Beispiel eines etwas bizarren Vorschlags von Friedrich Breyer et al.), dass Arbeitslosigkeit kein privat versicherbares Risiko ist. Das auch deshalb, weil es hier längst nicht mehr nur um den Ausgleich von Einkommensverlusten geht, sondern um die Flankierung des wirtschaftlichen Strukturwandels (115), die viele weitere Funktionen der Arbeitslosenversicherung erfordert (Vermittlung, Qualifikation, Kurzarbeitergeld etc.). Auch in diesem Sozialversicherungsbereich zeige sich die – gegenüber den reinen Transferzahlungen – zunehmende Dienstleistungskomponente. In diesem Zusammenhang geht Reiners der Frage nach, ob ggf. ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ die Arbeitslosenversicherung ersetzen könnte (130). Die damit verbundene Idee „der generellen Befreiung von Erwerbsarbeit“ habe jedoch „aus nachvollziehbaren Gründen wenig Akzeptanz bei denen, die es aus ihrem Arbeitseinkommen finanzieren müssten.“ Es würde die Einkommensdisparitäten weiter verschärfen und den unteren Einkommensgruppen nicht helfen, die mittleren nicht entlasten, und die Besserverdienenden würden es nicht benötigen (134). Letztlich spricht auch bei Reiners dagegen, dass es nicht finanzierbar wäre. Schließlich kommt noch eine konkrete Kritik an den Hartz-Reformen: „Mit dem Grundsatz ‚Fördern und Fordern’ wurde nicht mehr die Qualifizierung als zentrale Aufgabe der Arbeitsbehörden verstanden, sondern der Druck auf die Arbeitslosen in den Fokus gerückt, sich selbst einen neuen Job zu suchen“ (138).

 

Soziale Sicherheit im Alter

Bei der Alterssicherung geht es gleich kritisch los: Die Politik der rot-grünen Koalition habe sich „primär an den Lohnkosten und der Beitragssatzstabilität in der Sozialversicherung [orientiert] und nicht an der Sicherung eines menschenwürdigen Lebens im Alter.“ Die Riester-Rente sei nicht als Ergänzung, sondern als Ersatz für die Kürzung der gesetzlichen Renten eingeführt worden (142). Trotzdem (oder gerade deshalb) müsse die gesetzliche Rente verteidigt werden, auch weil sie regelmäßig mit der allgemeinen Lohnentwicklung dynamisiert werde (147). Kritisiert werden hier die privilegierten Sondersysteme der Beamtenversorgung und der sog. berufsständischen Versorgungswerke. Zwischen ihnen und der gesetzlichen Rentenversicherung finde kein Finanz- bzw. Risikoausgleich statt. Selbst innerhalb dieser Systeme gebe es keinen Sozialausgleich (151). Auch die betriebliche Altersvorsorge sei selektiv und unzureichend. Die private Altersvorsorge habe an Attraktivität eingebüßt (Niedrigzinspolitik) und auch der Riester-Boom habe sich abgeflacht (154/155). Das neue „Bürgergeld“ sei ein „weiterer Schritt in der allgemeinen Tendenz, dass an den Arbeitseinkommen orientierte Sozialversicherungssystem durch staatlich finanzierte Grundsicherungssysteme zu ersetzen“ (157).

Die Frage, ob die demographische Entwicklung die Rentenversicherung überfordert, beantwortet Reiners mit einem klaren: Nein! Und einer Gegenfrage: Bei der Finanzierung gehe es nicht um das ob, sondern um das wie. Durch die zunehmende Privatisierung der Alterssicherung würden die „Ressourcen für die Renten nicht vermehrt, sondern zulasten der unteren und mittleren Einkommen“ neu verteilt (158). Reiners‘ Lösungsperspektive zeugt von einem bemerkenswerten Optimismus: Der Arbeitskräftebedarf sei „noch stets durch Migrationsbewegungen befriedigt worden.“ Entscheidend für die Tragfähigkeit der Rentenversicherung sei „die Wirtschaftskraft“ und nicht die Zahl der nachwachsenden Bevölkerung (159). Die Bevölkerungsvorausberechnungen seien „substanzlose Zahlenspielerei“ (160). Das ist sehr selbstgewiss geurteilt und man fragt sich unwillkürlich: Wo haben wir denn eine überzeugende Migrationspolitik in Deutschland, geschweige denn eine auf Produktivität und Effizienz ausgerichtete wirtschaftspolitische Strategie?

