Armut gefährdet psychische Gesundheit

Für mehr Sozialkompetenz des Gesundheitswesens / Woche der seelischen Gesundheit vom 10. bis 20. Oktober 2022

Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer

Globale Krisen wie Klimawandel, Pandemien oder Kriege verändern unser aller Leben, aber sie treffen Menschen mit niedrigen Einkommen besonders hart. Stark steigende Lebensmittel- und Energiepreise als Folge des Ukrainekrieges oder Kurzarbeit und Entlassungen aufgrund der Corona-Pandemie bringen vor allem Menschen mit geringen Einkommen in existenzielle und psychische Notlagen. Die Krisen verschärfen die soziale Ungleichheit in Deutschland. Es ist ein sich selbst verstärkender Prozess, der Armut verschlimmert: Wer ohnehin schon wenig hat, verliert in Krisenzeiten umso mehr.

Arme Menschen haben eine niedrigere Lebenserwartung, leiden eher unter chronischen Erkrankungen, stecken sich häufiger mit Corona und anderen Infektionskrankheiten an, erleben mehr traumatische Ereignisse, Gewalt und Kriminalität und werden stärker ausgegrenzt als Menschen, die über der Armutsgrenze leben. Arme Menschen leben weniger gesund und nutzen häufiger Alkohol und andere Drogen, um die Alltagssorgen zu vergessen. Sie sind vor allem aber auch sehr viel häufiger psychisch krank: Laut Daten des Robert Koch-Institutes haben Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, hinsichtlich Bildung, Beruf und Einkommen, ein fast doppelt so hohes Risiko (37,9 %) psychisch zu erkranken wie Personen mit hohem Sozialstatus (22 %).

 

Arbeitslosigkeit häufigste Ursache für Armut

Arbeitslosigkeit ist die häufigste Ursache für Armut und bedroht die psychische Gesundheit wie kaum ein anderer Faktor: Fast jede:r zweite Erwerblose (47 Prozent) war im vergangenen Jahr in Deutschland armutsgefährdet. Psychische Erkrankungen treten bei Arbeitslosen mit 34 Prozent etwa doppelt so häufig auf wie bei Erwerbstätigen. Aber auch umgekehrt gilt: Psychische Erkrankungen führen häufiger zu Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und gesundheitsbedingter Frührente. Arbeitslosigkeit und psychische Beschwerden verstärken sich gegenseitig und führen zu einem Teufelskreislauf, den ein Mensch ohne Unterstützung kaum mehr durchbrechen kann.

Armut gefährdet die gesamte Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Armut ist bei ihnen häufig verbunden mit schlechterer Bildung, ungesünderer Ernährung, einer schlechteren allgemeinen Gesundheit sowie sozialer Isolation. Armut schränkt die Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, enorm ein. Chronischer Stress und permanente Geldsorgen der Eltern führen zu vermehrten Konflikten in der Familie, die die Kinder häufig überfordern und psychisch gefährden. In Familien mit geringen sozioökonomischen Ressourcen sind Kinder zweieinhalb Mal so oft psychisch auffällig wie in Familien mit umfangreichen sozioökonomischen Ressourcen.

Die soziale Ungleichheit hat durch die Corona-Pandemie noch weiter zugenommen. Vermehrte Kündigungen und Kurzarbeit im Niedriglohn-Sektor haben die finanzielle Notlage in benachteiligten Familien weiter verschärft. Der Wegfall von Tagesstruktur und weniger Sozialkontakte zum Beispiel durch Lockdowns führten vor allem in Familien mit beengten Wohnverhältnissen häufiger zu Konflikten, Mangel an Bewegung und übermäßiger Mediennutzung. Mit klaren Folgen: Psychische Auffälligkeiten haben im Pandemieverlauf besonders stark bei Kindern und Jugendlichen aus Familien mit einem niedrigen Einkommen und einer geringen Bildung zugenommen.

Auch Migration setzt der Psyche massiv zu. Migrant:innen sind erhöhten psychosozialen Belastungen ausgesetzt, insbesondere dann, wenn sie aufgrund von existenzieller Not und Hunger, Verfolgung und Diskriminierung oder wie aktuell ukrainische Flüchtlinge vor Krieg und Gewalt fliehen. Flucht mit oftmals traumatischen Erlebnissen, die Trennung von den Angehörigen aber auch die soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung im Aufnahmeland gefährden die psychische Gesundheit. Rund 30 bis 40 Prozent der Menschen mit Migrationserfahrung erkranken innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Das Risiko für eine posttraumatischen Belastungsstörung ist bei Flüchtlingen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um circa das Zehnfache erhöht. Experteneinschätzungen nach wird ein Drittel der geflüchteten Menschen aus der Ukraine eine psychische Erkrankung entwickeln. Bereits jetzt zeigt mehr als ein Drittel aller ukrainischen Kinder und Jugendlichen Anzeichen einer Depression, posttraumatischen Belastungsstörung oder hat Suizidgedanken.

