Arzneimittelpreise: Wie Medikamente bezahlbar und für alle zugänglich bleiben

Dr. Jens Baas, Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK)

Jeder und jede Versicherte soll die Medikamente bekommen, die er oder sie braucht. Diesem Grundsatz würde wohl niemand widersprechen. Doch die extreme Preisentwicklung bei neuen Arzneimitteln wird das solidarische System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in absehbarer Zeit an die Grenzen der Finanzierbarkeit bringen – und dann ist der genannte Grundsatz in Gefahr. Deshalb muss sich die Preisbildung für diese Medikamente ändern. 

Wie viel darf ein neues Medikament kosten? Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort. Klar ist jedoch: Die steigenden Arzneimittelpreise werden zu einem ernstzunehmenden Problem für unser Gesundheitssystem. Bereits jetzt gibt die GKV fast 50 Milliarden Euro im Jahr für Arzneimittel aus. Hinzu kommen die Kosten für teure Arzneimittel, die stationär angewendet werden und in den 50 Milliarden Euro noch gar nicht berücksichtigt sind. Klare Preistreiber sind die patentgeschützten Arzneimittel, die fast die Hälfte der Arzneimittelausgaben ausmachen, jedoch nur etwa sechs Prozent des Verbrauchs. Die teuerste derzeit in Deutschland zugelassene Gentherapie kostet mehr als 3,5 Millionen Euro pro Patientin beziehungsweise Patient. In den nächsten Jahren werden zahlreiche neue Gentherapien auf den Markt kommen, die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA rechnet mit zehn bis zwanzig Neuzulassungen pro Jahr.

Natürlich geben diese Entwicklungen vielen Patientinnen und Patienten berechtigte Hoffnung – doch dass alle betroffenen Versicherten bei Millionenbeträgen pro Dosis Zugang zu diesen Therapien erhalten, wird nicht finanzierbar sein. Das gilt im Übrigen nicht nur für das deutsche Gesundheitssystem. Deshalb müssen wir jetzt darüber diskutieren, wie diese Arzneimittel für die Versichertengemeinschaft auch in Zukunft bezahlbar bleiben. Andernfalls müssen wir in nicht allzu ferner Zukunft eine Debatte führen, die niemand wollen kann, die in anderen Ländern jedoch bereits Realität ist: wer diese Medikamente noch bekommen kann und wer nicht.

 

Zu hohes Preisniveau bei patentgeschützten Arzneimitteln

Der aktuelle gesetzliche Status quo reicht für die künftigen Herausforderungen nicht aus. Es ist zwar richtig, dass das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) aus dem Jahr 2011 mit seiner frühen Nutzenbewertung und nachgelagerten Verhandlung der Erstattungsbeträge zu mehr Transparenz und auch zu Einsparungen geführt hat. Dennoch steigen die Arzneimittelausgaben und die Einführungspreise für neue Medikamente weiter – daran ändern auch die zahlreichen Weiterentwicklungen am AMNOG nichts. Das Grundproblem ist, dass das Preisniveau für patentgeschützte Arzneimittel viel zu hoch ist. So ist eine Preisspirale entstanden, die die AMNOG-Verhandlungen nicht durchbrechen können. Verschärfend kommt hinzu, dass 2024 der aktuell gültige erhöhte Herstellerrabatt wegfallen wird – und damit die einzige Maßnahme aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, die bisher zu einem relevanten Einbremsen der Arzneimittelausgaben geführt hat. 

Lange war die Gentherapie Zolgensma® zur Therapie der spinalen Muskelatrophie (SMA) mit Kosten von fast zwei Millionen Euro als teuerstes Arzneimittel in den Medien präsent. Begründet hat der Hersteller die hohen Kosten vor allem damit, dass nach der einmaligen Gabe die jährlichen sechsstelligen Therapiekosten des bisher verfügbaren Arzneimittels Spinraza® eingespart würden. Diese Argumentation ist schon an sich fragwürdig, vor allem, wenn man bedenkt, dass nicht klar ist, wie lange Gentherapien tatsächlich wirken. Hinzu kommt, dass die Entwicklung von Zolgensma® unter anderem durch öffentliche Forschungsgelder und Spenden ermöglicht wurde. Völlig unklar ist zudem, wie der hohe Einführungspreis von mehr als 600.000 Euro für das erste Therapiejahr von Spinraza® zu rechtfertigen ist, der den hohen Preisanker für die Behandlung der SMA gesetzt hat.

