Aktuelle Debatte über finanzielle Nöte der GKV greift zu kurz

Die Sozialpolitik braucht auch eine „Zeitenwende“

Dr. Robert Paquet

Die Gesundheitsszene wartet gespannt auf den nächsten Anlauf zu einem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Die Diskussion dazu ist geprägt durch Lauterbachs gescheiterten Entwurf von Anfang März. Diese Selbstbeschränkung wird der Größe der Probleme nicht gerecht. Schon mittelfristig laufen die Sozialversicherungen auf eine massive finanzielle Krise zu. Der Koalitionsvertrag hält dafür keine Lösungen bereit. Durch neue Leistungsversprechen werden die Finanzierungslücken sogar noch größer. Aber vor allem durch die demographische Entwicklung zieht sich die Schlinge mittelfristig zu. Auch in der Sozialpolitik ist daher eine „Zeitenwende“ nötig. Einige Lebenslügen und Tabus der Finanz- und Sozialpolitik müssen in Frage gestellt werden.

In der vergangenen Woche hat Minister Lauterbach erneut ein Stabilisierungsgesetz für die GKV-Finanzen versprochen.[1] Aktuell soll es wohl Ende Mai kommen. Danach sollen die Kassenbeiträge steigen, auch der Bundeszuschuss soll wachsen, die Rücklagen der Kassen sollen weiter schmelzen und Effizienzreserven sollen erschlossen werden. Erneut bestätigte Lauterbach – zumindest bei der Ankündigung auf dem AOK-Frühlingsempfang – die Fessel, die er sich unmittelbar nach seiner Ernennung im Dezember angelegt hat: Leistungskürzungen seien mit ihm ausgeschlossen. Das ist dann auch der Rahmen, in dem sich die Reaktionen und Kommentare bewegen.

 

Diskussion dreht sich ums kleine Karo

Bei den Kassenbeiträgen sind die Fachleute gespannt, ob der allgemeine Beitragssatz erhöht wird oder ob die zusätzlichen Kosten durch die Zusatzbeiträge gedeckt werden sollen. Das ist unter Wettbewerbsgesichtspunkten für die einzelnen Kassen interessant, aber eigentlich eine Frage für Feinschmecker. Den inflationsgeplagten Versicherten tut das eine wie das andere weh. Bei den Rücklagen mag die von Minister Spahn betriebene Kürzung noch der Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen unter den Kassen gedient haben; dem AOK-System sollten die aus Unwuchten des Risikostrukturausgleichs zugewachsenen Mittel partiell entzogen werden. Der jetzt vorgesehen nächste Schritt geht jedoch an die Substanz. Die Schwankungen der Leistungsausgaben werden jetzt die Kassen zur sofortigen, d.h. auch unterjährigen Veränderung, sprich Anhebung der Zusatzbeiträge zwingen. Das wird die kassenindividuelle Bereitschaft zur Verbesserung der Versorgungsbedingungen weiter einschränken.

Auch die Erhöhung der Bundeszuschüsse ist ein janusköpfiger Ansatz: Die Krankenversicherung wird damit immer abhängiger vom Wohlwollen des Finanzministers. Lauterbach musste seinem Kollegen Lindner bereits die Mitgliedschaft des Finanzministeriums (BMF) im Schätzkreis zugestehen. Offenbar bisher nur mit der „Gegenleistung“, dass er mit dem Ministerium über den Bundeszuschuss weiter reden darf. Am 16. März erklärte BMF-Staatsekretär Werner Gatzer nämlich der Presse, dass über die Höhe des Bundeszuschusses an die GKV in 2023 erst nach der Prognose des Schätzerkreises (im Herbst) entschieden werde. Nicht nur bei einer weiteren Erhöhung des Zuschusses droht der Anspruch des Staates auf eine Beteiligung an der Selbstverwaltung. Die Bundesagentur für Arbeit bietet das drittelparitätische Vorbild. Auch für die im Koalitionsvertrag versprochene Übernahme der GKV-Leistungen der ALG-II-Empfänger gibt es bisher keine Anzeichen.

