07.11.2023
Innovative Zell- und Gentherapien auf dem Vormarsch
Ist Deutschlands Gesundheitssystem ausreichend vorbereitet?
Thomas Stranzl
Dr. Thorsten Pisch
Zell- und Gentherapien zählen zu den derzeit vielversprechendsten medizinischen Innovationen. Sie machen eine Chance auf Heilung möglich, wo bisher oftmals nur palliative Maßnahmen eingesetzt werden konnten: Schon wenige (im besten Fall nur eine) Anwendungen führen zu einer lebenslangen Wirkung.
Sie werden klassifiziert als Advanced Therapy Medicinal Products (ATMPs) – eine innovative Form von Arzneimitteln für die Anwendung beim Menschen, die auf Genen, Geweben oder Zellen basieren.[1] ATMPs haben das Potenzial, die Therapielandschaft zu revolutionieren: Dadurch, dass sie direkt an der Krankheitsursache ansetzen, beispielsweise einem Gendefekt, einer Zellmutation oder einer spezifischen Zellstruktur, können Erkrankungen im Idealfall dauerhaft unter Kontrolle gebracht oder sogar geheilt werden.[2] Für chronische und schwerkranke Patientinnen und Patienten eröffnen sich dadurch komplett neue Perspektiven.
Erwarteter Anstieg von Arzneimitteln für neuartige Therapien
Das Potenzial von ATMPs ist schon seit Jahrzehnten bekannt: In Südkorea wurde Anfang 2002 die erste Zelltherapie, Chondron, zugelassen. Allerdings haben Therapien dieser Art in den USA erst 2010 und in der Europäischen Union (EU) im Jahr 2015 erstmalig eine Zulassung erhalten.[3] Seit etwa fünf Jahren nimmt die Anzahl der zugelassenen ATMPs stark zu. Auch die Forschung hat sich rasant entwickelt. Bis Ende Juni 2021 fanden nach Angaben der Alliance for Regenerative Medicine (ARM) mehr als 2.600 klinische Studien weltweit in diesem Bereich statt.[4] Inwieweit sich diese Aktivitäten in neuen zugelassenen Therapien niederschlagen werden, lässt sich nur schwer vorhersagen.
Laut einer Prognose von Economist Impact wird die Anzahl der zugelassenen Gen- und Zelltherapien bis 2030 insbesondere in den USA, aber auch in Europa weiter stark wachsen: Für die EU wird in diesem Zeitraum eine Verdreifachung von derzeit knapp 20 auf etwa 60 zugelassene Zell- und Gentherapien erwartet.[5] Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass ATMPs in Zukunft auch in Indikationen mit einer größeren Patientenpopulation angewendet werden. Derzeit sind viele ATMPs für die Behandlung von seltenen Erkrankungen oder von bisher unheilbaren Krankheiten bestimmt. Dieser Schwerpunkt wird sich im Laufe der Zeit potenziell verlagern und häufigere Erkrankungen, wie Krebserkrankungen an soliden Tumoren, Herzkrankheiten und neurodegenerative Erkrankungen werden in den Mittelpunkt rücken.
Vielfältige Herausforderungen für das deutsche Gesundheitssystem
Die Möglichkeit der lebenslangen Kontrolle einer Erkrankung durch eine einzige oder nur wenige Verabreichungen eines Arzneimittels ist ein Novum in der pharmazeutischen Therapie. Sie stellt daher nicht nur das medizinische Versorgungssystem, sondern auch Zulassungs- und HTA[6]-Behörden sowie Krankenkassen vor neue, große Herausforderungen. Die komplexen und zeitintensiven Herstellungs- und Behandlungsprozesse sowie mögliche Nebenwirkungen stellen besondere Hürden dar. Dementsprechend sind eine umfassende Qualitätssicherung und ein engmaschiges Patientenmanagement während des gesamten Behandlungsprozesses eine notwendige Grundlage, um maximale Sicherheit für die Patientinnen und Patienten zu garantieren.[7]
Zudem unterscheiden sich die klinischen Studien bei ATMPs von denen herkömmlicher Therapien hinsichtlich der Studien-Heterogenität und der erforderlichen Beobachtungsdauer für aussagekräftige Daten zu Wirksamkeit, Sicherheit und langfristigem Nutzen. Es muss eine Balance zwischen schneller Zulassung, d.h. einem schnellen Zugang zu neuartigen Therapien, und der Forderung nach einer guten Evidenzlage gefunden werden.[8] Außerdem werden ATMPs derzeit vorwiegend bei seltenen Erkrankungen in späteren Therapielinien eingesetzt, wodurch häufig nur eine sehr begrenzte Patientenzahl in Frage kommt, denen zudem oft nur noch eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung steht. Dies schränkt die Möglichkeiten bei der Studienkonzeption und -durchführung erheblich ein.
