Die Corona-Pandemie zeigt: Effizientes Daten-Management gewinnt

Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstitutes für die Kassenärztliche Versorgung (Zi)

Der erfolgreiche Kampf gegen das COVID-19-Virus hat viele Väter: persönliches Engagement, organisatorisches Vermögen, finanzielle Mittel. Und das auf vielen Ebenen: in Politik und Verwaltung, in der Wissenschaft, im öffentlichen Gesundheitswesen und in der medizinischen Versorgung. Erfolgreich getriggert werden diese Elemente jedoch erst, so scheint es, durch einen weiteren Faktor: Daten.

Israel hat dies jüngst eindrucksvoll bewiesen. Auf der Grundlage eines täglichen Reporting, das den Infektions-, Impf- und Behandlungsstatus aller Bürger umfasst, lagen rasch nach Alterskohorten differenzierte, belastbare Daten vor: zunächst zum Verlust der Immunität nach ca. sechs Monaten und bereits gegen Ende einer kurzen und intensiven Kampagne zur Booster-Impfung zur Wirksamkeit einer Drittimpfung.

 

Rund 22 Millionen Menschen könnten bis Weihnachten Drittimpfung erhalten

In Deutschland steht aktuell die Frage im Raum, ob bis Jahresende an die 30 Millionen Drittimpfungen verabreicht werden können. Die tagesaktuellen Impfdaten zeigen, dass die Impfkampagne in den Praxen aktuell das Leistungshoch vom Sommer erreicht, weitere Impfstellen legen ebenfalls wieder zu. Wird die in dieser Woche erreichte Menge von rund 3,3 Millionen Impfungen verstetigt, können bis Weihnachten rund 22 Millionen Menschen eine Drittimpfung erhalten. Wer mehr will, muss dies bei der Logistik der Impfstoffverteilung realisieren können. Nichts wäre ungünstiger, als den bereits erreichten Fortschritt durch neue Impfstoffrationierungen zu verzögern.

In der Woche vom 22. November 2021 drohte die Impfkampagne empfindlich zu stocken, weil an zentraler Stelle unklar war, wie viele Impfstoffdosen zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Verimpfung ausgegeben und wie die Bestellungen impfender Praxen und anderer Impfstellen bedient werden können. Dies führte dazu, dass die Auslieferung bereits bestellter Impfdosen beschränkt und sehr kurzfristig Nachbestellungen beauftragt werden mussten. Für die Praxen war dies eine wahre Achterbahnfahrt für das Terminmanagement mit den Patientinnen und Patienten. Nicht wenige Praxisinhaberinnen und Praxisinhaber hatten Mühe, ihre am Anschlag laufenden Teams bei der Stange zu halten.

 

Unklarheit bei Frage der Verteilung des Impfstoffes

Gemessen an der strategischen Bedeutung, die das Impfen für ein erfolgreiches Pandemie-Management hat, müssen wir bis heute ein bemerkenswert unprofessionelles Daten-Management im Hinblick auf die Verfügbarkeit von Impfstoff feststellen. Es gibt keine Möglichkeit für Praxen oder andere Impfstellen, Impfstoff über ein Onlineportal zu bestellen. Hier könnten bereits bei Bestellung eventuell bestehende oder veränderte Bestellobergrenzen oder ausgehende Lieferungen angezeigt werden, damit die Terminplanung für Patientinnen und Patienten daran orientiert werden kann. Dadurch würde transparent, wie viele Einrichtungen mit welchem Umfang am Impfen beteiligt sind und wo wieviel Impfstoff verfügbar ist. Unklarheit bestand auch bei der Frage der Verteilung des Impfstoffs zwischen Impfzentren und Praxen sowie zwischen den einzelnen Bundesländern.

Die Art des gewählten Daten-Managements hat im Laufe der Impfkampagne jedenfalls mehrfach zu erheblichen Irritationen und Frustrationen bei allen Beteiligten geführt. Verzögerungen, gegenseitige Schuldzuweisungen und kritische Medienberichten waren die Folge. Damit einher ging ein Vertrauensverlust in die Leistungsfähigkeit des Staates.

