CDU-Grundsatzprogramm bleibt in der Sozial- und Gesundheitspolitik konservativ

Dr. Robert Paquet

Die CDU bereitet sich auf den Wahlkampf vor. Das ist z.B. spürbar an ihren Bemühungen um eine „Neue Grundsicherung“[1]. Das gilt aber auch für das Grundsatzprogramm, dessen Entwurf vor wenigen Wochen vorgestellt wurde[2]. Es ist das vierte in der Parteigeschichte und soll beim 36. Parteitag (6. bis 8. Mai 2024) in Berlin beschlossen werden. Zur Sozial- und Gesundheitspolitik gibt es darin nur gut dreieinhalb Seiten (S. 53ff. von insgesamt 74 Seiten).

Bisher hat sich noch kaum jemand darüber aufgeregt. Das hat seine guten Gründe; ein genauerer Blick darauf lohnt sich aber schon. Es gibt die Rückkehr in den Mainstream, aber irritierende und unsystematische Einsprengsel. Die Schwesterpartei CSU hat dagegen die „Hausaufgabe“ eines Grundsatzprogramms geschickter gelöst und einen besseren Ton gefunden.

Das Sozialstaatskapitel steht unter der Überschrift „Für ein solidarisches Miteinander“. Die CDU stehe für „eine soziale Ordnungspolitik, die die aktivierende Vorsorge in den Mittelpunkt stellt“. Im nächsten Absatz wird gefordert: „Wir wollen einen effizienteren Sozialstaat.“ Da wird niemand etwas dagegen haben. Neben der Forderung nach der Zusammenfassung sozialer Leistungen und verständlicheren Rechtsvorschriften wird dann aber erklärt „Wir streben einen vollautomatisierten, intelligenten Datenabgleich an“. Dass die Digitalisierung einen Beitrag zur Effizienz leisten kann, ist sicher richtig. Aber ist dieser denn so prominent, dass er gleich am Anfang stehen muss? Oder was soll das heißen?

Man will für faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen sorgen und strebt einen „hohen Grad an Tarifbindung an“. Dazu soll die „Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen“ gestärkt werden. Gleichzeitig soll der Mindestlohn ein „unverzichtbarer Teil der Arbeitsmarktordnung“ sein. Gut so! Die Rente soll „langfristig“ gesichert werden. Der „Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit“ soll gelten: „Wer gearbeitet hat und Beiträge gezahlt hat, muss mehr haben als jemand, der dies nicht getan hat.“ Daraus folgt für die CDU dann jedoch das konkrete Versprechen, „dass die gesetzliche Rente für Menschen, die 45 Jahre Vollzeit zum Mindestlohn gearbeitet und Beiträge gezahlt haben, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, deutlich oberhalb der Grundsicherung im Alter liegt, damit diese davon leben können.“ Man fragt sich, ob eine solche Konkretisierung in ein Grundsatzprogramm gehört.

Das Grundsätzliche an dem Vorschlag wäre dann aber besser allgemein zu formulieren: Ist hier wirklich die Abkehr vom Äquivalenzprinzip gemeint, die von einigen Experten durchaus als Ausweg aus dem deutschen Renten-Dilemma diskutiert wird?[3] Der Leser ist irritiert, aber nicht beruhigt: Kann man die „Rente mit 63“ kritisieren und gleichzeitig solche Forderungen erheben – zumal in einem Grundsatzprogramm?

Sicher richtig ist: „Es braucht in der Rente differenzierte Lösungen.“ Das gelte besonders für die vielen Menschen, „die aus gesundheitlichen Gründen nicht oder nur noch teilweise bis zur Regelaltersgrenze arbeiten können.“ Für sie werden „passgenaue Lösungen“ gefordert, die die CDU aber offenbar mit der „Rente mit 63“ als nicht gegeben ansieht. Man fragt sich: Wie denn anders? Gleichzeitig wird ganz vorsichtig und gewunden das in diesem Zusammenhang heikelste Thema berührt: „Wenn wir unsere Rente stabil und finanzierbar halten wollen, spricht viel dafür, dass die Lebensarbeitszeit für diejenigen, die arbeiten können, steigen muss, und folglich die Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung gekoppelt wird.“ Außerdem will die CDU eine „verpflichtende kapitalgedeckte Altersvorsorge“ einführen. Ist das jetzt identisch mit der Aktienrente der FDP, die als schuldenfinanziertes Projekt kaum einen Lösungsbeitrag leisten kann?