Dabei ist ganz klar: Es geht hier allein um eine kritische Betrachtung der Preispolitik der pharmazeutischen Industrie. Beide Arzneimittel waren in diesem Fall ein therapeutischer Fortschritt für die Behandlung der SMA, den die Hersteller auch gut bezahlt bekommen sollen. Diese Preise müssen jedoch durch die tatsächlichen Forschungs-, Entwicklungs- und Herstellungskosten gerechtfertigt sein. Aus diesen machen die Pharmafirmen aber ein Geheimnis. Was wir hingegen sehen, ist, dass die Pharmaindustrie zu den profitabelsten Branchen gehört, mit Gewinnen, von denen andere Industrien nur träumen können.

Es lassen sich noch zahlreiche Beispiele anführen, die zeigen, dass die Preisfindung im Arzneimittelbereich nicht nur völlig intransparent ist, sondern auch Möglichkeiten zur Gewinnmaximierung bietet, die zwar legal sind, die es jedoch in einem solidarisch finanzierten System nicht geben sollte. In einem TK-Report haben wir uns Marktstrategien der Pharmaindustrie angeschaut, beispielsweise das sogenannte Evergreening, bei dem durch geringfügige Änderungen an einzelnen Molekülen oder einer veränderten Darreichungsform mit wenig Aufwand die Patentdauer eines Arzneimittels und damit der Zeitraum, in dem extrem hohe Gewinne erzielt werden können, verlängert wird. Außerdem beschreibt der Report, dass für einen schon bestehenden Wirkstoff aus der Krebsbehandlung keine Zulassungsstudien für die Indikation Multiple Sklerose (MS) in Auftrag gegeben wurden, obwohl erste Studien zeigten, dass er bei MS wirkt. Nur um dann einen leicht abgewandelten Wirkstoff zum Vielfachen des ursprünglichen Preises auf den Markt zu bringen.  Viele Beispiele aus dem Report betreffen im Übrigen die Behandlung von MS, und damit eine Indikation, in der das Preisniveau der verfügbaren Arzneimittel schon sehr hoch ist.

 

Faire Preise mit begrenzten Gewinnen

Die Pharmaindustrie weist den Vorwurf, Fantasiepreise für neue Arzneimittel aufzurufen, weit von sich. Doch die Preise haben wenig mit den tatsächlich entstandenen Kosten zu tun, sondern richten sich danach, was die Indikation „hergibt“. Die Politik muss hier einen neuen Rahmen für die Preisfindung setzen. Denn es sind nicht „die Kassen“, die diese Fantasiepreise nicht bezahlen wollen: Wir haben ein solidarisch finanziertes System, Aufgabe von uns Krankenkassen ist es, die Beiträge verantwortungsbewusst im Sinne aller einzusetzen. Neben der Tatsache, dass das Solidarsystem diese Preise bald nicht mehr bezahlen kann, ist es auch nicht dafür da, zweistellige Gewinnmargen von Pharmafirmen zu finanzieren. Auch dieser Aspekt muss auf dem Weg zu fairen Preisen für neue Arzneimittel berücksichtigt werden. Aus meiner Sicht sollten sich diese aus den tatsächlichen Kosten plus einer festgelegten Gewinnmarge zusammensetzen, die von einem unabhängigen Gremium, bestenfalls auf europäischer Ebene, festgelegt wird.

Natürlich wird dieser Weg nicht einfach. Aber nur, wenn wir die Herausforderung angehen, bleiben innovative Arzneimittel bezahlbar und für alle zugänglich. Eine durchdachte Gestaltung und sinnvolle Differenzierung dieser Margen könnten weitere Vorteile für viele Patientinnen und Patienten bringen. So könnten höhere Margen bei bestimmen Indikationen Anreize für mehr Forschung und Produktion in Bereichen mit hohem Bedarf schaffen. Denn derzeit werden vor allem Medikamente entwickelt, die am meisten Geld bringen und nicht die, die den höchsten medizinischen Bedarf decken. Auf diese Weise könnte die Preisspirale durchbrochen, und der Pharmaindustrie, die die Preise nach Belieben bestimmen kann, endlich etwas entgegensetzt werden. Und dennoch würde Deutschland mit seiner extrem schnellen Verfügbarkeit und der sofortigen Erstattung durch die GKV ein attraktiver Markt für die Pharmaindustrie bleiben – mit fairen Preisen für neue Arzneimittel.


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