Baseline gekappt oder: Selektivverträge im Nirvana der Beliebigkeit

Dr. Christopher Hermann

Mittlerweile werden sie rar – die Normen im Krankenversicherungsrecht, die von der schier unbändigen Novellierungsflut der amtierenden GroKo (noch) nicht erfasst sind. Es wundert deshalb nicht, dass nunmehr auch die „besondere Versorgung“ (§ 140a SGB V) – die Selektivverträge außerhalb der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) nach § 73b SGB V – ins Visier von BMG und in der Folge Koalitionsfraktionen gekommen ist. Nicht weniger als 13 Einzeländerungen und Ergänzungen des 2015 von der GroKo ausdrücklich als verschlankende Neustrukturierung und Bürokratieabbau bei den „Möglichkeiten der Krankenkassen, Einzelverträge mit Leistungserbringern abzuschließen“, eingeführten § 140a SGB V stehen ante portas.

 

„Besondere Versorgung“ im Eiltempo

Im Rahmen eines erst Anfang Juni 2020 überhaupt bekannt gewordenen zehnseitigen (fachfremden) Änderungsantrags zum Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG), das noch vor der Sommerpause bis Anfang Juli den Bundestag passieren soll, wird der neben Kassenwahlfreiheit und Risikostrukturausgleich (RSA) dritte Eckpfeiler für Gestaltung und Weiterentwicklung einer „solidarischen Wettbewerbsordnung“ in der GKV (Bundesregierung pars pro toto beim RSA-Reformgesetz 2002) auf Änderungsmodus gestellt.

Nach dem im als Entwurf hängengebliebenen sog. „Faire-Kassenwahlgesetz“ gescheiterten Versuch der Zentralisierung von Kassenwahlrechten und Kassenaufsicht im letzten Herbst, Änderungen am RSA im sogenannten „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG)“ Anfang diesen Jahres, rückt somit quasi im (freilich mittlerweile wiederholt eingeübten) gesetzgeberischen Schnelldurchlauf der Teil des GKV-Ordnungsrahmens ins Zentrum des GroKo-Handelns, der, wie das Bundesverfassungsgericht schon 2005 feststellte, „auf der Basis des Solidarprinzips wirtschaftliches und effizientes Verhalten der Krankenkassen bei der gesundheitlichen Leistungserstellung“ erreichen soll. Vor dem Hintergrund der über Jahre Legion gewordenen fundierten Defizitanalysen eines auf Versorgungs- und Qualitätswettbewerb orientierten selektivvertraglichen Optionenrahmens („behindert funktionsfähigen Wettbewerb“, SVR Gesundheit 2012; „unterentwickelt“, Monopolkommission 2017) also jetzt der überfällige strukturierte Aufschlag von BMG und GroKo?

 

Motto: „alter Wein in neuen Schläuchen“

Laut Entwurf sollen die Neuerungen tatsächlich „verschiedene Reformbedarfe in der besonderen selektiv-vertraglichen Versorgung“ (sic!) umsetzen. Besonders hervorgehoben werden:

  • Organisation der „gesundheitlichen Versorgung der Versicherten in einer Region“,
  • Zusammenbinden unterschiedlicher „Kostenträger“ und Versorgungseinrichtungen,
  • „Bedarf zur weiteren Öffnung der selektivvertraglichen Regelungen für Versorgungsinnovationen“ und
  • Interesse von Krankenkassen, durch den Innovationsfonds (§§ 92a, b SGB V) „erprobte Projektstrukturen selektivvertraglich auf freiwilliger Basis weiter zu führen.“

Gesetzgeberische Ansätze zur Öffnung hin zu nachhaltigem Qualitätswettbewerb und innovativer Versorgungsvielfalt im Kassenwettbewerb sehen offenkundig anders aus. Was hier zu Tage tritt, variiert an vielen Stellen bestenfalls das Motto „alter Wein in neuen Schläuchen“. Jedenfalls erinnert nichts mehr an das einstmals von einer GroKo programmatisch im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) 2007 verkündete Vorhaben, konsequent die Organisation der „Entwicklung neuer Versorgungsstrukturen … aus-schließlich im dezentralen wettbewerblichen Selektivvertragssystem“ zu gestalten (BT-Drs. 16/3100).

 

Die „Player“ als eigentliche Zahlmeister

Vorgestellt wird ein eklektizistisches Allerlei, in dessen Verlauf selbst davor nicht zurückgeschreckt wird, Krankenkassen als Akteure und Mit-Gestalter der „besonderen Versorgung“ in einem neuen Absatz 3a ganz zu eliminieren. Sie sollen allein noch „die Förderung“ von Dritten (Leistungserbringer, Sozialleistungsträger, Träger der Daseinsfürsorge) übernehmen, die Vertragsinhalte autonom vorgeben. Die Krankenkassen somit als bloße Finanziers in völliger Verkehrung des bisher propagierten Wandels vom „Payer zum Player“.

