Systemische Therapie in der GKV – jetzt müssen Kinder und Jugendliche folgen

Approbationsordnung: Künftiges Psychotherapiestudium muss allen Grundorientierungen gerecht werden

Sebastian Baumann, Vorstandsbeauftragter Psychotherapie der Systemischen Gesellschaft

Wir haben es geschafft – seit November 2019 ist die Systemische Therapie für Erwachsene als Kassenleistung anerkannt; nur die Nichtbeanstandung des BMG und die Veröffentlichung im Bundesanzeiger stehen noch aus. Die Details des Leistungsangebots sind in der Psychotherapie-Richtlinie mit dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geregelt. Dies ist von enormer Tragweite für die gesundheitliche Versorgung in Deutschland. Den bisherigen von der GKV bezahlten Orientierungen der Psychotherapie – psychoanalytisch begründete Verfahren und Verhaltenstherapie – wird mit der Systemischen Therapie eine dritte hinzugefügt. Künftig leider erst einmal nur für Erwachsene, obwohl sie auch für Kinder und Jugendliche empirisch bestätigt gut hilft. Erste positive Signale aus dem G-BA, hier nachzuziehen, gibt es aber bereits.

Erinnern wir uns: Nachdem am 22. November 2018 die generelle Wirksamkeit und die medizinische Notwendigkeit der Systemischen Therapie vom G-BA festgestellt wurden, konnte bereits ein Jahr später, am 22. November 2019, die erweiterte Psychotherapie-Richtlinie im G-BA Plenum verabschiedet werden. Noch nie zuvor war seit Bestehen des G-BA ein neues Verfahren aufgenommen worden. Einen so umfangreichen Umbau hat es bislang noch nicht geben, und der G-BA Beschluss vom 22. November 2018 wurde in Rekordzeit umgesetzt.

Und dies ist wichtiger denn je. Schon bald werden psychische Störungen die Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems vom Platz der häufigsten Gründe für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verdrängt haben. Nicht umsonst gibt es mit der Psychotherapie den einzigen nicht-medikamentösen Bereich, für den ein eigener G-BA Unterausschuss eingerichtet ist.

 

Fokus liegt auf sozialem Kontext

Mit der Systemischen Therapie wird nun auch den gesetzlich Versicherten eine Therapieform zur Verfügung gestellt, deren Fokus auf dem sozialen Kontext liegt, in dem Störungen entstehen und mit Hilfe dessen sie gelindert bzw. geheilt werden können. Dabei vertritt die Systemische Therapie durchaus richtungsweisende Ansichten: Gemeinhin versteht man psychische Störungen als seelische Dysfunktionen – vergleichbar damit, sich ein Bein zu brechen. Aus einer systemtheoretischen Perspektive können psychische Symptome, die oft mit großem Leid verbunden sind, aber in gewisser Weise „Sinn“ machen: Etwa weil sie eine Lösung aus einem innerfamiliären Dilemma ermöglichen. Oder weil sie Hinweise auf zu kurz gekommene elementare psychische Notwendigkeiten geben können. Zum Beispiel weil man sich schon über lange Zeit zu immer mehr Leistung angetrieben hat, die nicht gewürdigt wurde und der Körper mit einer Depression dieses Minusgeschäft beendet. Das soziale Umfeld von Patientinnen und Patienten kann in diese Form der Behandlung mit einbezogen und als Ressource genutzt werden. Die Vermeidung von Pathologisierungen und das Anknüpfen an Stärken von Patientinnen und Patienten gehören zu den weiteren Merkmalen Systemischer Therapie.

Psychische Störungen entstehen nicht „einfach so“. Sie werden auch durch kritische Lebensereignisse ausgelöst, die etwas mit dem Beziehungsgeschehen zu tun haben – privat oder beruflich. Erstmalig wurden mit der Systemischen Therapie nun auch soziale Faktoren für die Entstehung psychischer Störungen in die Psychotherapie-Richtlinie aufgenommen; neben den bereits verankerten biologischen und psychischen. Diese späte Erweiterung ist umso bemerkenswerter, als Psychotherapie selbst ja ein sozialer Faktor ist.

Analog zur Erfahrung, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen, gilt auch die Erkenntnis, dass es ein großes Netzwerk braucht, um ein neues Psychotherapieverfahren den Versicherten zur Verfügung zu stellen. Die Initiative bzw. der notwendige Anstoß, die Systemische Therapie zu bewerten und einen entsprechenden Antrag zu stellen, kam aus den Reihen der Unparteiischen des G-BA, konkret von Dr. Harald Deisler. Getragen wurden die weiteren Verhandlungen im G-BA von der glasklaren Positionierung der KBV, aber auch von der DKG und der Patientenvertretung, einmütig von der Bundespsychotherapeuten- und Ärztekammer, von den psychotherapeutischen Verbänden, insbesondere der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung und natürlich von der Politik. Selbst von manchen Krankenversicherungen kam wichtige Unterstützung. Traut man der Systemischen Therapie doch zu, einen wichtigen Beitrag für die Versorgung zu leisten und das mit einer vergleichsweise deutlich kürzeren Behandlungsdauer.

