STIKO: War da was?

Die Ständige Impfkommission schiebt Probleme vor sich her

Dr. Heinrich Walter

Noch vor einem Jahr war die Ständige Impfkommission (STIKO) in aller Munde. Es ging vor allem um die Empfehlungen zur Booster-Impfung gegen Corona. Seitdem ist es um die Kommission still geworden. Die öffentliche Kritik, die in der Pandemie vielfach geäußert wurde, scheint vergessen. Die wegen des Ablaufs der Berufungsperiode fällige Neubesetzung steht aus. Die bisherigen Mitglieder machen einfach weiter. Eine neue Studie des IGES-Instituts zeigt, dass durch die pandemiebedingte Priorisierung der STIKO-Arbeit wichtige Themen zurückgestellt werden mussten. 

Wie kann die Legitimation und Glaubwürdigkeit der Kommission verbessert werden? Wie kann sie schneller und effizienter werden? Das sind Fragen, die spätestens im Herbst wieder aufkommen. Dann geht es nämlich erneut um die Corona-Booster und die Impfung gegen eine – als ungewöhnlich stark befürchtete – Grippewelle. Höchste Zeit, die STIKO zu stärken!

 

Anfrage der CDU/CSU-Fraktion

Vor einem Jahr hatte die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag noch einmal nachgefragt.[1] Sie wollte aktuelle Informationen zur „Arbeit und Ausstattung der Ständigen Impfkommission“. In der Vorbemerkung der Kleinen Anfrage wurde die Bedeutung der STIKO für den Gesundheitsschutz und die Krankheitsbekämpfung in Deutschland hervorgehoben. Explizit verwiesen wurde auf die Tatsache, dass durch die Konzentration der STIKO auf die COVID-19-Schutzimpfungen während der Pandemie andere Schutzimpfungen nicht bearbeitet werden konnten und es dadurch zu einem Rückgang der entsprechenden Impfquoten kam. In der Anfrage wurden verschiedene Kritikpunkte der vergangenen Debatte aufgegriffen: Zusammensetzung des Gremiums, Höhe der Arbeitsbelastung für die ehrenamtlichen Mitglieder, (mangelnde) Unterstützung durch die Geschäftsstelle beim Robert-Koch-Institut (RKI), (zu geringe) Geschwindigkeit bei der Verabschiedung von Impfempfehlungen etc.

Die Antworten der Bundesregierung waren – wie üblich – mehr oder weniger aufschlussreich. Zur Zusammensetzung: Während der Pandemie wurde z.B. gefragt, warum in der STIKO ausschließlich Mediziner sitzen, obwohl sie mit der Priorisierung auch gesellschaftspolitisch höchst relevante Weichenstellungen vorgab. Die Antwort der Bundesregierung auf die entsprechenden Fragen beschränkt sich jedoch auf die Wiederholung des Gesetzestextes, nach dem das BMG „Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen der Wissenschaft und Forschung, aus dem Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der niedergelassenen Ärzteschaft mit Expertise im Bereich der Impfprävention“ beruft. Wie die Personalauswahl tatsächlich zustande kommt, bleibt völlig offen. Warum sind nur Ärzte in der Kommission? Wo kommen die Namen her? Wer gibt Empfehlungen ab? Wer wählt im BMG aus? Etc.

Zur Arbeitsbelastung der Mitglieder wird lakonisch mitgeteilt, dass sich ein Durchschnitt nicht abschätzen lässt, „da die Mitglieder in verschiedenen Arbeitsgruppen tätig sind und die Arbeitsbelastung themenorientiert unterschiedlich ist.“ Die Bundesregierung will auch an der Ehrenamtlichkeit der Mitglieder festhalten. Die stimme mit den „von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgegebenen internationalen Standards“ überein. Eine „strukturelle Neukonstituierung ist aus Sicht der Bundesregierung nicht notwendig“, heißt es. Die STIKO arbeite bereits auf einem international sehr hohen Niveau. Verwiesen wird pauschal auf die Unterstützung durch die Geschäftsstelle beim RKI. Auf die in der Pandemie offensichtlich gewordene Überforderung des Gremiums wird dagegen überhaupt nicht eingegangen. Zu den „Zeiträumen von der Zulassung eines Impfstoffs bis zu einer Empfehlung der STIKO“ wird abwiegelnd erklärt, die hingen von „zahlreichen Faktoren ab“; eine „zeitliche Obergrenze“ existiere nicht. Die STIKO strebe an, „zeitnahe Stellungnahmen zu zugelassenen Impfstoffen abzugeben“. Zudem seien nicht alle Themen aus Bevölkerungssicht im gleichen Maße wichtig, insofern finde eine Priorisierung statt.