 

Zu wenig Synergien, zu viele unüberbrückbare Schnittstellen

Fakt ist: In Deutschland weisen die für das Pandemie-Management kritischen Informationsflüsse zu viele Bruchstellen auf. Es gibt zu wenig Synergien, zu viele unüberbrückbare Schnittstellen. In außerpandemischen Zeiten mag das unkritisch erscheinen. In akuten Pandemie-Phasen jedoch wird reaktionsschnelles Handeln dadurch unnötig erschwert.

Während das englische Office of National Statistics (ONS) laufend bevölkerungsbezogene Studien zum Immunstatus aktualisiert hat, wird in Deutschland über die Aussagefähigkeit der PCR-Testraten, über die Größenordnung der Dunkelziffer Infizierter und die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus allenfalls gemutmaßt. Unklar ist weiterhin, wie hoch die Immunität aus Geimpften und Genesenen wirklich ist. Hier verlässt sich Deutschland auf periodische Bevölkerungsbefragungen, weniger auf die amtlichen Impfdokumentationen, die über das Dokumentationstool des Robert-Koch-Instituts (RKI) für Impfzentren, Impfstellen, mobile Teams oder Betriebsärzte oder das der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) für Arztpraxen täglich beim RKI zusammenlaufen.

In der Welt der Quartalsabrechnung ist eine solche tägliche Leistungsdokumentation bereits ein Novum, bei einfacher Ausgestaltung auch in den Arztpraxen leistbar. Aber die Pandemie treibt auch weitergehende Veränderungen an. Legendär ist die Aussage des RKI-Chefs Wieler in einer Pressekonferenz zu Beginn der ersten Pandemiewelle: Deutschland habe zu wenig Intensivbetten. Auf die Frage, wie viele davon in Deutschland verfügbar seien, antwortete er sinngemäß: Das sei zwar nicht bekannt, es müssten aber mindestens doppelt so viele sein. Hierin ist vielleicht der Startschuss zum Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu sehen, mit dem wenig später eine entsprechende Datengrundlage geschaffen wurde.

Mit einer Verordnung vom 8. April 2020 hat das Bundesministerium für Gesundheit dann einen Vorschlag der DIVI aufgegriffen und alle Krankenhäuser zum 16. April 2020 verpflichtet, die Anzahl der belegten sowie der belegbaren Betten täglich zu melden. Darüber war die Einschätzung der maximalen Kapazität für Neuaufnahmen in den jeweils folgenden 24 Stunden verpflichtend. Dabei mussten Intensivkapazitäten nach invasiver Beatmungsmöglichkeit (ICU high care), nicht-invasiver Beatmungsmöglichkeit (ICU low care) und nach extrakorporaler Membranoxygenierung (ECMO) getrennt ausgewiesen werden. Zudem hatten die Krankenhäuser dem DIVI-Intensivregister einmalig die Zahl ihrer aufgestellten Intensivbetten zum Stand 1. Januar 2020 zu melden. Betrieben wird das Intensivregister, das einen täglich aktualisierten Report veröffentlicht, von ca. 30 Mitarbeitenden (!) der DIVI und des RKI.

 

Datengrundlage bereits bei intensivmedizinischen Kapazitäten

Im deutschen Gesundheitswesen ist damit erstmalig eine Datengrundlage über vorhandene Versorgungsstrukturen und deren Inanspruchnahme quasi in Echtzeit geschaffen worden. Dies muss angesichts der kritischen Bedeutung der intensivmedizinischen Kapazitäten für gesundheits- und gesellschaftspolitische Entscheidungen des Pandemie-Managements positiv gewürdigt werden. Schließlich ist es bis heute die Inanspruchnahme der Intensivstationen durch COVID-19-Fälle, an der sich eine drohende Überlastung des Gesundheitswesens zuerst manifestiert. Diese Rolle als kritische Infrastruktur dürften die Intensivstationen auch bis zu einer ausreichenden Verfügbarkeit geeigneter Arzneimittel-Therapien für bereits Infizierte behalten.

