Neuordnung der Krankenkassenaufsicht – die verschobene Reform

Bericht des Bundesrechnungshofes unterstreicht Handlungsbedarf

Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit

Während die Reformerfordernisse beim Morbi-RSA mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (FKG) weitgehend abgearbeitet sind, besteht beim Thema einheitliche Aufsicht weiterhin erhöhter Handlungsbedarf. Ein Jahr, nachdem das FKG in Kraft getreten ist, ist ein guter Zeitpunkt, um die Maßnahmen gegen die Beeinflussung von Diagnosen zu überprüfen. Im Frühjahr 2021 sollten deshalb die seither gesammelten Erfahrungen evaluiert werden. Die Ergebnisse kommen dann noch rechtzeitig, um in die im Herbst 2021 anstehenden Koalitionsverhandlungen zur Regierungsbildung einfließen zu können.

Spätestens seit 2016 sind Manipulationen durch Krankenkassen bekannt: Sie schließen gezielt Verträge mit Ärzten, um die Abrechnung von bestimmten Krankheiten zu beeinflussen und so mehr Zuweisungen über den morbiditätsorientierten Risikostrukturlausgleich (Morbi-RSA) aus dem Gesundheitsfonds zu generieren. Die Politik hat seither zwar Versuche unternommen, derlei Aktivitäten zu stoppen. Bislang allerdings mit mäßigem Erfolg. Denn die Rechtsvorschriften, mit deren Hilfe solche Manipulationen zu unterbinden wären, werden nicht einheitlich angewandt. Eine kürzlich bekannt gewordene Untersuchung des Bundesrechnungshofes (BRH) hebt diesen Missstand jetzt abermals deutlich hervor.

 

Rechnungshofs-Bericht ruht halbes Jahr im Verborgenen

Im Frühjahr 2019 führte der Bundesrechnungshof örtliche Erhebungen beim damaligen Bundesversicherungsamt und beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG) durch. Ergänzend fanden örtliche Erhebungen bei mehreren Krankenkassen und Verbänden statt. Im Herbst informierte der Bundesrechnungshof das BMG über seine Erkenntnisse und erhielt von dort im Dezember ein Feedback. Die „Abschließende Mitteilung an das Ministerium für Gesundheit über die Prüfung der Beeinflussung von Kodierungen beim morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Krankenkassen“ datiert vom 31.01.2020.

Nachdem das „Handelsblatt“ Ende Juli darüber berichtete, gab der Bundesrechnungshof die Mitteilung in Auszügen heraus. Da die ursprünglich an das BMG versandte Fassung Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse verschiedener Krankenkassen enthielt, wurden diese Daten entfernt. Das ist einerseits nachvollziehbar, andererseits sind dadurch Hinweise verlorengegangen, die das Ausmaß des finanziellen Schadens, der durch die Manipulationen verursacht wurde, präziser bestimmbar gemacht hätten. So bleibt es bei der Einschätzung, die von einer Studie des IGES-Instituts aus dem Jahr 2017 gestützt wird, dass durch die Beeinflussung von Diagnosen Beträge in Milliardenhöhe verschoben wurden.

 

Prüfer legen Finger in die Wunde

Geradezu lückenlos wird dagegen auf sechs Seiten das vergebliche Bemühen der Aufsichtsbehörden dokumentiert, gemeinsam und einheitlich gegen die Manipulationen vorzugehen. Die daraus abgeleitete Feststellung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Die Aufsichtsbehörden des Bundes und der Länder fassten anlässlich ihrer Aufsichtsbehördentagung wiederholt Beschlüsse, um Diagnosebeeinflussungen und die damit verbundenen Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Trotz dieser Beschlüsse nahmen die Aufsichtsbehörden des Bundes und der Länder ihre Aufsicht weiterhin unterschiedlich wahr.“ Der in § 90 Absatz 4 SGB IV normierte Kooperationszwang der Aufsichtsbehörden habe sich als nicht ausreichend erwiesen, weshalb die Ermessensentscheidung über das Einschreiten der Aufsichtsbehörde bei der Identifikation von Rechtsverstößen der gesetzlichen Krankenkassen nach § 89 Absatz 1 SGB IV in eine zwingende Norm umzuwandeln sei. Der BHR beruft sich bei dieser Forderung auch auf das DAK-Gutachten „Neuordnung der Kassenaufsicht“ der Professoren Wille und Thüsing (2017).

