Gesundheitsberufe in der 19. Legislaturperiode – eine vergleichende Analyse (II)

Teil 2: Wie Jens Spahn mit dem Handlungsdruck umgeht – zehn Thesen zum Thema

Sabine Rieser

Das Bund-Länder-Gesamtkonzept für die Reform der Gesundheitsberufe steht weiter aus. Doch Jens Spahn treibt die Modernisierung voran, von A bis Anästhesietechnischer Assistent über H wie Hebamme bis Z wie Zahnarzt. Etliche Berufsgesetze und Prüfungsordnungen wurden zuletzt reformiert, als der Bundesgesundheitsminister noch zur Schule ging. Der Bund braucht zwar reformwillige Bundesländer. Denn er kann Schulgeldfreiheit, höhere Ausbildungsvergütungen oder Akademisierung nicht ohne sie durchsetzen. Doch Fachkräftemangel, Mobilität in Europa, EU-Rechtsetzung sowie selbstbewusstere nicht-akademische Heilberufe treiben alle an – Teil 2 der Analyse.

Dass nicht die Ärzteschaft im Fokus wichtiger gesundheitspolitischer Reformen steht, auch nicht allein die Pflege, sondern dazu eine Vielzahl anderer Gesundheitsberufe wie in dieser Legislaturperiode, ist ungewöhnlich. Sachlich-fachliche Gründe dafür gibt es mehrere, neben der offenkundigen Überalterung vieler Berufsgesetze und der Notwendigkeit, Gesetzgebung und Mobilität in der Europäischen Union zu berücksichtigen (siehe Teil 1 der Analyse). In Stichworten:

  • Fachkräftemangel – Leere Arbeitsmärkte sorgen für Veränderungen,
  • Generationenwechsel – veränderte Ansprüche, höhere Qualifikation,
  • Professionalisierung der Akteure,
  • Veränderte Versorgungsanforderungen.

 

Der Fachkräftemangel als Reformtreiber

Zum Mangel an Fachkräften, absehbaren Lücken beim Nachwuchs in den Gesundheitsberufen und zu sinnvollen Überwindungsstrategien kursieren, interessengeleitet, ganz unterschiedliche Daten und Vorschläge. Ein Beispiel: die Pressekonferenz, bei der im Januar 2020 die Pflegepersonal-Regelungen 2.0 als mögliche Alternative zu den umstrittenen Pflegepersonaluntergrenzen vorgestellt wurden. Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Dr. Gerald Gaß, sagte, die Krankenhausgesellschaft gehe eher von rund 40.000 fehlenden Pflegekräften aus, ver.di dagegen von bis zu 80.000.

Die Bundesagentur für Arbeit geht dem Thema halbjährlich in sogenannten Fachkräfteengpassanalysen nach. Im Juni 2019 meldete sie weiterhin Engpässe in den Gesundheits- und Pflegeberufen. Es fehlen nicht nur Fachkräfte in den klassischen Pflegeberufen, sondern längst auch bei Podologen (seit Ende 2017), Physiotherapeuten (seit Ende 2016), Sprachtherapeuten (seit Sommer 2018).

Das Bundesinstitut für Berufsbildung (bibb), das seit Jahren umfangreiche Analysen zur Entwicklung von Berufsbildung in zig Branchen liefert, hat 2017 hochgerechnet: Der Arbeitskräftebedarf in den Pflege- und Gesundheitsberufen wird im Jahr 2035 das Angebot um schätzungsweise 270.000 Personen übersteigen. Als Gründe nannte das bibb eine vergleichsweise schwache Lohnentwicklung und einen stetigen Anstieg der Leistungen. Das Institut widersprach aber auch einem verbreiteten Eindruck: der massenhaften Flucht aus den Pflege- und Gesundheitsberufen. Eine „Stayer-Quote“ von 70 Prozent lege nahe, dass es lohnenswert sei, Personal durch entsprechende Maßnahmen zu halten – und auszubilden. Aber: „Eine bessere Bezahlung, mehr Anerkennung und eine verbesserte Work-Life-Balance stehen bei den Berufstätigen oben auf der Wunschliste“, so Forschungsdirektor Reinhold Weiß damals.

 

Die einen fehlen, die anderen bringt dies unter Druck

Im stark arbeitsteiligen Gesundheitswesen bringen Personal- und Nachwuchsmangel bei den einen längst alle anderen in Bedrängnis. Dr. Bernd Metzinger, DKG-Geschäftsführer, hat dies beim jüngsten Deutschen Krankenhaustag schnörkellos angesprochen. Die Probleme in der Pflege seien nicht vom Himmel gefallen, sondern die Pflege jahrelang kaputtgespart worden: „Ich habe bereits 2008 gesagt, dass es irgendwann soweit kommen wird, dass die Pflegekräfte die Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser begrenzen werden.“ Heute, siehe Pflegepersonaluntergrenzen, ist es soweit. Spahn und viele Gesundheitspolitiker in der Koalition sind lange genug dabei, um diese Aspekte einzubeziehen.