Dann gibt es noch eine neue Idee zur Vermögensbildung: „Aus dem Land der Sparer muss ein Land der Anteilseigner werden. Mit einem Startkapital zur Vermögensbildung für neu geborene Kinder, das zweckgebunden für Bildung, Wohneigentum oder Altersvorsorge eingesetzt werden soll, investieren wir in unsere Zukunft.“ Diese Idee gab es auch schon mal von gesamtwirtschaftlichen Sachverständigenrat.[4] Früher haben ja vorsorgliche Eltern schon für ihre kleinen Kinder Bausparverträge abgeschlossen. Wenn man bei dieser Idee den Schwerpunkt aber nicht auf dem Erlernen von Geldanlage und Marktbeobachtung sieht, wäre es nicht besser, mit dem Geld die Bildungseinrichtungen zu ertüchtigen? Oder die Ausbildungsförderung (Bafög) gezielt zu stärken, statt wieder mit der Gießkanne zu operieren?

 

Gesundheit

Im Abschnitt zur Gesundheit gibt es im ersten Absatz das Bekenntnis zum „dualen System mit gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, das wir erhalten wollen“. Trotzdem seien „strukturelle Anpassungen“ erforderlich. Dazu sollen eine „Qualifikationsoffensive“ und „technologische Innovationen“ helfen, was immer damit gemeint sein soll. Dann kommt es: „Wir setzen aber auch auf Eigenverantwortung. Es muss sich für jeden Einzelnen lohnen, sparsam mit den Ressourcen unseres Gesundheitswesens umzugehen. Jeder von uns ist gefragt, mehr auf seine eigene Gesundheit zu achten.“ Das ist hier noch so allgemein, dass fast jeder zustimmen könnte. Im Zusammenhang mit der Feststellung, das Gesundheitssystem brauche eine „solide Finanzierung“, kommt es aber noch einmal: „Wir setzen auf mehr Eigenvorsorge und wollen das Kostenbewusstsein der Versicherten schärfen.“ Hier kann es nur noch um mehr Selbstbeteiligung gehen, was aber unverblümt nicht ausgesprochen werden darf. Um die „Gesundheitsausgaben zu dämpfen“, will die CDU außerdem „den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen stärken“. Wie das konkret funktionieren könnte, darüber hat sich wohl in den Vorbereitungsgremien für den Programmentwurf niemand nähere Gedanken gemacht. Der Vorschlag hat darüber hinaus auch etwas Ironisches, wenn man bedenkt, dass seit 2005 der Wettbewerb der Kassen – unter tatkräftiger Beteiligung der CDU-Gesundheitsminister – immer weiter abgewürgt worden ist.

Mit dem Claim „Psychische Gesundheit darf kein Tabuthema sein“ wird ein wichtiges Versorgungsthema angesprochen. Angesichts von psychischen Corona-Folgen, zunehmenden Altersdepressionen und fehlenden Therapieplätzen sicher verständlich. Aber es ist fast das einzige explizit erwähnte Versorgungsthema. Wenn dann z.B. die Themen „Krankenhaus“ und „Arzneimittel“ nicht einmal gestreift werden, fragt man sich, ob hier die richtigen Prioritäten gesetzt sind. Auch beim Thema „flächendeckende Grund- und Notfallversorgung“ wundert man sich. Das Ziel sei, „Versorgungslücken zu schließen und die gesundheitliche Versorgung insbesondere im ländlichen Raum zu verbessern“. Dazu brauche man „mehr regionale Gesundheitszentren und sektorenübergreifende Zusammenarbeit“. Wird hier aus dem Koalitionsvertrag der Ampel zitiert? Wird die CDU jetzt die „Gesundheitsregionen“ und die „Primärversorgungszentren“ des „Versorgungsgesetzes I“ unterstützen? – Dahinter, dass die „Präsenzapotheken“ „gestärkt“ werden sollen, steht dagegen die gewöhnliche Vorstellung, die Apotheker müsse man umschmeicheln, weil sie viele Wählerinnen und Wähler beeinflussen könnten.