Dann kommt das starke Argument gegen die Kapitaldeckung und für das Umlagesystem: „Die mit der Riester-Rente vor 20 Jahren begonnene Umstellung der Alterssicherung vom Umlageverfahren auf kapitalgedeckte Systeme beruht auf der Vorstellung, eine Volkswirtschaft könne die Kosten der Altersversorgung von morgen bereits heute mit einer Art Sparbuch finanzieren“ (162). Dieser Idee des schwäbischen Gewerkschaftsfunktionärs[6] (und später auch der schwäbischen Hausfrau) stellt Reiners das sog. Mackenroth-Axiom entgegen, nach dem „aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss“ (163). Hinzu komme die Unzuverlässigkeit der Finanzmärkte, deren Krise sich z.B. 2008 verheerend auf die kapitalgedeckten Pensionsfonds ausgewirkt habe (165). Insoweit schließt sich Reiners der Feststellung des britischen Ökonomen Nicholas Barr an: „Aus wirtschaftlicher Sicht ist der demographische Wandel kein gutes Argument zugunsten kapitalgedeckter Systeme“ (168). Generationenbilanzen seien deshalb „unsinnig“. Die von Ökonomen wie Bernd Raffelhüschen berechnete „implizite Verschuldung“ geht ja von der hypothetischen Konstruktion des gesamten Systems als kapitalgedecktem Fonds aus. Solche Berechnungen hätten „demagogische Züge“ (ebenda). Dem ist entgegenzuhalten, dass sie doch eine gewisse Indikator-Funktion für die künftigen Herausforderungen der Sozialsysteme haben. Auch die als Alternative in Frage kommende Beitragssatzerhöhung, die ja stets eine Verringerung des verfügbaren Einkommens bedeutet, dürfte von den Zahlungspflichtigen keineswegs bejubelt werden.

Zur weiteren Perspektive stellt Reiners fest, das deutsche System der Alterssicherung basiere „zwar nach wie vor auf dem solidarischen GRV-System, aber seit der Agenda 2010 befindet es sich auf dem Weg in ein steuerfinanziertes Grundsicherungssystem“ (177). Ein wirklicher Stopp auf diesem Weg könne nur durch die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in das solidarische System (nach österreichischem Vorbild) und durch den konsequenten Abbau der Sonderrechte für bestimmte Personenkreise erreicht werden (178). Trotz höherer Leistungen (als in Deutschland) habe das österreichische System mit einem seit 30 Jahren unveränderten Beitragssatz von 22,6 Prozent aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive „ein deutlich höheres Maß an Effizienz und Effektivität als das deutsche Drei-Säulen-System“ (180). Insgesamt widersprächen die „Schuldenbremse“ und das „Dogma“ der Sozialabgabengrenze von 40 Prozent der „ökonomischen Vernunft“ (182f.).

 

Krankenversicherung – privat oder GKV?