Die mit diesem Instrument geschaffene Transparenz muss aber auch transparent eingeordnet werden. Die für die Behandlung von COVID-Patienten verfügbare Kapazität ist kein absolutes Maß, auch wenn das im Geiste erzeugte Bild einer bestimmten Anzahl von Betten in einer funktional und räumlich klar definierten Intensivstation dies nahelegt.

Tatsächlich ist die verfügbare Kapazität abhängig vom Personalstand sowie von Anpassungen technischer Art und der Erwartung laufender Belegungen am Meldetag. Es handelt sich mithin, wie bei vielen anderen Indikatoren im Gesundheitswesen, um eine latente Größe, deren Abbildung einer methodischen Konvention bedarf. Latente Größen erhalten ihre Aussagekraft in der Regel auch nicht bezogen auf einen einzigen Zeitpunkt x, sondern durch Betrachtung ihrer Veränderung im Zeitablauf. Für die Anzahl verfügbarer, für COVID-Patienten geeigneter Intensiv-Behandlungsplätze gibt es somit durchaus eine bemerkenswerte Variabilität. Während die Gesamtzahl der verfügbaren Intensivplätze seit Auslaufen der finanziellen Förderung der Vorhaltung und mit der Aussicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eine andauernde Belastung durch COVID-Patienten laufend kleiner wird, kann die die Zahl der für COVID-Patienten geeigneten Intensivplätze auch plötzlich ansteigen. Ein Beispiel: Während am 19. November bei 3.361 erwachsenen COVID 19 Fällen noch 757 COVID-geeignete Betten frei waren, sind es am 1.12. bei 4.666 erwachsenen COVID-ITS-Fällen 882 Betten. Kurzfristig bietet das Intensivregister somit jeweils eine Hilfestellung für die Beurteilung der veränderten Belastung der Intensivstationen. Man sollte sich aber davor hüten, daraus einen fixen Grenzwert für eine potenzielle Überlastung abzuleiten. Vielmehr bietet das DIVI-Register neben der Informationsfunktion für Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger auch die Grundlage für weitergehende Forschungsfragen, so z.B. welche Faktoren und Entscheidungsprozesse wie auf die Veränderung der Kapazitäten wirken.

 

Tempo der Versorgungsforschung massiv beschleunigt

Wir im Zi nehmen wahr, dass die Pandemie das Tempo der Versorgungsforschung massiv beschleunigt hat – jedenfalls soweit Fragen des Pandemie-Managements betroffen sind. An die Stelle einzelner Analysen tritt eine Vielzahl von Auswertungen laufender Datenströme. Es ist eine Ära der „Dashboards“, mit deren Hilfe tagesaktuelle Situationsbeurteilungen möglich gemacht werden sollen, anhand derer Krisenstäbe und Entscheidungsträger arbeiten und kommunizieren können. Selten waren aber auch die Bürgerinnen und Bürger so gut über aktuelle Entwicklungen im Gesundheitswesen informiert, die ebenfalls in tagesaktuellen Tabellen, Grafiken und interaktiven Landkarten in Publikumsmedien zu finden sind. Ein bislang unterschätzter Teil des Pandemie-Managements besteht offenbar darin, mit den verfügbaren Daten und neuen Erkenntnissen eine öffentliche Kommunikation zu gestalten – eine Kommunikation, die evidenzbasiert klare Linien für Verhaltensmaßregeln vorgibt und die Möglichkeiten von Prognosemodellen nutzt, um wieder mehr Berechenbarkeit politischer Entscheidungen herzustellen.

Für die Versorgungsforscher dagegen gilt es jetzt bereits darüber nachzudenken, wie Ansätze des Daten-Managements aus Pandemiezeiten auf die Regelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung übertragen werden können. Auch die Resilienz unserer Regelversorgung wird davon abhängen, ob Veränderungen der medizinischen Versorgung in den Regionen zeitnah erkannt und darauf mit geeigneten Maßnahmen reagiert werden kann.


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