Auch für die bestehenden Preisfindungs- und Erstattungssysteme stellen ATMPs eine Herausforderung dar. Die Kosten für eine einzige Behandlung können im Bereich von mehreren Hunderttausend bis über eine Million Euro liegen.[9] Diese hohen Kosten können verschiedene Gründe haben. Häufig ist eine einzige Anwendung für eine sehr langfristige oder potenziell heilende Wirkung ausreichend. Aufgrund der langfristigen Wirkung können diese Einmalbehandlungen Gesundheitskosten, über einen längeren Zeitraum betrachtet, sogar senken. Diese mögliche Kostenersparnis ist jedoch in Deutschland nicht Teil der HTA-Bewertung bzw. wird aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen (bspw. Jahrestherapiekosten als Bezugsgröße bei Nutzenbewertung und Preisfindung) nicht in den Kalkulationen der zuständigen Behörden oder der Kostenträger abgebildet.
Geschwindigkeit, Effizienz und Flexibilität der jeweiligen Regulierungs- und Erstattungssysteme sind entscheidend, wenn es darum geht, den Patientinnen und Patienten möglichst schnell, nachhaltig und sicher Zugang zu diesen Therapieoptionen zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das deutsche Gesundheitssystem auf diese Anforderungen in ausreichendem Maß vorbereitet ist und welche weiteren politischen und strukturellen Anpassungen mittel- und langfristig zur Sicherstellung der Versorgung notwendig sind.
Deutschlands Vorreiterrolle beim Zugang zu Zell- und Gentherapien
Deutschland gilt als Vorreiter, wenn es um die Geschwindigkeit beim Zugang zu Arzneimitteln für neuartige Therapien und die Schaffung der strukturellen Voraussetzungen für ihren Einsatz geht. Neue Zell- und Gentherapien kommen schnell und sicher bei den Patientinnen und Patienten an.[10] Deutschland belegt damit Platz eins im europäischen Vergleich. In Frankreich oder Italien liegen zwischen Zulassung und Erstattungsentscheidung bei Arzneimitteln für seltene Erkrankungen im Schnitt 18,6 bzw. 19,5 Monate – Zeit, die für schwerkranke Menschen einen enormen Unterschied ausmacht.[11] Derzeit stehen in Deutschland 16 Zell- und Gentherapien zur Verfügung, wobei mit sechs zugelassenen Therapien den größten Anteil sogenannte CAR-T-Zelltherapien ausmachen (Stand: Juli 2023).[12]
Grundlage für einen raschen Zugang zu komplexen, innovativen Therapien ist ein effizienter Zulassungsprozess auf EU-Ebene, der etwaige Besonderheiten, bspw. bei der Studienplanung, anerkennt. Mit der Einführung der bedingten Zulassung (conditional marketing authorisation)[13] und des Committee for Advanced Therapies (CAT) im Rahmen der europäischen Zulassung von Arzneimitteln wurden frühzeitig Institutionen geschaffen, die es ermöglichen, die Eigenschaften von ATMPs bedarfsorientiert zu berücksichtigen. Ein weiterer Grund für den bisherigen Erfolg Deutschlands ist die Tatsache, dass neu zugelassene Medikamente den Patientinnen und Patienten ab Tag eins nach der Zulassung zur Verfügung stehen und erstattet werden.
Das deutsche Versorgungssystem besitzt zudem die technischen, personellen und institutionellen Kapazitäten, um eine schnelle, zielorientierte und sichere Überführung neuer, komplexer Therapien in die Versorgungspraxis sicherzustellen. Mit der ATMP-Qualitätssicherungs-Richtlinie[14] hat der G-BA ein Instrument entwickelt, das von den jeweiligen spezialisierten Zentren umgesetzt wird, um so die Sicherheit der Patientinnen und Patienten umfassend zu gewährleisten.