Der Wandel der sozialen Sicherung sei in der Krankenversicherung am deutlichsten spürbar. Einstmals schwerpunktmäßig für das Krankengeld zuständig, seien die Krankenkassen inzwischen die „Steuerungszentrale eines dynamischen Wirtschaftszweiges“, der fast sechs Millionen Menschen beschäftige. „Dadurch hat unser Krankenversicherungssystem einen völlig anderen Charakter als die übrigen Zweige der sozialen Sicherung“ (184). „Mittlerweile entfallen fast 40 Prozent des Sozialbudgets auf soziale und gesundheitliche Dienste, mit einer weiter steigenden Tendenz“ (ebenda). Steigende Gesundheitsausgaben seien daher „keine Kostenexplosion, sondern ein normaler ökonomischer Vorgang, weil ärztliche und pflegerische Behandlungen ein geringeres Rationalisierungspotential haben als die industrielle Produktion von Konsumgütern“ (ebenda).

Es folgt eine kritische Beschreibung des „dualen Krankenversicherungssystems“ in Deutschland, mit einer positiven Bewertung des Gesundheitsfonds und des Risikostrukturausgleichs zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Dadurch gebe es in der GKV eine problemlose Wechselmöglichkeit (die z.B. den Service-Wettbewerb zwischen den Kassen fördere); in der PKV seien die Versicherten dagegen (faktisch) lebenslang an das einmal gewählte Versicherungsunternehmen gebunden (194). Ebenfalls positiv bewertet wird die „Selbstverwaltung auf zwei Ebenen“, einerseits in den Kassen selbst und andererseits durch die Institutionen, die gemeinsam mit den Leistungserbringern die Steuerung leisten (Gemeinsamer Bundesausschuss, Bewertungsausschuss etc.). Es sei von Vorteil, dass z.B. die Vergütung der Kassenärzte nicht „regierungsamtlich“ festgelegt werde (197). Durch die ungleiche Machtverteilung zwischen Patienten und Professionellen im Gesundheitswesen bedürfe es „Anreiz- und Kontrollsysteme“ um einer angebotsinduzierten Nachfrage gegenzusteuern. Hier gebe es für die GKV die verpflichtende Orientierung auf die evidenzbasierte Medizin und verschiedene Mechanismen der Qualitätssicherung, die in der PKV völlig fehlten (201).

Wegen der geringen Rationalisierbarkeit von Dienstleistungen steigen die Kassenbeiträge stärker als das BIP (202). Das dürfe nicht als Wohlfahrtsverlust wahrgenommen werden, sondern sei die solidarische Finanzierung eines gesellschaftlichen Dienstleistungsangebots, das es ohne die Sozialversicherung in dieser Form gar nicht gäbe. Trotzdem gebe es das paradoxe Gefühl, „private Gesundheitsausgaben dürfen steigen, öffentliche aber nicht“ (206). Dabei würden mit der Verlagerung von Gesundheitsausgaben von der GKV in die privaten Haushalte „zentrale Steuerungsinstrumente zur Eingrenzung der Gesundheitsausgaben und der Qualitätssicherung“ preisgegeben[7] (ebenda). So sei etwa die ambulante ärztliche Behandlung der Privatversicherten um 50 Prozent teurer als die der GKV-Versicherten. Außerdem habe die PKV weit höhere Verwaltungskosten als die GKV. Es zeige sich somit, dass die GKV „deutlich effektiver und effizienter strukturiert ist als die PKV“ (213).

In der Perspektive plädiert Reiners für ein einheitliches Krankenversicherungssystem, das aber bisher wegen eines „Geflechts aus umstrittenen Rechtsfragen und ökonomischen Interessen“ nicht zustande gekommen sei (215). Das Beihilfesystem der Beamten habe jedoch keinen Verfassungsrang. „Knackpunkt“ sei vor allem die Frage, „wie mit den Alterungsrückstellungen der PKV verfahren werden soll“ (216). Außerdem will Reiners endlich die Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen umsetzen und die Krankenhausfinanzierung reformieren. Mehr als Stichworte dazu kann es in diesem Buch nicht geben.