Auch die defizitäre Öffentlichkeitsarbeit der STIKO war Gegenstand der Kleinen Anfrage. Insbesondere ging es um die im Juli 2022 verabredete Einrichtung einer Pandemie-Arbeitsgruppe (PAIKO-AG), die die Kommunikation zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und der STIKO sowie gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit koordinieren soll. Die Arbeitsgruppe, sollte sich im August 2022 konstituieren. Seitdem hat man nichts mehr davon gehört.

 

Was hat sich in der Zwischenzeit getan?

Nun ist es nicht so, dass sich überhaupt nichts getan hätte. „Die STIKO Geschäftsstelle und das Team der Impfmodellierung wurden mit insgesamt sechs Personalstellen im Haushaltsjahr 2022 gestärkt“, darunter eine „bevorzugt“ ärztliche Leitung der STIKO-Geschäftsstelle, die sowohl Führungsaufgaben als auch die Übernahme einer inhaltlichen oder erregerspezifischen Zuständigkeit umfasst. Das geht – darauf muss man erst mal kommen – aus einem (im Internet inzwischen nicht mehr auffindbaren) Stellenangebot des RKI hervor („Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Wissenschaftlicher Mitarbeiter als Leitung der STIKO-Geschäftsstelle (m/w/d) bis 22.04.2022“). In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage wurde auch erklärt, die Mitglieder der STIKO würden turnusmäßig alle drei Jahre durch das BMG berufen: „Die geplante neue dreijährige Berufungsperiode der STIKO beginnt im März 2023.“ Nach Auskunft der Website (Stand 13. Juli 2023) der STIKO hat sich die Personalbesetzung jedoch überhaupt nicht verändert.

Angesichts der Kritik an der Zusammensetzung der STIKO (Überalterung, zu lange Amtsdauer[2], fachlich zu enge Auswahl) scheint unterdessen im BMG doch ein Denkprozess in Gang zu kommen. Man ist sich offenbar nicht mehr so sicher, dass keine „strukturellen“ Veränderungen erforderlich sind. So wurde kürzlich eine befristete Referentenstelle für das BMG-Referat 616 „Impfungen, STIKO“ ausgeschrieben: Hauptaufgabe ist die „Begleitung des Neustrukturierungs-/Berufungsprozesses“ der STIKO.[3]

Auch der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich am 8. Februar 2023 noch einmal mit der Arbeit der STIKO beschäftigt. In einem „Fachgespräch zur Arbeitsweise und geplanten Neuausrichtung der Ständigen Impfkommission (STIKO)“ wurden Verbesserungsmöglichkeiten beraten. Dabei erklärte der STIKO-Vorsitzende Thomas Mertens, es habe sich gezeigt, dass die „Kommunikation teils ein größeres Problem sei als die Bearbeitung der Themen. Zudem seien Personalkapazitäten in der Geschäftsstelle zu knapp. Das habe dazu geführt, dass andere wichtige Impfempfehlungen liegen geblieben seien. Mertens betonte, Impfstoffe würden immer komplexer und erforderten komplexere Empfehlungen.“ Andere Experten wiesen darauf hin, dass in der näheren Zukunft viele neue Impfstoffe zu erwarten seien. Auch die Transparenz während der Entscheidungsfindung der STIKO könne verbessert werden. Cornelia Betsch, Expertin für Gesundheitskommunikation der Universität Erfurt, wies darauf hin, dass in der Corona-Pandemie die Zahl der Befürworter von Impfungen deutlich gesunken sei, während sich die Zahl der Menschen, die in dem Punkt unsicher seien, vergrößert habe. „Dies habe auch Auswirkungen auf die Arbeit der STIKO. Das Vertrauen müsse wieder aufgebaut werden. Betsch plädierte dafür, die STIKO-Geschäftsstelle und die Kommission mit Experten aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften aufzustocken, um die Kommunikation zu stärken und auch über Akzeptanzfragen zu beraten“ .[4] Trotz der Anhörung kam es bisher nicht zu Gesetzesinitiativen oder anderen, sichtbaren Aktivitäten des BMG.