Der Bundesrechnungshof stellte seine Untersuchung fertig, als die Arbeiten des BMG am FKG bereits beendet waren. Zwar begrüßen die Prüfer die mit dem FKG eingeführten Maßnahmen, wie die Neufassung des Verbots der Diagnosevergütung, ein eigenständiges Prüfungsrecht des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) für Selektivverträge bei Morbi-RSA-relevanten Verstößen durch bundes- und landesunmittelbare Krankenkassen, einen Unterlassungsanspruch zwischen Krankenkassen bei wettbewerbswidrigem Verhalten sowie veränderte Regularien zur Aufsichtswahrnehmung und -behördentagung. Sie zeigen sich allerdings skeptisch, dass die Reform ohne eine bundeseinheitliche Aufsicht über die Krankenkassen wirklich funktioniert.

 

Länder-Aufsicht: je kleiner die Einheit, desto größer die Herausforderung

Die mit der staatlichen Kassenaufsicht bezweckte Sicherstellung und Überwachung einer einheitlichen Rechtsanwendung in der GKV ist in Hinblick auf die vorliegend geprüfte Beeinflussung von Kodierungen derzeit nicht gewährleistet. Ein einheitliches Aufsichtshandeln des Bundes und der Länder ist jedoch zwingend erforderlich, um Wettbewerbsverzerrungen im Morbi-RSA zu reduzieren. Krankenkassen, die sich rechtstreu verhalten, darf kein Wettbewerbsnachteil entstehen.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass bereits 65 von 109 gesetzlichen Krankenkassen der Aufsicht des heutigen BAS unterstehen. Fünf Landesaufsichtsbehörden sind für die Beaufsichtigung von nur noch einer Krankenkasse und vier für keine Krankenkasse mehr zuständig. Auch aufgrund der von den Ländern selbst geäußerten Hinweise auf knappe personelle Ressourcen bestehen nach Einschätzung des Bundesrechnungshofes Zweifel, ob die Aufsicht flächendeckend perspektivisch einheitlich und mit der erforderlichen Wirksamkeit wahrgenommen werden kann. Je kleiner eine Organisationseinheit ist, desto größer dürfte die Herausforderung sein, die komplexe Materie der gesetzlichen Krankenversicherung als Aufsicht in Gänze thematisch abzudecken. Hinzu kommt, dass auch eine angemessene Personalausstattung in allen Ländern – bei unterschiedlicher Ermessensausübung – kein einheitliches Aufsichtshandeln gewährleistet.

 

Neuer Reformanlauf notwendig

Ursprünglich hatte Bundesgesundheitsminister Spahn mit dem FKG geplant, regional agierende Krankenkassen bundesweit zu öffnen. Dies hätte sie unter die Aufsicht des Bundesamtes für Soziale Sicherung gebracht. Davon wären vor allem die Ortskrankenkassen betroffen gewesen. Allerdings konnte sich der Minister mit dem Vorhaben nicht gegen die Länder durchsetzen. In der Mitteilung des Bundesrechnungshofes heißt es dazu: „Der Bundesrechnungshof bedauert, dass der Ansatz einer bundesweiten Öffnung aller regional begrenzten Krankenkassen nicht weiterverfolgt wurde, und hält an seiner ursprünglichen Empfehlung fest.“ Und die lautet, alle Krankenkassen unter eine einheitliche Aufsicht zu stellen.

Notwendig ist ein neuer Reformanlauf. Ein Jahr nach Inkrafttreten der Neureglungen sollte evaluiert werden, ob die bisher erfolgten Nachbesserungen im FKG endlich die notwendigen substanziellen Änderungen bringen. Halten die Ergebnisse der Evaluation, die rechtzeitig vor den Koalitionsverhandlungen vorliegen sollten, der Prüfung nicht stand, müssen Maßnahmen ergriffen werden, die ein einheitliches Aufsichtshandeln sicherstellen.

Die Änderungen am Risikostrukturausgleich waren eine wesentliche Bedingung für die erfolgreiche Weiterentwicklung der solidarischen Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen. Eine zweite zwingende Voraussetzung ist die einheitliche Rechtsaufsicht der gesetzlichen Krankenkassen. Denn ein fairer Wettbewerb benötigt auch klare und vor allem einheitlich für alle Krankenkassen anzuwendende Aufsichtsregeln.


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