„Effizienzreserven“ klingt erst einmal gut. In der Diskussion sind aber nur ein paar wenige Stellschrauben im Arzneimittelbereich. Der dickste Brocken könnte hier die Absenkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel sein. Aber was dem Finanzminister hier verloren ginge, wird er sicher weniger als Bundeszuschuss geben. Auch im Krankenhausbereich könnte durch einschneidende Reformen langfristig gespart werden, so deutet der Minister an. Dafür wäre jedoch die Investition zweistelliger Milliardenbeträge erforderlich. Keiner weiß, woher die kommen sollen. Das Diktum „Keine Leistungskürzungen!“ wird im Allgemeinen so verstanden, dass sich Lauterbach damit jede kritische Überprüfung des Leistungskatalogs verboten hat.

Die Diskussion der Akteure im Gesundheitswesen geht nicht über diese wenigen Elemente hinaus. Auch der Zeithorizont reicht kaum bis zum Ende der Wahlperiode. Dabei wächst die Bedrohung jetzt beschleunigt.

 

„Babyboomer“ gehen in Rente

Die Leistungsausgaben steigen stärker als die Beitragseinnahmen.[2] Die Pläne der Ampel kosten zusätzlich zehn Milliarden Euro.[3] Corona wird auch künftig den Bundeshaushalt und die Krankenkassen strapazieren.[4] Man kann nicht alle Akteure des Versorgungssystems besser bezahlen (Physiotherapeuten, Pflegekräfte, Ärzte etc.), ohne dass die Kostenschere weiter aufgeht. Aber das sind noch die kleineren Bedrängnisse. Zuletzt beschäftigte sich eine Tagung des Bundes der Versicherten mit der Auswirkung der demographischen Entwicklung auf die Sozialversicherungen.[5] Weil die geburtenstarken Jahrgänge in diesem Jahrzehnt in Rente gehen, werden sie zunehmend zu Leistungsempfängern und ihre Beiträge fallen weg (Rente) bzw. reduzieren sich (GKV und Pflege). In einer aktuellen Modellrechnung – unter Status quo-Bedingungen im Leistungsbereich –prognostiziert Prof. Friedrich Breyer (Konstanz) für GKV und Pflegeversicherung im Jahr 2040 Beitragssätze von 23,6 Prozent und 5,2 Prozent. Auch die Bertelsmann Stiftung kommt auf ähnliche Größenordnungen, wie bei der Tagung bestätigt wurde.

Dass diese Prognosen ernst zu nehmen sind, zeigt u.a. das Gutachten der BDA-Kommission zur Zukunft der Sozialversicherungen, das im Sommer 2020 vorgestellt wurde.[6] Bei Rente, GKV und Pflegeversicherung steigt das Niveau der Ausgaben bis 2040 an und bewegt sich dann auf einem höheren Plateau. Das Problem ist, dass die Ampel-Koalition keine Konzepte hat, die über das Jahr 2025 hinausweisen. Man könnte auch sagen: Gerade das Demographie-Problem wird bei Rente, Gesundheit und Pflege souverän ignoriert.

Hinzu kommen systeminterne Verteilungswirkungen, die dem Sinn der Systeme widersprechen. So hat Prof Haan vom DIW bei der erwähnten Tagung gezeigt, dass die ‚Rendite‘ des Rentensystems für die älteren Kohorten generell höher sei als für die jüngeren. Außerdem hätten die Menschen mit der höheren Lebenserwartung immer die höheren Renditen. Bei den jüngeren Kohorten habe sich die Spreizung (der Lebenserwartung) zwischen den Einkommensgruppen in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt (von zwei auf vier Lebensjahre). Das stelle den „Gedanken der Beitragsäquivalenz der Rente in Frage“.

Oder auch in der Krankenversicherung: Trotz der vor fast 20 Jahren eingeführten generellen Krankenversicherungspflicht gibt es nach wie vor die Pflicht- und die „freiwillige“ Mitgliedschaft mit entgegengesetzten Beitragsbemessungs-Regeln. Freiwillig Versicherte müssen – unabhängig von der Höhe und Zusammensetzung ihres Einkommens – Beiträge auf alle ihre Einkünfte zahlen (bis zur Beitragsbemessungsgrenze), Pflichtmitglieder nur auf die Lohn- bzw. Lohnersatzeinkommen. Und so weiter.