In der Wahrnehmung der Fachszene kam die STIKO immerhin noch einmal Anfang April dieses Jahres vor: Die Empfehlungen der STIKO determinieren bekanntlich die Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen. Nach § 20i Abs. 1 SGB V haben die Versicherten Anspruch auf Leistungen für Schutzimpfungen, die die STIKO empfiehlt. Dazwischengeschaltet ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der die Empfehlungen regelhaft in seine Richtlinien nach § 92 übernimmt. Da die Bundesregierung die Finanzierung der COVID-19-Impfungen (aus Haushaltsgründen) beendet hat, sollte diese Leistung in die „Regelversorgung“ der GKV überführt werden. Das ist durch Beschlüsse des G-BA mit Wirkung ab 8. April 2023 geschehen[5].

 

Defizite der STIKO in der Pandemie

In einer Studie des IGES-Instituts wurde der Einfluss der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Erarbeitung von STIKO-Empfehlungen genauer untersucht.[6] Da die STIKO in vieler Hinsicht transparent arbeitet und ihre gesamte Tätigkeit dokumentiert (insbesondere durch die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle etc.), war eine quantitative Erfassung des Inhalts dieser Dokumente möglich. Vorgenommen wurde ein Vergleich der beratenen Indikationen unter „normalen“ präpandemischen Bedingungen (2015-2019) und in den von der SARS-CoV-2-Pandemie geprägten Jahren 2020 bis 2022. Erfasst wurden Anzahl und inhaltliche Ausrichtung der Befassungen der STIKO. Dabei zeigten sich erhebliche Veränderungen: In der krisenhaften Situation galten seit der Zulassung von Covid-19-Impfstoffen neue Prioritäten – gleichwohl ist die Arbeit an anderen Themen nicht völlig zum Erliegen gekommen. Die Befassungsintensität aller nicht COVID-19 Indikationen ging jedoch massiv zurück (Seite 10). „Die Zahl der pro Jahr bearbeiteten unterschiedlichen Indikationen sinkt in den STIKO-Protokollen von durchschnittlich 14 auf vier Befassungen in 2021, bereinigt um COVID-19 auf nur drei, ein Rückgang um 72 %.“ Die Beschäftigung mit „neuen Indikationen und Sachverhalten“ ging drastisch zurück (Seite 11). Die Fokussierung auf COVID-19 „ging klar zu Lasten der Kapazitäten für die Bearbeitung anderer neuer Indikationen“ (ebenda).

Um diesem Mangel abzuhelfen und im Hinblick auf künftige Pandemien vorbereitet zu sein, machen die Autoren den Vorschlag, eine „Krisenreaktionsreserve“ – als eine Art Schatten der STIKO – einzurichten. Vor dem Hintergrund der WHO-Standards komme eine „strukturelle Neukonstituierung wohl nicht“ in Frage, „denn die STIKO erfüllt die hier festgelegten Kriterien“ (Seite 12). Vorgeschlagen werden stattdessen u.a. eine bessere Ausstattung der Geschäftsstelle im RKI, eine bessere Entschädigung für den Zeitaufwand der ehrenamtlichen Mitglieder der STIKO und die Einrichtung eben jener „Krisenreaktionsreserve“ (Seite 12ff.). Sie sollte aus ehemaligen Mitgliedern und weiteren unabhängigen sowie mit der Arbeitsweise der STIKO vertrauten Persönlichkeiten mit 12 bis 18 Mitgliedern bestehen und bei Überschreitung bestimmter Schwellenwerte der Arbeitslast durch einen Beschluss der STIKO aktiviert werden können.