 

Weg zur Beratung und Behandlung ebnen

Obwohl für Menschen der unteren Bildungs- und Einkommensschicht das Risiko für eine psychische Erkrankung deutlich erhöht ist, suchen sie seltener Hilfe. Und obwohl die gesetzlichen Krankenkassen Psychotherapie bezahlen, nutzen arme Menschen mit psychischen Erkrankungen Psychotherapie deutlich seltener. Oft fehlt es an Wissen über psychische Erkrankungen, ihre Symptome und die Behandlungsmöglichkeiten. Aus Unwissen, aber auch aus Angst vor Stigmatisierung werden psychische Beschwerden nicht oder zu spät erkannt oder der Weg zur Psychotherapeut:in gescheut. Menschen mit hohem Bildungsniveau lassen sich rund zwei- bis dreimal häufiger psychotherapeutisch behandeln als Menschen aus der unteren Bildungsschicht.

Doch selbst wenn das notwendige Wissen vorhanden ist, ist es für Menschen in sozialen Brennpunkten oft nicht möglich, psychotherapeutische Hilfe zu bekommen – schlicht, weil es im Viertel viel zu wenige Praxen gibt. Der chronische allgemeine Mangel an psychotherapeutischen Praxen betrifft insbesondere Menschen in Armut. Er gefährdet ihre psychische Gesundheit, führt zu mehr Krankenhausbehandlungen und zu chronischen psychischen Erkrankungen.

 

Sozialkompetenz des Gesundheitssystems verbessern – Gesundheitskioske als Chance

Psychotherapie kann in sozialen Brennpunkten viel leisten – wenn sie die Menschen erreicht. Dafür muss den Menschen der Weg geebnet werden. Es geht darum, die Sozialkompetenz des Gesundheitssystems zu verbessern. In sozialen Brennpunkten benötigen die Menschen Anlaufstellen, die ihnen helfen, die Hilfe zu finden, die sie benötigen. Das deutsche Gesundheitssystem ist für diese Menschen ein Dschungel, der undurchdringlich ist. Solche Anlaufstellen könnten die Gesundheitskioske sein, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach schaffen will. Entscheidend dafür, dass sie funktionieren, wird aber sein, dass die Helfer:innen in der Lage sind, auf Augenhöhe zu kommunizieren und Vertrauen zu ermöglichen. Dafür müssen die Helfer:innen aber auch die Sprache der Menschen in sozialen Brennpunkten sprechen, deren Alltagssprache oder deren Muttersprache. Das deutsche Gesundheitssystem muss unbedingt das Problem der Sprachmittlung lösen. Um den Teufelskreis aus Armut, Arbeitslosigkeit und psychischen Erkrankungen zu durchbrechen, müssen wir das deutsche Gesundheitssystem sozial kompetenter machen. Die Gesundheitsleistungen müssen viel besser erläutert und Menschen in Notlagen nähergebracht werden. Diese Menschen benötigen Begleiter, die wissen und erklären, welche sozialen und medizinischen Hilfen möglich sind, und sie dem Einzelnen anbieten und vermitteln – je nachdem, was er benötigt. Und sie brauchen mehr soziales Miteinander – notfalls sogar auf Rezept. Um sich auszutauschen und gemeinsam Lösungen und Unterstützung für ihre Probleme zu finden. In anderen Ländern ist dies bereits Gang und Gäbe. (Konzept des „social prescribing“).

Am Ende steht und fällt das Potenzial der Gesundheitskioske jedoch mit dem Ausbau der vorhandenen Versorgungsangebote. Denn die Vermittlung kann nur gelingen, wenn überhaupt ausreichend Behandlungskapazitäten zur Verfügung stehen. Deshalb müssen die monatelangen Wartezeiten auf eine psychotherapeutische Behandlung dringend verkürzt werden.

Psychotherapie kann aber kein Heftpflaster für gesellschaftliche Ungleichheit sein. Prävention psychischer Erkrankungen verlangt vor allem eine Bildungs- und Einkommenspolitik, die vor Armut schützt. Sie erfordert aktuell mehr passgenaue Hilfen für Menschen, die kaum noch über die Runden kommen.


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