Möglicherweise perspektivisch weniger fatal, aber umso substanzloser gerieren sich weitere Vorhaben. So soll die „besondere Versorgung“ damit angereichert werden, dass Verträge „auch eine besondere regionale Versorgung beinhalten“ können (neuer Abs. 1 Satz 3). Damit werde klargestellt, dass sich „die besondere Versorgung auf einzelne Regionen beschränken kann“.

Materiell vergleichbares Recht kannte schon das GKV-WSG (§ 140a Abs. 1 Satz 2 SGB V). Danach galt es, Verträge zu befördern, die „in einer großen Region die Behandlung einer versorgungsrelevanten Volks-krankheit … umfassend oder in einer auch kleineren Region … ein Großteil des Krankheitsgeschehens der Versicherten“ einbeziehen (Begründung GKV-WSG). Die Regelung ist 2015 freilich im GKV-VSG gerade deshalb ausdrücklich gestrichen worden, die Norm habe „keine unmittelbare Regelungswirkung“ und sei daher schlicht „entbehrlich“.

Durch die jetzt zusätzliche Begründung, hier werde einem wiederholten Anliegen des Bundesrates entsprochen – dem man noch vor wenigen Monaten, da angeblich „bereits aufgegriffen“, eine Absage erteilt hatte (Gegenäußerung der Bundesregierung zur BR-Stellungnahme zum GKV-FKG) –, wird das Vorgehen keineswegs plausibler. In der Tat hatte zwar der Bundesrat dort die Einführung einer neuen Vorschrift „Regionale Versorgungsinnovationen“ gefordert. Krankenkassen und Leistungserbringer sollten auf freiwilliger Basis in einer bestimmten Region Verträge zur Gestaltung der regionalen Versorgung schließen können. Diese Forderung wurde aber gerade nicht im wettbewerblich-selektivvertraglichen Kontext entwickelt. Es ging im Gegenteil um Mangelbearbeitung in der Regelversorgung – bei (drohender) ärztlicher Unterversorgung oder besonderem Versorgungsbedarf. Der Bundesrat verortete seinen Entwurf folglich auch richtigerweise im Leistungsrecht (Abschnitt „Weiterentwicklung der Versorgung“) des SGB V (§ 68c).

Schlicht unverständlich nimmt sich die vorliegende Ergänzung eines ausdrücklichen Beitrittsrechts Dritter nur „mit Zustimmung aller Vertragsparteien“ zu Selektivverträgen aus. Auch eine Vorschrift dieses Inhalts befand sich bis 2015 im SGB V, und auch sie wurde von der GroKo im GKV-VSG gestrichen. Begründung wie gehabt: Eine „Selbstverständlichkeit“ und „daher entbehrlich“. In der Tat sollte ein Blick in die allgemeinen Vorschriften über Grundlagen und Wesen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages im Sozialrecht (insbesondere § 53 SGB X) reichen, um zu konstatieren, dass hier erneut Allgemeinplätze dupliziert werden.

 

„Solidarische Wettbewerbsordnung“ im Rückwärtsgang

Regelungen gemäß solcher Muster eher aus dem Skurrilitätenkabinett ließen sich weitere ausschmücken. (Welchen Mehrwert hat die Aufblähung potentieller Vertragspartner bei Selektivverträgen im Abs. 3? Welchen eigenständigen Regelungsgehalt enthält die Formulierung in Abs. 1, nach der Krankenkassen Selektivverträge „einzeln oder gemeinsam“ abschließen können? Antwort: keinen). Die eigentliche versorgungspolitische wie selektivvertragliche Perspektive des Änderungsantrags insgesamt für die GKV geben freilich andere Neuerungen vor. Neben Rollback in die bloße Zahlerrolle für die gesetzlichen Krankenkassen oder potentieller PKV-Ertüchtigung für versorgungsvertragliche Gehversuche (neue Nr. 3b zu Abs. 3 S. 1) fällt insbesondere der ausdrückliche Wegfall des Bestandsschutzes für Altverträge auf. Während das GKV-VSG 2015 explizit die Fortgeltung aller Versorgungsverträge nach den früheren §§ 73a, 73c und 140a SGB V normierte, soll dies spätestens ab 2022 nicht mehr gelten. Für Disease-Management-Programme (DMP), die auf Altnormen fußen, wird ausdrücklich vorgesehen, dass aus der Überführung „keine Anpassungs- oder erneute Vorlageverpflichtung“ folge (Änderungsantrag zu § 137g SGB V). Dies gilt für alle weiteren selektivvertraglichen Altverträge – also etwa Facharztverträge in Baden-Württemberg – nicht.

Die Regelung dokumentiert freilich auch Konsequenz: Der ohnehin in der GroKo immer unkenntlicher gewordene Pfad, den Anforderungen der „solidarischen Wettbewerbsordnung“ näher zu kommen, wird weiter verschüttet.


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