Eine wichtige erkenntnistheoretische Grundlage der Systemischen Therapie ist die Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Sie ist nicht nur Basis der Systemischen Therapie, sondern auch die der systemischen Organisationsentwicklung, des systemischen Businesscoachings und der systemischen Kinder- und Jugendhilfe. „Die beliebtesten Weiterbildungen in unserem Hause sind die systemischen“, sagte einmal ein hochrangiger Krankenkassenvertreter.

 

 G-BA signalisiert Unterstützung

Auf eine ganze Menge Erreichtes lässt sich also zurückschauen. Beim Blick nach vorne wird deutlich, was es nun noch braucht. Die positive G-BA-Entscheidung bezieht sich zunächst nur auf die Systemische Therapie für Erwachsene. Elf Jahre nach dem positiven Votum des wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie für die Systemische Therapie für Kinder und Jugendliche kommt die Innovationsbewegung nun wiederum vom G-BA selbst: Dr. Monika Lelgemann, unparteiisches Mitglied und u.a. Vorsitzende der Unterausschüsse Methodenbewertung und Psychotherapie, kündigte in der öffentlichen G-BA Sitzung am 22. November 2019 an, den Antrag auf Nutzenbewertung auch für den Bereich der Kinder und Jugendlichen zu stellen.

Die Systemische Therapie bei Kindern und Jugendlichen zählt zu den am stärksten verbreiteten Ansätzen zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen und ist sowohl bei den sogenannten schweren Störungen als auch bei den häufigsten Störungen empirisch gut bestätigt. In der Erziehungs- und Lebensberatung, im Kinderschutzbereich und der ambulanten und stationären Jugendhilfe ist sie bundesweit das erste Mittel der Wahl.

 

Wichtige Änderungen im neuen Psychotherapeutengesetz im letzten Moment

Neben dem G-BA Prozess hatten die beiden systemischen Fachverbände Systemische Gesellschaft (SG) und Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) eine Vielzahl weiterer Betätigungsfelder. Von besonderer Bedeutung ist hier das neue Psychotherapeutengesetz, das den Zugang zum Psychotherapeutenberuf auf modernere Beine stellt. Noch im Regierungsentwurf des neuen Gesetzes waren Regelungen vorgesehen, die es neu hinzugekommenen Verfahren wie der Systemischen Therapie praktisch unmöglich gemacht hätten, Nachwuchs zu generieren. Es wurden aber Änderungsanträge in das inzwischen verabschiedete Gesetz aufgenommen, die es nun auch systemischen Weiterbildungsinstituten ermöglichen werden, die nächste Generation der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in lösungsorientierter Systemischer Therapie zu schulen.

 

Starre Verfahrensgrenzen an den Universitäten überwinden

Aktuell wird im BMG die Approbationsordnung für das neue Psychotherapie-Studium geschrieben. Der kürzlich veröffentlichte Referentenentwurf macht deutlich, dass es noch einiges braucht, bis die Monokultur an deutschen Universitäten der Vergangenheit angehört. 99 % der Lehrstühle für Klinische Psychologie sind von Vertretern der Verhaltenstherapie besetzt – ein absolut sinnvolles Therapieverfahren, aber eben nur eines von vier Grundorientierungen. Die systemischen Fachverbände haben sich deshalb sehr klar für die theoretische und praktische Ausbildung in allen Verfahren ausgesprochen. Es wäre auch in anderen Feldern inakzeptabel, wenn z.B. nur eine Wirkstoffklasse von Arzneimitteln zum Einsatz käme.

Das zukünftige Psychotherapiestudium muss deshalb von entsprechend ausgebildeten Lehrenden aller Grundorientierungen gestaltet werden. Neben den verhaltenstherapeutischen und systemischen sind das die psychodynamischen und humanistischen Zugänge. Nur so wird eine Überwindung der noch zu oft vorhandenen starren Verfahrensgrenzen erreicht. Mancher träumt schon von klinischen Lehrstühlen, an denen Forschung für alle Verfahren angesiedelt ist und in denen das Beste, was die unterschiedlichen Verfahren zu bieten haben, zum bestmöglichen Nutzen für die Patientinnen und Patienten weiterentwickelt wird. Ich hoffe sehr, dass diese Vision kein Traum bleibt – so wie auch die Aufnahme der Systemischen Therapie in den Leistungskatalog der Krankenversicherungen Wirklichkeit wurde.

 

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