 

Koalition: gefangen im „Sondierungskompromiss“?

Es liegt auf der Hand, dass – im Hinblick auf langfristig tragfähige Lösungen – das Demographie-Problem nur bewältigt werden kann, wenn die Politik bereit ist, bestimmte Dogmen und Tabus in Frage zu stellen. Das betrifft z.B. die Schuldenbremse, die Absage an Steuererhöhungen, die Beitragsäquivalenz in der Rente, das Verhältnis von Umlagefinanzierung und kapitalgedeckten Ergänzungen sowie die Aufwertung der Pflegeberufe (Stichwort: Heilkundeübertragung).

In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die im „Sondierungspapier“ der Ampel-Koalitionäre getroffenen Vorfestlegungen in Sachen PKV offenbar den Grünen und der SPD die Sprache verschlagen haben. Wann sollte es denn Sinn machen, das Projekt der Bürgerversicherung erneut zu diskutieren, wenn nicht jetzt? Oder einen Strukturausgleich zwischen der sozialen und der privaten Pflegeversicherung ins Spiel zu bringen? Schon im Bundestags-Wahlkampf stand das Thema eher im Hintergrund. Ein Regierungskompromiss bindet aber die Parteien nicht. Sie könnten ihre eigenen Akzente setzen. Dass sich die SPD und die Grünen den Einstieg in solche Reformen von der FDP haben abkaufen lassen (jedenfalls für diese Wahlperiode), müsste ja nicht bedeuten, dass sie sich nicht mehr trauen, überhaupt darüber zu reden. Und dass damit auch Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze tabu sein sollen, wäre eine Unterwerfung unter die FDP über Gebühr. Man könnte hier z.B. auch vorsichtig daran erinnern, dass die Grünen schon vor längerer Zeit einmal über eine progressive Beitragsgestaltung in der Krankenversicherung nachgedacht haben.

Ein Zeichen für die Verzagtheit der Debatte gibt es auch bei der Rente. Ausgerechnet die Parteien, die seit fast 20 Jahren die Bürgerversicherung für GKV und Pflegeversicherung propagieren und die PKV abschaffen wollen, haben offenbar keinen Mut, die berufsständischen Versorgungswerke in Frage zu stellen. Das ist – höflich gesagt – zumindest erklärungsbedürftig. Denn hier findet Risikoselektion erster Klasse statt und eine Begünstigung ohnehin privilegierter Gruppen (verkammerte Berufe).

 

Zeit für eine „Zeitenwende“?

Die Opposition fällt für neue Vorschläge derzeit ganz aus. Dass der Staat finanzpolitisch völlig eingemauert ist, ist wesentlich auf die Politik der CDU-geführten Vorgängerregierungen zurückzuführen. Und den sich verstärkenden Kostendruck in GKV und Pflege verantworten namentlich die früheren CDU-Gesundheitsminister Gröhe und Spahn. Dabei ist es eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Jens Spahn als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Union jetzt für Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständig ist. Von ihm ist daher kaum zu erwarten, dass er die Fortsetzung der verblendeten Finanzpolitik durch die Ampel-Koalition kritisieren wird. Wir haben es insoweit nach wie vor mit einer Großen Koalition der Realitätsverweigerer zu tun. – Ach ja, da gibt es ja auch noch die AfD und die LINKE, die beide (nicht erst jetzt) vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Von der AfD hat es in der Sozialpolitik noch nie ernstzunehmende Vorschläge gegeben. Das ist nicht ihr Feld. Und die LINKE pflegt das Mantra, alles zu verstaatlichen. Was damit besser werden soll, bleibt ihr Geheimnis.

Wo jetzt doch so viel von „Zeitenwende“ die Rede ist: Wäre das nicht ein Anlass, auch in der Sozialpolitik endlich einmal die Augen auf zu machen? Marcel Fratzscher, Präsident des DIW, hat dazu vor wenigen Wochen in der FAZ erklärt, Schuldenbremse, keine Steuererhöhungen, große Investitionen für den Klimawandel, finanzielle Unterstützung gegen die Inflation und das Milliardenpaket für die Bundeswehr – das alles gleichzeitig gehe nicht. Die Koalition müsse sich von einigen Lebenslügen trennen.