Doch nicht nur die Gesundheitsberufe untereinander, auch die Politik setzt dies unter Druck. Man erinnere sich: Viele Repräsentanten der niedergelassenen Ärzte dachten lange, die (angeblich nur gefühlten) Probleme der GKV-Versicherten mit Arztterminen würden nicht wirklich dazu führen, dass man den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) Terminservicestellen vorschreiben werde, später noch deren Ausbau und formale Mehrarbeit in den Praxen. Doch wer Jens Spahn in den Jahren davor zuhörte, hätte hellhörig werden können. Mehrfach hat er, damals noch nicht Bundesgesundheitsminister, darauf verwiesen, dass die Terminprobleme in Arztpraxen in den Bürgersprechstunden aller Bundestagsabgeordneter ein Thema seien. Dieses Thema betreffe – und belaste – alle. Deshalb, auch das ließ er damals erkennen, wollten viele Abgeordnete hier eine Lösung. Wenigstens eine, die man bei jedem Bürgergespräch im eigenen Wahlkreisbüro und auch im Wahlkampf gut verkaufen kann, ließe sich ergänzen.

Nun haben Engpässe und Fachkräftemangel zahlreiche Gesundheitsberufe erreicht, was die Bürger wahrnehmen. Sie erwarten Lösungen, so nehmen es Gesundheitspolitiker wie Jens Spahn wahr. Auch die Heilberufler selbst drängen auf Veränderung. Also wird gehandelt, zumindest auf gesetzgeberischer Ebene. 40.000 oder gar 80.000 Arbeitskräfte für die Pflege kann allerdings kein Gesundheitspolitiker in kurzer Zeit herbeireformieren. In den Anhörungen zu den diversen Pflegegesetzen wurde dies immer wieder angesprochen und kritisiert: Auf einem leergefegten Arbeitsmarkt findet höchstens Verdrängung statt.

Beispiele: Zu den Neuerungen im Bereich Pflege gehört, die Pflegepersonalkosten aus den DRG herauszulösen und dafür eigene Budgets zu schaffen. In der stationären Altenpflege können 13.000 neue Stellen finanziert werden. In der stationären Krankenpflege wird jede zusätzliche oder aufgestockte Pflegekraft tatsächlich bezahlt. Andrea Lembke, Präsidiumsmitglied im Deutschen Pflegerat, hält dies nicht für den Befreiungsschlag. Zum ersten Mal seit 25 Jahren habe man zwar das Gefühl, einstellen zu können an Pflegekräften, wen man wolle, betonte Lembke im Hinblick auf die neue Finanzierungszusage, aber: „Man könnte denken, dass diese Regelung nur Eingang in ein Gesetz gefunden hat, weil die Menschen eben nicht da sind. Sonst gäbe es eine Kostenexplosion.“

Ein weiterer Punkt: Jens Spahn hat zwar dafür gesorgt, dass sich die Honorare der Heilmittelerbringer verbessern können. Doch in den komplexen Räderwerken des Gesundheitssystems kann man manche Regelung auch plattwalzen, was der Minister weiß. So kritisierten Physiotherapeuten des Aktionsbündnisses „Therapeuten am Limit“, dass etliche KVen mit Hilfe von Heilmittelzielvereinbarungen versuchten, Ärztinnen und Ärzte zu Einsparungen bei Heilmittelverordnungen anzuhalten. Damit würden Bemühungen um ihre finanzielle Besserstellung konterkariert. Eine Ausgabensteuerung sieht aber grundsätzlich die Rahmenvereinbarung für Heilmittel zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung und GKV-Spitzenverband vor.

Immer wieder wurden in den parlamentarischen Verfahren zur Reform der Gesundheitsberufe außerdem finanzielle Aspekte zwischen Bund und Ländern kontrovers diskutiert. So sieht zwar das Krankenhausfinanzierungsgesetz die Finanzierung von Ausbildungsvergütung und -stellen vor, zuletzt fixiert für Anästhesietechnische und Operationstechnische Assistenten (ATA und OTA). Aber für die Schulen, die lediglich mit den entsprechenden Krankenhäusern kooperierten, sei diese Finanzierung nicht gesichert, monierte der Bundesrat in einer Entschließung. Besonders der Kultusausschuss des Bundesrats sieht Mehrausgaben in Folge der Reformen kritisch. Zuletzt schlug er in Zusammenhang mit der noch zu reformierenden Approbationsordnung für Psychotherapeuten vor, aufgrund der Kostensteigerungen wegen der vielen Reformen über eine neue anteilige Aufteilung des Steueraufkommens zwischen Bund und Ländern zu verhandeln.

 

Generationenwechsel – veränderte Ansprüche, höhere Qualifikation

Dass der bundesdeutsche Staat angehenden Ärzten das teure Studium weitestgehend finanziert, zukünftige Krankenschwestern oder Physiotherapeuten aber selbst in die Tasche greifen müssen, wenn sie ihre Ausbildung an einer Fachschule absolvieren, fanden vor allem Bildungspolitiker und -ökonomen lange unbegreiflich – und falsch. Doch solange es genug Nachwuchs in den Gesundheitsfachberufen gab, nahm man es hin. Jetzt, wo sich dies ändert, steigt der Handlungsdruck.

