07.05.2021
„In Deutschland fehlt es an funktionierenden Public-Health-Strukturen“
Verbindlicher Gesundheits-Check für alle politischen Entscheidungen
Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB, Sprecherin für Gesundheitsförderung, Obfrau im Gesundheitsausschuss der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Gesundheit ist kein rein individuelles Geschehen. Vielmehr hängt unsere Gesundheit maßgeblich von unserer Umwelt, unseren Lebensbedingungen ab – also von Faktoren, auf die Menschen häufig nur einen geringen Einfluss haben Diese Feststellung mag auf den ersten Blick wie ein Allgemeinplatz klingen. Tatsächlich aber orientiert sich die Gesundheitspolitik noch immer primär an der Individualmedizin. Unser heutiges Gesundheitswesen funktioniert bislang überwiegend nach folgendem Schema: Definierte Krankheiten werden zunächst diagnostiziert, dann behandelt und schließlich bestenfalls geheilt. Die öffentliche Gesundheitsfürsorge spielt demgegenüber bislang hierzulande eine untergeordnete Rolle.
Fluch und Segen dieser Konstellation zeigen sich in der Corona-Pandemie. Die Tatsache, dass wir sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor starke individualmedizinische Kapazitäten – und zwar in personeller, technischer und finanzieller Hinsicht – vorhalten, hat unser Gesundheitssystem in der Corona-Pandemie vor dem Kollaps bewahrt. Zweifelsohne ist ein eher krankheitsorientiertes Gesundheitswesen zur akuten Versorgung einzelner Erkrankungen gut geeignet.
BZgA mit Gesundheitskommunikation offensichtlich überfordert
Gleichzeitig fehlt es in Deutschland an funktionierenden Public Health-Strukturen: Die kommunalen Gesundheitsämter waren aufgrund ihrer chronischen Unterfinanzierung schnell mit der Kontaktnachverfolgung überlastet, die Kommunikation untereinander, aber auch mit den übergeordneten Behörden funktionierte aufgrund fehlender gemeinsamer digitaler Schnittstellen lange nicht. Eine effektive Impfkampagne, umfangreiches Testen und breit angelegte Gensequenzierungen – das alles kam viel zu spät und bleibt bis heute unzureichend. Ebenso wie die Gesundheitskommunikation, mit der die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) offensichtlich überfordert ist. Dabei ist eine gute, zielgerichtete Gesundheitskommunikation für die Akzeptanz der Infektionsschutzmaßnahmen und die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung von herausragender Bedeutung.
Ziel: dauerhafte Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens
All das führte dazu, dass wir den Corona-Wellen – zwar mit bislang glücklicherweise ausreichenden individualmedizinischen Kapazitäten – hinterherliefen, aber nie vor die Pandemie kamen, sie nie wirklich kontrollieren konnten. Unser Ziel für die kommende Legislaturperiode muss daher eine dauerhafte Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens sein. Nun geht es nicht darum, die Individualmedizin und die öffentliche Gesundheitsfürsorge gegeneinander auszuspielen. Das Ziel muss vielmehr darin liegen, die Bevölkerungsmedizin zu stärken und sie enger mit der Individualmedizin zu verzahnen. Dabei wird die Überwindung der Sektorenbrüche eine bedeutende Rolle einnehmen.
Wir Grüne wollen die Public Health-Perspektive in unserem Gesundheitswesen daher deutlich ausbauen. Wir fordern einen verbindlichen Gesundheits-Check für alle politischen Entscheidungen, damit die Verantwortung für Gesundheit nicht den Einzelnen zugeschoben, sondern als öffentliche Aufgabe wahrgenommen wird. Ein solches „Health impact assessment“ sollte zentraler Baustein einer ressortübergreifenden Strategie für Gesundheitsförderung sein, die darüber hinaus konkrete Ziele, Indikatoren und Zeitpläne beinhalten sollte.
ÖGD-Finanzen auf ein Prozent der Gesamtausgaben Gesundheit anheben
In diesem Zuge bedarf auch der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) einer dauerhaften, verlässlichen Stärkung. Es reicht dabei nicht, den ÖGD endlich als dritte Säule im Gesundheitssystem, neben dem ambulanten und dem stationären Sektor, anzuerkennen. Vielmehr muss der bevölkerungsmedizinische, gesundheitsfördernde und präventive Ansatz des ÖGD besser mit der individualmedizinischen, kurativen Ausrichtung des ambulanten und des stationären Sektors verzahnt werden. Die Gesundheitsdienste der Länder und Kommunen sollen daher künftig stärker in die Gesundheitsförderung und Prävention in den Lebenswelten eingebunden werden. Außerdem muss der ÖGD wieder in die Lage versetzt werden, flächendeckend gesundheitsfördernde Aufgaben umzusetzen, die größeren Segmenten der Bevölkerung dienen, etwa Schuleingangsuntersuchungen, Hygieneberatungen oder Beratungs- und Hilfsangebote für psychisch kranke Menschen. Wir Grüne schlagen dazu vor, die Ausgaben für den ÖGD auf mindestens ein Prozent der Gesamtausgaben für Gesundheit anzuheben; auch der Bund sollte dazu über den „Pakt für den ÖGD“ hinaus einen dauerhaften Beitrag leisten. Ein neues Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit sollte zudem die Funktionsfähigkeit und die Qualität der durch die Gesundheitsämter erbrachten Leistungen sicherstellen.
Die Notwendigkeit einer Stärkung von Public Health ergibt sich nicht zuletzt aus der sich verschärfenden Klimakrise und ihren Folgen für die menschliche Gesundheit. Zunehmend mehr Menschen entwickeln in Folge der Erderhitzung Allergien, Hitzewellen erhöhen die Gefahr von Dehydrierung, Hitzschlag sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch die Entstehung von bodennahem gesundheitsgefährdendem Ozon wird begünstigt. Vulnerable Gruppen trifft dies besonders hart, bei Pflegebedürftigen ist bereits eine gesteigerte Morbidität durch die Folgen des Klimawandels nachgewiesen.
Klimaschutz ist immer Gesundheitsschutz
Auch einkommensschwache Menschen sind stärker von den gesundheitlichen Auswirkungen der Umwelt- und Klimakrise betroffen, etwa weil sie an viel befahrenen Straßen oder in günstigeren Dachgeschosswohnungen leben, die sich stark aufheizen. Daraus folgt zum einen die Beobachtung, dass Klimaschutz auch immer Gesundheitsschutz ist. Je stärker wir den Planeten vor Umweltzerstörung und Erhitzung schützen, desto besser schützen wir unsere eigene Gesundheit. Doch auch andersherum wird ein Schuh draus: Gesundheitsschutz – oder besser: Gesundheitsförderung – ist Klimaschutz. Je mehr wir in die konsequente Förderung von Gesundheit der gesamten Bevölkerung investieren, etwa durch den Ausbau von Fuß- und Radwegen, den Umstieg auf eine grüne Landwirtschaft und die Produktion guten und gesunden Essens, desto besser werden wir die Folgeschäden des Klimawandels eindämmen können.
Das Ziel der kommenden Legislaturperiode muss also in einer deutlichen Ausweitung der Public Health-Perspektive in unserem Gesundheitswesen und in politischen Entscheidungsprozessen generell liegen. Gesundheit in allen Politikfeldern („Health in all policies“) muss endlich, wie es schon lange die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina im Jahr 2015 gefordert hat, „zur Priorität in Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft werden“.[1]
[1] www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2015_Public_Health_LF_DE.pdf
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