Ob der Vorschlag einer „Reservekommission“ tatsächlich zielführend ist, muss hier offen bleiben. Aufrechtzuerhalten ist ja vor allem die Arbeit in den z.T. seit Jahren bestehenden Arbeitsgruppen, die sich mit bestimmten Indikationen befassen und die aufwändige Evidenzrecherchen und -bewertungen durchführen. Dass die „Reserve“ diese Aufgaben nahtlos übernehmen könnte, ist unwahrscheinlich. Dass sie umgekehrt die neuen Themen übernehmen soll, wäre für die regulären Mitglieder der STIKO sicher nicht akzeptabel. Wie dem auch sei: Die detaillierte Daten-Aufbereitung der Studie gibt einen guten Eindruck zum Arbeitsvolumen der Kommission und zum Priorisierungsproblem.

 

Das Mega-Thema der vergangenen Jahre: ohne Konsequenzen?

Auszugehen ist jedenfalls von dem in der IGES-Studie formulierten Grundsatz: Aus den Erfahrungen der SARS-CoV-2 Pandemie muss gelernt werden. „Die STIKO muss strukturell so aufgestellt werden, dass sie jederzeit in der Lage ist, sowohl den regulären nicht-pandemischen Anforderungen gerecht zu werden als auch auf pandemische Entwicklungen zu reagieren“ (Seite 12). Von einer entsprechenden Vorbereitung ist jedoch nichts zu sehen.

Die Stagnation in Sachen STIKO ist dabei jedoch nur symptomatisch für die meisten erforderlichen bzw. wünschenswerten „Learnings“ aus der Pandemie. Das gilt für das BMG, die Bundesregierung insgesamt und auch die Landesbehörden. Auch das letzte Gutachten des Sachverständigenrats Gesundheit vom Anfang des Jahres, das sich ja wesentlich mit den Pandemie-Erfahrungen beschäftigt, ist bisher weitgehend ohne Konsequenzen geblieben.[7] Minister Lauterbach, vormals als Pandemie-Erklärer Held aller Talkshows, hat das Thema stillgestellt. So ist nicht ausgeschlossen, dass es im späten Herbst ein böses Erwachen geben wird.

 

[1] Deutscher Bundestag: Drucksache 20/3181 vom 24.08.2022

[2] Die durchschnittliche Amtsdauer der aktuellen 17 Mitglieder liegt bei über 12 Jahren.

[3] Stellenangebot Referentin/Referent (w/m/d) für das Referat 616 „Impfungen, STIKO“ (BMG-2023-020) bis 31.05.2023. Ebenfalls im Internet inzwischen gelöscht.

[4] Deutscher Bundestag 2023: „Experten empfehlen Stärkung der Ständigen Impfkommission“, https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-933396

[5] G-BA 2023: Fachnews Arzneimittel: „G-BA passt seinen ersten Beschluss zu COVID-19-Impfungen an aktuelle STIKO-Empfehlungen an“ https://www.g-ba.de/service/fachnews/54/

[6] Norbert Gerbsch et al.: „Zugang zu Impfstoffen“, Studienbericht für GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG, Berlin, Dezember 2022. https://www.iges.com/sites/igesgroup/iges.de/myzms/content/e6/e1621/e10211/e29580/e29644/e29645/e29647/attr_objs29663/IGES_ZugangzuImpfstoffen_20221229_ger.pdf

[7] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: „Resilienz im Gesundheitswesen – Wege zur Bewältigung künftiger Krisen. Gutachten 2023“. https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2023/Gesamtgutachten_ePDF_Final.pdf. Siehe auch kommentierend dazu Robert Paquet: „Was bleibt?“, OBSERVER Gesundheit vom 1.3.2023. https://observer-gesundheit.de/was-bleibt/


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