Immer mehr junge Menschen machen Abitur. Beim heutigen Hebammennachwuchs verfügen angeblich 90 Prozent über die Hochschulreife, ebenso bei den Logopädinnen und Logopäden. Kein Wunder, dass der Nachwuchs an Studienmöglichkeiten interessiert ist – er könnte ja auf zig Studienfächer ausweichen oder einen Beruf wählen, in dem längst ein duales Studium oder eine spätere akademische Weiterqualifikation möglich sind. Zur Erinnerung: Bereits 2009 wurden Regelungen in die Berufsgesetze von Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten aufgenommen, die die Erprobung einer akademischen Erstausbildung in Form von Modellstudiengängen ermöglichten. Obwohl die Erfahrungen positiv waren, wie die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Oktober 2019 in einer Kleinen Anfrage anmerkte, wünschte das BMG noch 2016 keine entsprechende regelhafte Einführung. Stattdessen sollten die Modellstudiengänge um weitere zehn Jahre verlängert werden. Das sorgt bis heute für reichlich Frust bei den Betroffenen.

Die letzten Monate haben Beobachtern klargemacht, dass Jens Spahn bei den Reformgesetzen im Hinblick auf die (Teil-)Akademisierung ganz unterschiedlich vorgegangen ist. Die Reform der Hebammenausbildung hat zu einer Vollakademisierung geführt, künftige Geburtshelferinnen werden allesamt ein duales Studium absolviert haben. Bei ATA/OTA- und PTA-Reform spielte die Akademisierung keine Rolle. Bei den Heilmittelerbringern, deren Berufsgesetze in diesem Jahr überarbeitet werden sollen, wird man sehen.

 

Spahn: kein Befürworter vollständiger Akademisierung

Bei den Hebammen hatte Deutschland aber keine andere Wahl, als eine entsprechende EU-Richtlinie umzusetzen. Diese Akademisierung werde ein „Zugewinn für Frauen und Kinder“ sein, befand Prof. Dr. Melita Grieshop von der Evangelischen Hochschule Berlin in der entsprechenden Anhörung zur Reform im Bundestag. Der Gynäkologe Prof. Dr. Dr. Frank Louwen als Vertreter von Fachgesellschaft und Berufsverband befürchtete hingegen, die Vollakademisierung werde „das Defizit in den Kreißsälen verschärften“. Wer Hebammenwissenschaft studiert habe, fände sich praktisch nicht in den Kreißsälen.

Eine in diesem Zusammenhang häufiger zitierte Analyse ist die sogenannte VAMOS-Studie, die Verbleibstudie der Absolventen der Modellstudiengänge in Nordrhein-Westfalen. Mancher Befürworter einer Vollakademisierung argumentiert mit Hinweis auf diese Auswertung, die Gesundheitsfachberufe blieben auch mit akademischer Qualifikation in der Versorgung. Das scheint zu stimmen. Aber ebenso kann man herauslesen, dass sich ihr Tätigkeitsprofil sehr wohl ändert, teilweise auch „vom Bett weg“. Die Autoren selbst merken an: „Um den langfristigen Verbleib der Absolvent*innen in der Versorgung von Klient*innen sicherzustellen und die Potenziale zur Verbesserung der Versorgungsqualität ausschöpfen zu können, müssen Handlungsspielräume (z.B. Stellenprofile) und Rahmenbedingungen (z.B. Vergütungsmöglichkeiten) in der Versorgungs- und Unternehmenspraxis weiter auf die erweiterten Kompetenzprofile der Absolvent*innen abgestimmt werden.“

Welche Rolle in der Reformgemengelage die Positionierungen innerhalb der Ärzteschaft spielen, ist schwer auszumachen. Aus zahlreichen Statements lässt sich herauslesen, dass die vielen Gesundheitsberufe auch der Ärzteschaft als immer wichtiger erscheinen, weil die eigenen Aufgaben und Belastungen zunehmen. Mehr Eigenständigkeit wird teilweise als Chance begriffen, Aufgaben vom Arzt wegverlagern zu können. „Der Teamgedanke ist entscheidend“, hat Dr. Max Kaplan häufig betont. Und: „Wir müssen alle mit unseren Ressourcen sparsam umgehen.“ Der ehemalige Vizepräsident der Bundesärztekammer (BÄK) und frühere Vorsitzende der dort angesiedelten Fachberufekonferenz hatte Anfang 2018 bekräftigt, dass die BÄK die Bestrebungen einzelner Gesundheitsberufe nach Akademisierung positiv begleite. Nach damals geäußerter Ansicht von Josef Hecken, dem Unparteiischen Vorsitzenden des G-BA, macht der demografische Wandel solche Veränderung unausweichlich: „Wenn wir den Sicherstellungsauftrag wahrnehmen wollen, müssen wir uns bewegen.“ Die Delegierten des Deutschen Ärztetags lehnten 2019 allerdings „parallele Versorgungssysteme durch die Akademisierung nichtärztlicher Heilberufe“ ab.