Dennoch gibt es auch im deutschen Versorgungssystem noch Defizite, insbesondere mit Blick auf den erwarteten Anstieg der Anzahl neuartiger Therapien. Beispielsweise können eine Ausweitung von Neugeborenen-Screenings und kürzere Anpassungszyklen bei relevanten Leitlinien dazu beitragen, Zell- und Gentherapien, die neu in die Versorgung kommen, zielgerichtet zu den Patientinnen und Patienten zu leiten, die am meisten davon profitieren. Auch die Erstattung von hochpreisigen, einmalig zu verabreichenden Arzneimitteln, stellt für die bestehenden Strukturen eine Herausforderung dar. Die Abrechnungspraktiken der Kliniken und Krankenkassen sind auf die Preisstruktur von Zell- und Gentherapien bisher nicht ausreichend eingestellt. Zur langfristigen Sicherstellung der Erstattung dieser innovativen Therapien können alternative Erstattungsmodelle einen wichtigen Beitrag leisten. Solche Modelle beinhalten in der Regel eine Art Verteilung der Zahlungen über einen längeren Zeitraum, eine ergebnisbasierte Zahlung (outcome-based) oder eine Risikoteilung (risk-sharing) abhängig von den Behandlungsergebnissen. Allerdings fehlt es für eine flächendeckende Anwendung bisher an standardisierten Verträgen und Evaluationsverfahren.
Den wohl größten Beitrag zur Vorbereitung des deutschen Gesundheitssystems auf die Herausforderungen einer steigenden Zahl neuartiger Therapien können einheitliche, gut vernetzte und leicht zugängliche Registerdaten leisten. Sowohl für die Zulassung als auch für die frühe Nutzenbewertung und für innovative Erstattungsmodelle bieten behandlungsbegleitende Daten und Real World Evidence (RWE) die Grundlage einer nachhaltigen und umfassenden Integration von Zell- und Gentherapien in die Versorgungslandschaft. Daher geht die Bundesregierung mit einem Gesetz zur Vereinheitlichung und Vernetzung sowie zur Verbesserung des Zugangs zu Registerdaten einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung.
Politische Handlungsempfehlungen
Trotz der hervorragenden Ausgangssituation und der positiven Anzeichen für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems bzgl. der Integration neuartiger Therapien schwebt ein Schatten über der Zukunft der Versorgung mit Zell- und Gentherapien in Deutschland, der die Errungenschaften bei der Versorgung mit ATMPs aufs Spiel setzt: Die mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz im November 2022 neu eingeführten Leitplanken für die Preisverhandlungen im Rahmen des AMNOG-Verfahrens haben das Potenzial, den Markteintritt neuer Arzneimittel nachhaltig zu stören. Das Gesetz verfolgt das Ziel, Arzneimittelpreise über die Zeit zu senken, auch wenn das neue Medikament besser ist als alternative Therapieoptionen – also ein Zusatznutzen nachgewiesen werden konnte (siehe Infobox).
Eine neue Zell- oder Gentherapie, die einen geringen Zusatznutzen belegen kann, aber potenziell kurativ ist, darf keine höheren Kosten für die GKV verursachen als eine dauerhaft eingesetzte herkömmliche Therapie. Das entspricht weder der Logik des AMNOG, einen zusätzlichen Nutzen für die Patientinnen und Patienten entsprechend zu honorieren, noch können Hersteller zu diesen Preisen die aufwändigen Forschungs- und Herstellungsprozesse finanzieren.
Wenn neue Zell- oder Gentherapien aufgrund fehlender Flexibilität im System nicht mehr entsprechend ihrer speziellen Wirkstruktur vergütet werden können, haben Hersteller in Zukunft keine Möglichkeit, die Therapien in Deutschland den Patientinnen und Patienten zur Verfügung zu stellen. Damit das deutsche Gesundheitssystem auf die kommenden Zulassungen vielversprechender Zell- und Gentherapien bestmöglich vorbereitet ist, muss dieser Fehler so schnell wie möglich korrigiert und den beteiligten Akteuren der notwendige Handlungsspielraum zurückgegeben werden.
Noch kann die Bundesregierung rechtzeitig gegensteuern und das deutsche Gesundheitssystem bei der Integration und Weiterentwicklung innovativer Therapieoptionen wieder auf einen zukunftsorientierten Weg bringen. Auf Grundlage der identifizierten Anforderungen an Gesundheitssysteme bei der Integration von Zell- und Gentherapien und der Ausgangslage in Deutschland lassen sich sechs Thesen zur Stärkung der Vorreiterrolle Deutschlands beim Zugang zu neuartigen Therapien formulieren, die sich an Entscheidungsträgerinnen und -träger in der Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung richten:
- Um die Besonderheiten neuartiger Therapien bei der frühen Nutzenbewertung adäquat berücksichtigen zu können, muss für die beteiligten Akteure der Selbstverwaltung ausreichend Handlungsspielraum bestehen. Die mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz eingeführten AMNOG-Leitplanken müssen zurückgenommen werden.