Zum Schluss kommt – wie üblich – die Pflege. Der wichtigste Satz ist: „Wir … wollen die Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherung erhalten.“ Aber auch hier wird die „Eigenvorsorge“ ins Spiel gebracht. „Wir wollen bezahlbare Pflegezusatzversicherungen einführen, um die Finanzierungslücke in der Pflege zu schließen.“ Gibt es nicht schon das (sehr relative) „Erfolgsmodell“ des „Pflege-Bahr“? Oder was ist gemeint?

 

Fazit

Die Grundsatzprogramme der Parteien sind normalerweise philosophisch-ethisch ausgerichtet, formulieren allgemeine Zielsetzungen und weichen den konkreten politischen Vorhaben aus. Bei Gesundheitsthemen muss sich die CDU aber – erst recht mit dem ehemaligen Blackrock-Manager Friedrich Merz an der Spitze – immer noch von dem Leipziger Wahlprogramm abgrenzen, das die CDU im Dezember 2003 beschlossen hat. Dort hatte man sich mit großer Mehrheit für einen radikalen Systemwechsel in der Sozialpolitik entschieden. Einer der wichtigsten Kernbereiche war das Modell einer prämienbezogenen Krankenversicherung. Jetzt ist die CDU ganz sicher in den konservativen Mainstream zurückgekehrt. Mit am wichtigsten ist somit der unscheinbare Satz: „An der solidarischen Beitragsfinanzierung halten wir fest“ (S. 56).

Wenn man sonst von der etwas wolkigen Erwähnung der „Eigenverantwortung“ und dem Festhalten am „dualen System“ (GKV/PKV) absieht, könnten auch viele Sozialdemokraten dem Text zustimmen. Trotzdem ist bemerkenswert, dass die CDU der Versuchung nicht widerstehen konnte, für ein Grundsatzprogramm zu konkrete Vorhaben einzubauen (Rentenversprechen, Zusatzversicherungen bei Rente und Pflege, „Startkapital“ für Neugeborene, „regionale Gesundheitszentren“ etc.). Das kurze Kapitel zur Sozialpolitik ist somit eine Mischung aus erwartbaren Allgemeinplätzen und ein paar riskanten Konkretisierungen. Auch konservative Parteien können offenbar dem Zeitgeist nicht immer entgehen. Auch Grundsatzprogramme müssen manchmal mit neuen „Ideen“ garniert werden.

 

Bei der CSU läuft es eleganter

 Die Schwesterpartei hat diesen Programm-Prozess gerade vor rund 10 Monaten abgeschlossen.[5] Sie hat das alles geschickter gelöst. Das fängt an mit der Einbettung der „Eigenverantwortung“ in das (explizierte) Spannungsfeld von Solidarität und Subsidiarität (S. 17/18), geht weiter mit die Aufforderung, das Genossenschaftswesen als Lösungsweg für soziale Probleme zu fördern (S. 35), bis hin zu einem weniger holprigen Umgang mit der Frage der Regelaltersgrenze. Dabei wird zunächst am Äquivalenzprinzip festgehalten: „Wer mehr eingezahlt hat, muss im Alter auch mehr haben. … Die Rente muss Spiegel der individuellen Lebensleistung sein und bleiben“ (S. 66). Dafür stünden die Leistungs- und die Mütterrente. Aber dann wird doch erklärt, dass aufgrund der „steigenden Lebenserwartung und den demografischen Veränderungen im Arbeitsmarkt langfristig“ eine „Balance“ zwischen „Rentenniveau und Beitragssatz“ wiederhergestellt werden müsse. Indes: „Ein Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss früher in Rente gehen können, aber ein anderer Teil muss auch länger arbeiten dürfen. … Dabei ist für uns klar: Wir lehnen eine generelle Erhöhung des Renteneintrittsalters ab. Stattdessen wollen wir diejenigen unterstützen, die freiwillig länger arbeiten wollen. Dafür wollen wir das Arbeiten nach Erreichen des Renteneintrittsalters durch Abgabensenkung und Steuervorteile anreizen.“ (S. 66/67) Das ist doch eine gute Melange.