 

Der Druck im System verschärft die Konkurrenz – zum Nachteil aller

Schaut man genauer hin, ist es komplizierter. Ein Beispiel: Der Deutsche Hebammenverband hatte sich in seiner Stellungnahmen zum Hebammenreformgesetz dafür eingesetzt, die Liste von Aufgaben zu erweitern, zu denen das künftige Studium in selbstständiger und eigenverantwortlicher Durchführung befähigen sollte. Eine Forderung betraf das Anlegen eines Dammschnitts und das Nähen von Geburtsverletzungen. Hierzu hieß es: „Es ist derzeit nicht davon auszugehen, dass es in den Ausbildungskreißsälen selbstverständlich ist, diese Qualifikation regelhaft zu vermitteln. Es ist üblich, dass Lernende im Hebammenwesen hier in Konkurrenz zu Ärzten/ Ärztinnen in der fachärztlichen Ausbildung stehen und aufgrund bestehender Hierarchien nicht ausreichend eingewiesen werden.“

Doch sind daran allein Ärzte schuld oder nicht auch Zeit- und Kostendruck? Andere Hinweise zur Konkurrenz erhält man teilweise aus dem Wirkungsbereich von sogenannten Physician Assistants (PA)/ Chirurgieassistenten, einem nicht auf Bundesebene geregelten Berufsbild. Bei einer Veranstaltung der praxisHochschule in Rheine zu Einsatzmöglichkeiten für Physician Assistants erklärten einzelne PA, dass sie bei Engpässen aufpassen müssten, nicht zur Übernahme ärztlicher Aufgaben gedrängt zu werden. Wenn die Schnitt-Naht-Zeiten immer knapper werden und der Zeitdruck in den Operationssälen immer größer, dann ist nicht auszuschließen, dass man lieber die erfahrene PA oder auch den Operationstechnischen Assistenten um Unterstützung bittet, statt sich mit dem jungen Arzt in Weiterbildung abzumühen. Wie sehr allerdings manche in den Gesundheitsfachberufen mittlerweile dagegen opponieren, nur Zuarbeiter und Entlastungshilfe der akademischen Heilberufe zu sein und in ihrem eigenen beruflichen Können nicht gewürdigt zu werden, wurde am Rande einer Anhörung zum PTA-Reformgesetz anhand einer kleinen Episode deutlich. Eine Vertreterin der Apothekerschaft sprach mehrmals von „den Mädchen“, wenn sie die Pharmazeutisch-technischen Assistentinnen meinte – ein Affront, wie anschließend auf dem Gang von PTA-Vertreterinnen zu hören war. So wolle man nicht mehr bezeichnet werden.

Im Rahmen der Ausbildungsreform für ATA und OTA war die Akademisierung kein Thema für die Bundesregierung. Deren Berufsverband DBOTA allerdings bezeichnete eine Akademisierung oder Teilakademisierung als sinnvoll. Auch aus der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion zur Präsenz von Medizinschen Fachangestellten (MFA) in Arztpraxen von Januar 2020 geht hervor, dass man hier ebenfalls nicht an eine (Teil-)Akademisierung denkt. Dieser Aspekt spiele bei den sogenannten Gesundheitsfachberufen derzeit eine Rolle, nicht aber bei Ausbildungsberufen wie dem zur MFA, der formal auf Grundlage des Bundesbildungsgesetzes geregelt ist (siehe auch Analyse Teil 1). Für eine Ausbildungsreform mit Akademisierungsoptionen sprach sich schon 2018 auch Christiane Maschek aus, Präsidentin des Deutschen Verbands für Technologen und Analytiker in der Medizin Deutschland.

Bei der Reform der Pflegeberufe war die Vollakademisierung kein Thema für Jens Spahn. Er ist auch für diese Berufsgruppe dagegen und befürwortet sie eher als Fortbildungsoption. Das Pflegeberufegesetz sieht derzeit eine ausbildungsbegleitende hochschulische Qualifikation vor. Ob es dabei bleibt, wird man sehen. Gerade hat Spahn sein Ministerium umstrukturiert. Die Abteilung 4 wird sich zukünftig ausschließlich um Pflege kümmern, „als zentrales Thema der kommenden Jahre“. Wer dem Nachwuchs Lust auf die Pflegeberufe machen will und Pflegende bei der Stange halten, wird viele Kugeln auf einmal ins Rollen bringen müssen. Auf eine neue „Versorgungs- und Pflichtfrauenfrauengeneration“ zu hoffen, die man in die Pflege locken kann, bringe nichts mehr, stellte Prof. Margarete Reinhart vom Studiengang Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Theologischen Hochschule Friedensau kürzlich beim Deutschen Krankenhaustag klar: „Die Pflege hat den Wertewandel schon hinter sich, die Ausbreitung individualistischer Selbstentfaltungswerte, den Abbau von Pflicht- und Akzeptanzwerten.“