- Für eine rasche und sichere Integration von Zell- und Gentherapien in die Versorgungspraxis sollten Patientenpfade klar definiert werden und innovative Therapieoptionen so schnell wie möglich in den jeweiligen Leitlinien Berücksichtigung finden, bspw. durch kürzere Aktualisierungszyklen.
- Bei neu zugelassenen Zell- und Gentherapien zur Behandlung genetischer Erkrankungen sollte regelhaft geprüft werden, ob eine frühzeitige Krankheitsdiagnose im Rahmen eines Neugeborenen-Screenings sinnvoll und umsetzbar ist.
- Registerdaten müssen zuverlässig erhoben und zur Verbesserung der Versorgung den relevanten Akteuren zur Verfügung gestellt werden. Interoperabilität zwischen den derzeit ca. 400 deutschen medizinischen Registern ist dabei ein Schlüsselkriterium.
- Damit Zulassungs-, HTA- und Erstattungssysteme von Real World Evidence profitieren können, müssen den Teilnehmenden verständliche und übersichtliche Einwilligungsverfahren, z.B. Broad-Consent-Einwilligungen, ermöglicht und bundesweit einheitliche Regelungen der Primär- und Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten geschaffen werden.
- Alternative Erstattungsmodelle müssen erprobt und anschließend systematisch bei den Krankenkassen integriert werden. Dafür sind standardisierte Verträge und Dokumentationsprozesse notwendig, auf die alle Krankenkassen und pharmazeutische Unternehmen zugreifen können.
[1] Schüßler-Lenz, M.; Scherer, J. und Müller-Berghaus, J.: Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP): Ankunft in der Versorgung. In: Pharmakon, 10. Jg, 337-343, 5/2022. DOI: 10.1691/pn.20220034.
[2] Economist Impact, 2022. URL: https://impact.economist.com/perspectives/health/cell-and-gene-therapies-health-system-progress-moving-cutting-edge-common-practice.
[3] Ebd.
[4] Alliance for Regenerative Medicine. Regenerative medicine in 2021: A year of firsts and records. In: Alliance for Regenerative Medicine, 2021. URL: http://alliancerm.org/wp-content/uploads/2021/08/ARM-H1-2021-Report.pdf.
[5] Economist Impact, 2022.
[6] HTA: Health Technology Assessment
[7] Onko-Internetportal: Fragen und Antworten zur CAR-T-Zell-Therapie. Krebsgesellschaft, Homepage, aktualisiert: 10.08.2023. URL: https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/krebsarten/non-hodgkin-lymphome/car-t-zell-therapie-wichtige-fragen-antworten.html.
[8] Schüßler-Lenz et al., 2022
[9] Hofmann, S.: Gentechnologie. Bislang teuerstes Medikament in Europa zugelassen – 1,57 Millionen Euro pro Therapie. In: Handelsblatt, Artikel vom 19.06.2019. URL: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/gentechnologie-bislang-teuerstes-medikament-in-europa-zugelassen-1-57-millionen-euro-pro-therapie/24472748.html.
[10] Economist Impact, 2022
[11] Schüßler-Lenz et al., 2022
[12] Vfa. Übersicht über zentralisiert in der EU zugelassene ATMP. Vfa, Homepage, Stand: 27.02.2023. URL: https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/datenbanken-zu-arzneimitteln/atmp?sort=MedikamentKlassifizierungAtmp#listmedikamenteatmp-118727.
[13] EMA: Conditional marketing authorisation. European Medicines Agency, Homepage, 2023: URL: https://www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/marketing-authorisation/conditional-marketing-authorisation.
[14] G-BA: ATMP-Qualitätssicherungs-Richtlinie/ATMP-QS-RL. BAnz AT 24.01.2023 B2. URL: https://www.g-ba.de/downloads/62-492-3037/ATMP-QS-RL_2022-11-03_iK-2023-01-01.pdf.
Thomas Stranzl
Senior Business Unit Director Cell Therapy & Oncology, Gilead Sciences GmbH
Dr. Thorsten Pisch
Associate Director Cell Therapy Government Affairs, Gilead Sciences GmbH
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