 

Risiko Pflegebedürftigkeit

Die Pflegeversicherung sei 1995 unter hohem „Kompromisszwang“ gegründet worden. Aus diesem Grunde sei – trotz einheitlichem Leistungskatalog – das „duale System“ der Krankenversicherung in der Pflege reproduziert worden. Auch hier gehe es um die Organisation einer großen und wachsenden Dienstleistungsbranche. Kritisch wird von Reiners gesehen, dass (wegen des Versagens der kommunalen Steuerung und Investitions-Finanzierung) die stationäre Pflege zu „einem Geschäftsfeld von Pflegeketten“ geworden sei, die von Kapitalfonds finanziert werden (230). Die Einführung der neuen Pflegegrade sei bedarfsgerecht gewesen. In der Perspektive schließt sich Reiners den Berechnungsergebnissen von Rothgang an, der zeigt, dass „an einer Anhebung des Beitragssatzes zur SPV kein Weg vorbeiführt, wenn man die Versorgung in der Langzeitpflege in angemessener Qualität sicherstellen will.“ Das stoße wiederum auf das „Dogma“ der 40 Prozentgrenze für die Sozialabgaben. Die „ökonomisch rationale Lösung des Problems“ wäre auch hier die Bürgerversicherung (237).

 

Fazit

Zum Abschluss gibt es einen Appell: Moderne Gesellschaften brauchen „soziale Sicherungssysteme nicht nur für Notfälle, sondern als dauerhafte, den Alltag der Menschen begleitende Einrichtungen.“ Auch dieser Teil der öffentlichen Infrastruktur sei in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt worden. Es gebe daher eine wachsende Diskrepanz zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum. In jedem Fall werde man sich auf eine weiter wachsende Sozialleistungsquote einstellen müssen (240). Um Altersarmut zu verhindern und den Investitionsstau und die Reformblockaden im Gesundheitswesen aufzulösen, brauche man aber mehr: Eine deutliche Erweiterung der Finanzierungsbasis in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Die Ausweitung der Sozialversicherungssysteme sei hier die bessere Alternative gegenüber dem (kaum finanzierbaren) (weiteren) Umstieg auf eine Steuerfinanzierung der Sozialleistungen. Die Privatisierung der sozialen Sicherung und der Umstieg auf eine Kapitaldeckung der Sozialsysteme würde erst recht keinen Beitrag zur Lösung der Probleme leisten. Für einen echten Perspektivwechsel müssten jedoch die beiden Dogmen („Schuldenbremse“ und 40 Prozentgrenze) aufgegeben werden. Es gehe – wie es bereits in der Einleitung hieß – nicht um die Zahlungsfähigkeit, sondern um die Zahlungsbereitschaft (15). Und hier liegt das Problem.

 

Bewertung

Reiners liefert eine klare Darstellung der Probleme der Sozialsysteme und überwiegend sinnvolle Reformvorschläge. Das politische Problem ist, warum das den Betroffenen und der Mehrheit der Bevölkerung nicht unmittelbar einleuchtet. Warum gibt es nicht die breite Zustimmung? Ist das Verblendung? Das liegt sicher auch an der Wahrnehmung vieler Institutionen der sozialen Sicherung als bürokratisch und nicht service-orientiert. Bei der Rentenversicherung und bei den meisten Krankenkassen hat sich hier in den vergangenen Jahrzehnten zwar viel zum Positiven gewendet. Bei Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und z.B. in Sachen Wartezeiten in der ambulanten ärztlichen Versorgung hat es jedoch oft den Anschein, als würden unzureichende und nicht mehr zeitgemäße Strukturen finanziert. Im Gesundheitswesen ist z.B. der Investitionsstau auch für den „normalen“ Bürger sichtbar. Und wird nicht auch verschwendet? Wer ist dafür verantwortlich? Haben wir gleichzeitig Über- und Unterversorgung? Was sind die Prioritäten? Die Bewertung von Lösungsansätzen ist schon für Fachleute nicht einfach[8]. Die Probleme sind komplex. Der Hinweis von Reiners auf die soziale Diversifizierung, die zu widersprüchlichen Bewusstseinsformen führe (89), ist zwar richtig, bringt aber nicht wirklich weiter.