Für die Gruppe der Heilmittelerbringer (Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden und Podologen) steht die Entscheidung in Bezug auf die Akademisierung noch aus. Dagmar Karrasch, Präsidentin des Deutschen Bundesverbands für Logopädie (dbl), hatte schon bei der 30. Fachberufekonferenz der Bundesärztekammer 2018 klargemacht, dass ihre Berufsgruppe eine durchgängige grundständige akademische Berufsausbildung wolle. Deutschland sei das einzige Land in der EU, in dem Logopäden noch ohne Bachelor- oder Masterabschluss zur Berufsausübung zugelassen würden.

Der Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV), bei dem der dbl aber nicht Mitglied ist, will ebenfalls die vollständige Akademisierung. Diese Forderung wurde auf dem 2. Therapiegipfel erneut erhoben. Doch an diesem Punkt ist Spahn bislang hart geblieben: Er will Optionen für die Akademisierung, aber keine 100 Prozent. Wer etwas anderes wolle, „muss auf einen anderen Minister warten“, hatte er beim Therapiegipfel gesagt. Spahn beansprucht für sich, als damaliger gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion dafür gesorgt zu haben, dass die Modellstudiengänge ins Gesetz geschrieben wurden. Doch der Minister ist nicht nur ein überzeugter Anhänger von Ausbildung geblieben, um Nicht-Abiturienten weiter eine Chance zu geben (O-Ton: „Der Mensch beginnt nicht erst mit dem Abitur.“). Er glaubt auch, dass sich die Gesundheitsfachberufe von der Akademisierung Folgeeffekte erhoffen, die sich nicht automatisch ergeben werden. Damit mag er recht haben. Wer sich jedoch in anderen Berufsfeldern umschaut, beispielsweise in den technischen, wird feststellen, dass es dort eine Vielzahl von Aufstiegs- und Umstiegsqualifikationen gibt, die berufsbegleitend absolviert werden können. Auch im Gesundheitswesen könnten solche Optionen stärker ausgebaut und gefördert werden. Hätte man dies früher massiver getan, würde die Diskussion um eine Vollakademisierung jetzt vielleicht nicht so harsch geführt.

Auch bei den Heilmittelerbringern haben sich die Zeiten geändert. Die Brandbriefe-Aktion „Therapeuten am Limit“, mit der der Frankfurter Physiotherapeut Heiko Schneider auf die massiven Probleme in seinem Berufsfeld einging, wurde 2018 viel beachtet. Die Alice Salomon Hochschule in Berlin wertete fast 1.000 Briefe aus und diskutierte die Ergebnisse im Frühjahr 2019 mit Experten und Betroffenen. Der Frust sitzt demnach tief: Selbstständige verdienen zu wenig, um Rücklagen fürs Alter oder für Praxisinvestitionen zu bilden, müssen teure Pflichtfortbildungen bezahlen, um reguläre GKV-Leistungen abrechnen zu dürfen, leiden unter bürokratischen Vorgaben wie bei der Rezeptüberprüfung, verlieren Mitarbeiter, weil sie sie nicht gut bezahlen können.

Die GKV-Ausgaben für Heilmittel sind zwar in den letzten Jahren erheblich gestiegen, von 5,7 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 7,6 Milliarden im Jahr 2018. Doch insgesamt machten die Ausgaben für Heilmittel 2018 nur etwas mehr als drei Prozent aller GKV-Ausgaben aus. Es gibt zudem Hinweise, dass die Behandlungseinheiten abnehmen, weil das Personal fehlt: 2017 betrug der Rückgang gegenüber dem Vorjahr rund 7,5 Prozent, etwa 24 Millionen Behandlungseinheiten weniger. Allerdings ist auch zu bedenken: Je nach Praxisstandort und Klientel werden teilweise die GKV-Behandlungen verringert und besser bezahlte Privatbehandlungen angeboten. Physiotherapeuten, die den „kleinen“ oder „sektoralen“ Heilpraktiker absolviert haben, dürfen selbstständig behandeln. Privatpatienten und GKV-Versicherte, die es sich als Selbstzahler leisten können, umgehen so lange Wartezeiten.

 

Professionalisierung der Akteure – vom Katzen- an den Verhandlungstisch

Wenngleich sich nicht alle Heilmittelerbringer- oder Pflegeberufeverbände vollständig einig sind in ihren politischen Forderungen, und die Verbändelandschaft so wie bei der Ärzteschaft zersplittert ist, so haben doch viele Organisationen in den letzten Jahren ihr Profil geschärft, Allianzen gebildet und sich enorm professionalisiert. Nun machen sie Druck. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV), zu dem sich die fünf Größten der Branche zusammengeschlossen haben, wenngleich ohne die Logopäden. „Der SHV vertritt als maßgebliche Spitzenorganisation nach § 125 SGB V [Rahmenempfehlungen und Verträge im Bereich Heilmittel] die berufspolitischen Interessen der Heilmittelerbringer auf Bundesebene und ist für die Belange der Heilmittelversorgung Ansprechpartner der Politik, der Ministerien, der Selbstverwaltungsorgane, anderer bedeutender Organisationen des Gesundheitswesens sowie der Medien. Insgesamt steht der SHV für rund 90 Prozent des Gesamtumsatzes im Heilmittelbereich und vertritt mehr als 75.000 Mitglieder“, heißt es auf der Homepage.