Auch im Gesundheits- und Pflegekapitel läuft es bei der CSU eleganter. Am Anfang steht die „nachhaltige Gesundheitsversorgung“! Und: „Wir sind gegen die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen. Der Kern unseres solidarischen Gesundheitssystems sind die freie Arzt- und Krankenhauswahl sowie die Therapiefreiheit. Die Freiberuflichkeit der Ärzte ist und bleibt das Leitbild“ (S. 68). Damit sind doch alle gut bedient, ohne zu konkret zu werden. Aber auch: „Wir stehen zu gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Eine Einheitsversicherung oder die Einführung einer Kopfpauschale lehnen wir ab.“ Ein bisschen Stichelei und Abgrenzung gegen die CDU (von Leipzig) muss es bei den Bayern schon geben. Dann werden die „leistungsfähigen Krankenhäuser“ im Lande und das „erfolgreiche Landarztprogramm“ gepriesen. So viel Eigenlob muss sein.

Gut machen sich immer Forderungen, die nicht im eigenen Land verwirklicht werden müssen: „Lebenswichtige Medikamente“ und „Schutzausrüstung“ für Pandemien sollen „wieder komplett in Europa produziert werden“ (S. 69). Auch damit stehe man „für eine innovative Arzneimittel- und Medizinprodukteversorgung“. Man bekenne sich „klar zum medizinischen, medizintechnischen und pharmazeutischen Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland mit seinen innovationsstarken Unternehmen“ (ebenda). Das streichelt die Seele und macht gute Stimmung.

„Auch bei der Gesundheit gilt das Primat der Eigenverantwortung.“ Der schillernde Begriff wird hier jedoch eindeutig mit einem sozialen Präventionsgedanken verknüpft. Denn: „Inwieweit Angebote der Prävention genutzt werden, darf gerade nicht vom sozialen Status, von der Bildung oder dem Einkommen des Einzelnen abhängen“ (S. 69). Und auch bei der CSU wendet man sich gegen die „Stigmatisierung von psychisch Erkrankten“. Zu einer finanziellen Selbstbeteiligung findet sich nicht mal eine Andeutung.

Bei der Pflege schließlich gibt schon die Überschrift den Ton vor: „Würdevolle Pflege in einer sorgenden Gesellschaft“ (S. 70). „Die Humanität unserer Gesellschaft zeigt sich darin, wie sie mit den Vulnerablen umgeht.“ Aha, hier kommt das Lieblingswort für zeitgemäße Empathie. Und noch viele weitere, gefällige Begriffe folgen, wie z.B. „eine Flexibilisierung von Leistungen und eine Regionalisierung von Strukturen“. (ebenda). Eine Schreck-Vokabel jedenfalls wie „Teilkaskoversicherung“ wäre in diesem Text nicht vorgekommen.

Noch ist ja bei der CDU nichts endgültig beschlossen. Vielleicht guckt man  noch mal bei der Schwesterpartei.

 

[1] Beschluss des Bundesvorstandes der CDU Deutschlands in Berlin, 18. März 2024

[2] Vorgestellt am 18. Januar 2024.

[3] So z.B.  Prof. Bert Rürup im Handelsblatt vom 5.3.2024

[4] https://www.businessinsider.de/wirtschaft/2000-euro-starktkapital-fuer-jedes-kind-vom-staat-wirtschaftsweise-sachverstaendigenrat/

[5] Beim CSU-Parteitag am 6. Mai 2023 in Nürnberg haben die Delegierten das achte CSU-Grundsatzprogramm „Für ein neues Miteinander“ beschlossen. https://www.csu.de/common/download/CSU_Grundsatzprogramm_2023.pdf


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