Dass es um die Staatsfinanzen nicht zum Besten bestellt ist, hat vor wenigen Tagen noch einmal der Beirat des Stabilitätsrates deutlich gemacht. Der Stabilitätsrat[7] soll zur „Sicherung solider öffentlicher Haushalte“ beitragen. Der Beirat unterstützt ihn als unabhängiges Sachverständigengremium, u.a. mit regelmäßigen Stellungnahmen zur „Einhaltung der Obergrenze für das strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit“[8]. In seiner auf den 26. April datierten 18. Stellungnahme[9] hält er es für wichtig, dass „sich die Finanzpolitik wieder im Rahmen eines klaren und quantitativ nachvollziehbaren Regelwerks bewegt“[10] und mahnt einen „sparsamen Ausgabenkurs“ an (S. 16). Bereits für den Projektionszeitraum bis 2026 seien bei den Sozialversicherungen „erhebliche Defizite eingestellt“ (S. 17). Bei der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung gingen diese „jeweils deutlich über die verfügbaren Liquiditätsrücklagen“ hinaus. Daher „müssen grundsätzlich die Beitragssätze angehoben werden. Dies hätte eine höhere Abgabenlast bei niedrigeren Defiziten zur Folge. Die Schätzungen für die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung sind aus Sicht des Beirats insoweit nicht plausibel.“ (S. 18) Schließlich verschlechterten sich die gesamtwirtschaftlichen Perspektiven durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine (ebenda).

Außerdem ist erkennbar: Es kommen ja noch einige Belastungen hinzu. Corona dauert an, und der Krieg in der Ukraine wird irgendwann beendet sein. Die Integration der Flüchtlinge wird zu einer gesellschaftspolitischen Aufgabe ersten Ranges und frisches Geld kosten. Die größte Herausforderung kommt jedoch erst nach dem Waffenstillstand: ein Wiederaufbauprogramm für die Ukraine. Getragen vor allem von Deutschland und der Europäischen Union. Angesichts der zum Teil extremen Unterschiede zwischen arm und reich – in Deutschland (nicht nur zwischen Ost und West) und anderen Ländern der EU – wäre es daher an der Zeit, auch über einen neuen „Lastenausgleich“ nachzudenken.

 

[1] Beim AOK-Frühlingsempfang am 27.04.2022, siehe https://www.observer-mis.de/appDE/nav_expressDetail.php?ID_EXPRESS=404

[2] Vorläufige Finanzergebnisse der GKV für das Jahr 2021, Pressemitteilung des BMG vom 9. März 2022

[3] FAZ, Hauptausgabe vom 14.03.2022

[4] Zum Beispiel Handelsblatt.com online vom 10.03.2022

[5] Bund der Versicherten e.V. (BdV): 32. Wissenschaftstagung – „Soziale Sicherungssysteme auf dem Prüfstand – Alter, Gesundheit Pflege“ am 31. März und 1. April 2022. Siehe auch den Report der Observer Datenbank mit der Dokumentation der Vorträge.

[6] https://arbeitgeber.de/wp-content/uploads/2020/12/bda-arbeitgeber-broschuere-zukunft_der_sozialversicherung-2020_07.pdf und mein Kommentar https://observer-gesundheit.de/bda-kommission-zur-zukunft-der-sozialversicherungen/

[7] „Der Stabilitätsrat ist ein gemeinsames Gremium des Bundes und der Länder. Er wurde mit der Föderalismusreform II errichtet und ist in Artikel 109a Grundgesetz verankert. Zusammen mit der Schuldenbegrenzungsregel stärkt der Stabilitätsrat die institutionellen Voraussetzungen zur Sicherung langfristig tragfähiger Haushalte im Bund und in den Ländern.“ https://www.stabilitaetsrat.de/DE/Home/home_node.html

[8] Ebenda.

[9] 20220428_Stellungnahme_Beirat (3).pdf

[10]https://www.stabilitaetsrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/Beirat/2022/20220428_Pressemitteilung_Beirat.html

 


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