Jens Spahn hat die Heilmittelerbringer immer wieder ermuntert, sich zu organisieren und verhandlungsfähig zu werden. In BMG-Eckpunktepapier „Sicherung und Weiterentwicklung der Heilmittelversorgung“ hatte er im Herbst 2018 die Idee aufgeworfen, den SHV als Verhandlungspartner zu etablieren. Das ist Aufwertung und Zumutung zugleich: Nun verhandeln SHV, Kassenärztliche Bundesvereinigung und GKV-Spitzenverband unter anderem über die Details der Umsetzung der Blankoverordnung – soweit die Aufwertung. Der SHV muss sich aber, soweit die Zumutung, den langwierigen und oft unerfreulichen Verhandlungen stellen, die andere Akteure leidvoll kennen – und die Politik kann bei Honorarwünschen auf die Verhandlungsebene verweisen. Spahn hat sich gleich zu Beginn der Legislaturperiode für Honorarverbesserungen der Heilmittelerbringer eingesetzt und sie auf den Weg gebracht. Aber ein zusätzliches 2-Milliarden-Euro-Paket für die Heilberufe, wie es sein Parteikollege Dr. Roy Kühne 2018 vorgeschlagen hatte, lehnte er aus Kostengründen ab.

Ein weiteres Beispiel für Professionalisierung: Im Bereich Pflege haben sich Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Gewerkschaft ver.di und der Deutsche Pflegerat vor kurzem aufgemacht, Minister Spahn von einer gemeinsam erarbeiteten Alternative zu den umstrittenen Pflegepersonaluntergrenzen (PpUG) zu überzeugen. Solche Allianzen hätte man sich früher kaum vorstellen können.

 

Veränderte Versorgungsanforderungen

Mag sein, dass die Deutschen zu häufig zum Arzt gehen. Längst warten sie aber nicht nur auf Arzttermine, sondern auch auf Termine bei Physiotherapeuten, Logopäden, Psychologischen Psychotherapeuten. In Krankenhäusern und Altenheimen ist unübersehbar, wie knapp das Pflegepersonal gworden ist. In manchen gutbürgerlichen Arztpraxen hätten die Patienten früher gegen eine MFA mit Kopftuch gewettert, doch heute sind sie froh, dass überhaupt noch jemand den Laden schmeißt.

Bei einer Geburt kann man wohl kaum zu häufig zur Hebamme gehen, nach einer Schulter-, Hüft- oder Kniegelenks-OP muss man zum Physiotherapeuten. Diabetikern im Chronikerprogramm werden Kurse bei einer Ernährungsfachkraft ans Herz gelegt, Depressiven wird zur Psychotherapie geraten, nicht länger nur zu Medikamenten. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Die Fortschritte in der Medizin und ihre Umsetzung in Leitlinien, Chronikerprogrammen, Behandlungsempfehlungen und anderes mehr haben auch die Aufgaben in den nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen wachsen lassen. Werden sie nicht erledigt, leidet die Patientenversorgung. Werden sie gut erledigt, wächst die Anerkennung für diejenigen, die lange nur dienende Kräfte von Ärztinnen und Ärzten waren. Wer viel Zeit beim Physiotherapeuten verbringt, aber nur kurz im Behandlungszimmer des Arztes ist, richtet seine Wertschätzung anders aus. Auch hieraus speist sich in einer Gesellschaft vieler chronisch Kranker und mehr Alter das gewachsene Selbstbewusstsein der nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe.

Doch die Reformierlust in diesem Bereich hat neben den fachlich-sachlichen auch politische Gründe. Jens Spahn packt gern Themen an und präsentiert sich als Macher. Wenn der nächste Bundestag gewählt wird, kann er bei vielen Gesundheitsberufen und noch mehr Bürgern aufzählen, was er und damit die Union alles auf den Weg gebracht haben. Reformen bei den nicht-akademischen Gesundheitsberufen sind nicht nur abgestimmt und im Sinne des Koalitionspartners SPD, sondern Spahn rennt damit grundsätzlich erst einmal in allen Fraktionen offene Türen ein. Selbst bei konservativen Gesundheitspolitikern hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mehr braucht als eine Mehr-Honorar-für-Ärzte-Politik. Das heißt nicht, dass die Opposition mit dem Bisherigen zufrieden ist. Details an der jüngsten Reformgesetzgebung hat sie kritisert, ebenso aber die generelle Vorgehensweise. Die Grünen monierten beispielsweise: „Die Bundesregierung hat … bislang nur in kleinen Schritten und mit hoher zeitlicher Verzögerung berufsrechtliche Veränderungen eingeleitet und ist damit den Anforderungen an eine Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe noch lange nicht gerecht geworden.“