Die Skizzen zum Reformbedarf in den Sozialsystemen (und vor allem im Gesundheitswesen) sind sehr holzschnittartig. Ganz zu schweigen von der leidigen Übergangsproblematik in Richtung auf die mehrfach als Lösung vorgeschlagene Bürgerversicherung: Wenn man allein die Kontroversen sieht, die der zaghafte Ansatz einiger Länder auslöst, die Beamten in die GKV zu integrieren! Aber hier ausführlicher zu werden, hätte wohl das Format des Buches gesprengt.

Manchmal fragt man sich auch, ob die neoliberalen Ökonomie-Professoren und Sozialstaatskritiker von Reiners nicht ein wenig als politische Pappkameraden aufgebaut werden, die leicht abgeschossen werden können. Es gibt sie aber wirklich: Dann kommt gerade ein Raffelhüschen um die Ecke, mit seinen Selbstbeteiligungsmodellen und Vorschlägen zur pauschalen Leistungskürzung. Als unbefangener Beobachter könnte man den Eindruck haben: Wie gerufen! Gerade als die Bundesregierung in Sachen Zukunft der GKV- und Pflegefinanzierung einen Offenbarungseid leisten muss, bietet der Springteufel aus Freiburg dem Gesundheitsminister die Vorlage für populäre Beteuerungen: Mit mir keine Leistungskürzungen und Zuzahlungen! Nur solidarische Beitragssatzerhöhungen. In diesem (mit Hilfe der BILD noch vergröberten) Ping-Pong-Spiel wird leider jede Überlegung zu sinnvollen Steuerungs- und Reformmaßnahmen in der Gesundheitsversorgung im Keim erstickt.

Wie dem auch sei: Wer in Sachen soziale Gerechtigkeit aus der Gefühligkeit raus will, findet bei Reiners gute Gründe: Solidarität ist ökonomisch rational. Der Sozialstaat ist „vernünftig“.

 

[1] Hartmut Reiners: „Die ökonomische Vernunft der Solidarität – Perspektiven einer demokratischen Sozialpolitik“, Promedia Verlag, Wien 2023. ISBN 978-3-85371-516-1, 272 Seiten, 23 Euro, Edition Makroskop.

[2] Zu bedauern ist in den Wirtschaftswissenschaften seit den 1980er Jahren ein Abbau von Lehrstühlen, die sich mit Sozialpolitik beschäftigen.

[3] Das wurde – wunderschön verschroben – schon vor 50 Jahren im Titel von Müller-Groeling, H. so ausgedrückt: „Kollektivgutproblematik und Isolierungsparadoxon in der Krankenversicherung“, in: Külp, B./Stützel, W. (Hrsg.): Beiträge zu einer Theorie der Sozialpolitik, Festschrift für Liefmann-Keil, Berlin 1973, S. 63.

[4] Neben Müller und Neusüß 1970 auch z.B. Wolf Wagner: Die nützliche Armut“ (Rotbuch Verlag, Berlin 1982) mit dem Bild der (zur Disziplinierung) „umgestülpten“ Hängematte.

[5] Der Lieblingsphilosoph von Karl Lauterbach.

[6] Walter Riester, in Kaufbeuren (im Bayerischen Schwaben) geboren, war vor allem IG-Metall-Funktionär in Baden-Württemberg.

[7] Ein rares Gegenbeispiel ist die „Privatisierung“ der Kosten für Brillengestelle, die zu einem massiven Preisverfall geführt hat (Stichwort Fielmann).

[8] Man erinnert sich mal wieder an das Theaterstück von Thomas Bernhard „Einfach kompliziert“.

 

Hartmut Reiners: „Die ökonomische Vernunft der Solidarität – Perspektiven einer demokratischen Sozialpolitik“, Promedia Verlag, Wien 2023. ISBN 978-3-85371-516-1


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