Die letzten Jahre mit einem gut gefüllten Gesundheitsfonds und stetig hohen Einnahmen der Krankenkassen haben es Spahn und allen, die seinen Gesetzesvorhaben zustimmen mussten, immerhin leicht gemacht, finanzielle Verbesserungen für die Gesundheitsberufe auf den Weg zu bringen. Dennoch war und ist die Reform der Gesundheitsberufe überlagert vom Streit ums Geld. Aus der Antwort auf die Kleine Anfrage der Grünen zur Reform der Gesundheitsberufe geht hervor, dass es beim Thema Schulgeldfreiheit immer noch holpert. Sie ist beispielsweise noch immer nicht überall für alle Heilmittelberufe umgesetzt. Das sorgt für Konkurrenz zwischen den Ländern, bringt den Bund unter Druck und verzerrt den Arbeitsmarkt. Dabei sind die Ausbildungszahlen rückgängig: 2017/2018 erfasst die Statistik 9.716 Schülerinnen und Schüler in Ergotherapie, rund 500 weniger als 2010/2011. Bei den zukünftigen Logopäden waren es 3.237, ein Rückgang um etwa 400, bei den Physiotherapeutinne und -therapeuten 21.220, ein Rückgang um mehr als 2.000, in der Podologie 1.149, ein Rückgang um knapp 200. Viele Fragen zur Qualifizierung der Heilmittelerbringer konnte die Bundesregierung gar nicht beantworten, weil nur die Länder über entsprechende Daten verfügen, zum Beispiel zu privater und staatlicher Schulträgerschaft, Bachelorstudiengängen, Studierendenzahlen.

Nicht zuletzt stritten Bund und Länder bei sämtlichen Berufsreformen ums Geld. So forderten beim Hebammenreformgesetz Finanz- und Kulturausschuss den Bund auf, den entstehenden Erfüllungsaufwand der Länder vollständig zu übernehmen – was dieser ablehnte. Die Länder hatten argumentiert, sie seien schon durch die Umsetzung des Pflegeberufegesetzes und das neue Psychotherapeutengesetz belastet.

Dass die Reformen der Gesundheitsberufe nicht konsistent sind, war ebenso immer wieder Gegenstand in den Bundestagsanhörungen mit Experten und auch in den Stellungnahmen des Bundesrats. So hatten die beteiligten Ausschüsse der Länderkammer im Hinblick auf die umstrittene Reform des PTA-Berufsgesetzes angemerkt, dass die meisten Reformeckpunkte in der AG von Bund und Ländern konsentiert seien: Man wolle die Schulgeldabschaffung, eine Ausbildungsvergütung und einheitliche Regelungen zur Anforderugen an Lehrkräfte und Schulleitungen. Auch solle erreicht werden, dass die Gesundheitsfachberufe nicht aufgrund von Ausbildungsregelungen „untereinander in Konkurrenz treten“. Mit der PTA-Reform aber verhelfe man dem Beruf nicht zur Attraktivitätssteigerung und schaffe keine Qualifikation, „die zukunftsorientiert als tatsächliche Assistenz des Pharmazeuten“ ausgestaltet ist. Noch nicht einmal das Schulgeld wird für PTA abgeschafft.

 

Ausblick auf 2020: Zehn Thesen zur Reform der Gesundheitsberufe

Was ist für 2020 zu erwarten? Jens Spahn will, das hat er mehrfach angekündigt, die Reform der Gesundheitsberufe in diesem Jahr fortsetzen. Erwartet werden als nächstes Veränderungen an den Berufsordnungen der Heilmittelerbringer. Ende Januar kündigte die Parlamentarische Staatssekretärin Sabine Weiss in der Fragestunde des Bundestags an, Eckpunkte des Gesamtkonzepts zur Reform der Gesundheitsberufe (siehe auch Analyse Teil 1) würden derzeit „mit den Ländern fachlich konsentiert“. Im I. Quartal werde die politische Konsentierung erfolgen, wofür sich „die Staatssekretärs-Arbeitsgruppe Wissenschaft und Gesundheit unter Beteiligung der Bundesregierung“ treffen werde.

Angekündigt wurde das Konzept schon oft, ob es jetzt wirklich kommt, wird man sehen. Auch ohne das Bund-Länder-Paket kann Jens Spahn weitere Berufsreformen in Angriff nehmen. Die Länder wissen, dass sie sich ebenso wie der Bund bewegen müssen. Ein Dilemma wird alle begleiten: Modernisierungen sind unabdingbar, wenn man genügend Frauen und Männer für Pflege in Altenheimen, für Physiotherapie in Reha-Einrichtungen oder für den Einsatz in Arztpraxen und Apotheken gewinnen will. Doch spürbare schnelle Erfolge in der Versorgung sind nicht zu erwarten – selbst wenn man mit großem Elan vorgeht.

Warum – auch darauf wird in den folgenden zehn Thesen eingangen. Sie benennen, was die einzelnen Reformvorhaben verbindet und was sie unterscheidet, welche größeren Linien sich in diesem Modernisierungsprozess erkennen lassen, wie wichtig die gute Einnahmesituation der Krankenkassen war. Und sie umfassen eine Einschätzung, wie die begonnenen Reformen zu bewerten sind und welche Erwartungen sich damit wohl nicht erfüllen werden.

  1. Die Reform verschiedener Gesundheitsberufe/ ihrer „Arbeitsumgebungen“ ist ein großes Thema dieser Legislaturperiode.
  2. Dominierend war dabei zunächst die Besserstellung der Pflegeberufe. Ging es der Koalition in der zurückliegenden 18. Legislaturperiode eher um die Stärkung der Pflege, so ist Ziel der 19. Legislaturperiode eher die Pflegepersonalstärkung. Erste Reaktionen zeigen aber, wie schwer diese im Detail ist: Es bleibt bei einem Arbeitskräftemangel, es kommt zu unerwünschten Effekten wie Verdrängung, Konkurrenz mit anderen Gesundheitsberufen etc.
  3. Viele Reformvorhaben eint ein EU-Bezug: Die Regeln der Europäischen Union in Bezug auf Freizügigkeit und Berufsausübung sowie der Bolognaprozess spielen eine Rolle. Relevant ist aber auch die Konkurrenz um Fachkräfte innerhalb Europas, die mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz adressiert wird.
  4. Die jetzige Bundesregierung möchte sich angesichts der demografischen Herausforderungen offenbar weniger als Vorgängerregierungen allein auf die bislang dominante Rolle der Ärztinnen und Ärzte bei der Sicherung der Gesundheitsversorgung verlassen. Sie will den Eindruck erwecken, verstanden zu haben, dass eine gute Gesundheitsversorgung ohne ausreichend (qualifizierte) Pflegekräfte, Physiotherapeuten oder Hebammen nicht möglich ist. Treibend dürften nicht nur die Alterung der Gesellschaft sein und die Zunahme chronisch Kranker, sondern auch die Versingelung: 2018 lebte jeder 5. in einem 1-Personen-Haushalt.
  5. Damit Veränderungen im Bereich der Gesundheitsberufe wirksam werden können, ist der Bund auf Umsetzung und Engagement in den Bundesländern und an vielen Stellen im System angewiesen. Ob diese umfassend gelingen, ist fraglich.
  6. Die mittelfristigen finanziellen Folgen einer Aufwertung der Gesundheitsberufe sind nicht absehbar. Auch hier gilt: Die Bundesregierung hat bislang die gute finanzielle Situation der Krankenkassen genutzt. Doch die Konjunktur trübt sich ein. Gut möglich, dass die hehren Absichten in Bezug auf die Gesundheitsberufe nicht mit den finanziellen Bedingungen der Zukunft übereinstimmen werden.
  7. Die Bundesregierung muss handeln, weil eine gute Gesundheitsversorgung eine ausreichende Zahl an qualifizierten Angehörigen von (nicht-ärztlichen) Gesundheitsberufen benötigt. Doch kurzfristige Erfolge sind schwer vorstellbar: Das Image mancher Berufsfelder ist schlecht, der Personalmangel immens (Pflege), die Akademisierung ein komplexes Unterfangen (Hebammen) mit je nach Berufsgruppe ungewissem Ausgang (Abwanderung vom Bett? Ins Ausland? In Verwaltungen?). Die Einkommenssituation im Vergleich mit anderen Berufsfeldern ist noch unattraktiv (Heilmittelerbringer). Die Unzufriedenheit vieler in den Gesundheitsberufen wird erst einmal bleiben.
  8. In Bezug auf die Reformziele Erweiterung der Aufgaben und mehr Autonomie ist Jens Spahn noch nicht allzu weit gekommen. Auch das dämpft die Stimmung in den nicht-akademischen Gesundheitsberufen.
  9. Eine Herausforderung in allen Gesundheitsberufen ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Thema wird regelmäßig aufgerufen, doch gibt es noch keine wirklich umfassenden Lösungen. Einzig ein Sachverständiger hat in der Anhörung zum Pflegepersonalstärkungsgesetz darauf verwiesen, dass viele hier Augenwischerei betreiben.
  10. Aufgewertete Gesundheitsberufe werden sich durch Abgrenzung behaupten müssen und wollen – vor allem gegenüber der Ärzteschaft. Dieser Emanzipationsprozess ist nachvollziehbar. Doch er wird die allseits geforderte multiprofessionelle Zusammenarbeit erschweren. Die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ im Gesundheitswesen wird sich so möglicherweise fortsetzen.

 

Sabine Rieser
Freie Journalistin für Gesundheitspolitik
Autorin Observer Datenbank und Observer Gesundheit


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