Solidarische Neuordnung der Pflegeversicherung für wachsende Herausforderungen notwendig

Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit

Die Pflegeversicherung befindet sich in Schieflage. Das finanzielle Gleichgewicht zwischen Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Eigenanteilen von Betroffenen und ihren Angehörigen sowie Investitionsaufwendungen von Ländern und Kommunen ist seit geraumer Zeit erodiert. Die Beiträge haben sich seit der Einführung der Pflegeversicherung vor 25 Jahren nahezu verdoppelt. Die Eigenanteile in der stationären Pflege treiben bereits heute jeden dritten Heimbewohner in die Sozialhilfeabhängigkeit, Tendenz steigend. Und nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes sind den Pflegebedürftigen in Heimen in den vergangenen 10 Jahren insgesamt 39 Milliarden Euro für Investitionskosten in Rechnung gestellt worden, die grundsätzlich eigentlich von Ländern und Kommunen getragen werden müssten. Vor diesem Hintergrund ist es höchste Zeit, die Finanzierung der Pflegeversicherung neu auszubalancieren und auf eine zukunftsfeste Grundlage zu stellen.

 

Notwendige Verbesserungen treiben Pflegekosten

Allein die geplante bundesweite Verbesserung der Entlohnung von Pflegekräften wird entsprechend einer vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebenen Studie auf bis zu 5,2 Milliarden Euro geschätzt. Laut Koalitionsvertrag sollen die Leistungsbeträge kontinuierlich an die Personalentwicklung angepasst werden. Zudem sollen die Leistungen der Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege sowie den Entlastungsbetrag zu einem jährlichen, flexibel einsetzbaren „Entlastungsbudget“ zusammengefasst werden. Die damit verbundenen Mehraufwendungen werden auf Grundlage der derzeitigen Inanspruchnahme dieser Einzelleistungen auf mindestens 2,7 Milliarden Euro geschätzt. Hinzu kommen die ab 2020 zu erwartenden Kostensteigerungen durch die Neuordnung der Pflegeausbildung, Mehrausgaben für eine bessere Personalausstattung in Pflegeeinrichtungen im Rahmen eines Personalbemessungsverfahrens und weitere finanzielle Auswirkungen aufgrund der Konzertierten Aktion Pflege.

Berechnungen, die Prof. Heinz Rothgang (Uni Bremen) im Auftrag der DAK-Gesundheit angestellt hat, zeigen, dass der absehbar steigende Finanzbedarf zu enormen Belastungen pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen führt. Rothgang geht davon aus, dass der notwendige Personalzuwachs und die höhere Entlohnung der Pflegekräfte bis 2025 insgesamt eine Kostensteigerung von 35 Prozent zur Folge haben. Danach werden sich die durchschnittlichen monatlichen Eigenanteile für die pflegerische Versorgung in Heimen von aktuell bereits stolzen 662 Euro bis 2025 mehr als verdoppeln und die Beiträge im gleichen Zeitraum um etwa zwei Zehntel Beitragssatzpunkte steigen. 2045 lägen die Eigenanteile bereits bei knapp 1.900 Euro monatlich und die Beiträge zur Pflegeversicherung bei 4,3 Prozent. Dabei sind die von den Pflegebedürftigen bzw. ihren Angehörigen zu tragenden Kosten für Unterbringung und Verpflegung sowie ein Anteil an den Investitionskosten hier noch nicht mit einberechnet. In der Bevölkerung scheint man sich dieser Lage vollkommen bewusst zu sein, wie die aktuelle Allensbach-Umfrage für den diesjährigen DAK-Pflegereport zeigt. Demnach befürchten 78 Prozent der Befragten, dass sie trotz Pflegeversicherung bei Pflege im Heim sämtliche Ersparnisse verlieren. Bei den Menschen, die Pflege aus der Nähe miterleben, wie etwa als pflegende Angehörige, sind es sogar 82 Prozent.

 

Wege aus der Fürsorgefalle

Vor 25 Jahren versprach die Gesetzesbegründung zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung (SPV), wer sein Leben lang gearbeitet und eine durchschnittliche Rente erworben hat, soll wegen der Kosten der Pflege nicht zum Sozialamt gehen müssen. Gelang es in den ersten Jahren noch, die Zahl der Pflegebedürftigen mit ergänzendem Sozialhilfebezug spürbar zu verringern, wird die damals als Obergrenze genannte Quote von 20 Prozent jedoch in der stationären Pflege seit vielen Jahren deutlich übertroffen. Es ist inakzeptabel, wenn heute jeder dritte Bewohner von Pflegeheimen ergänzende Sozialhilfe bezieht. So verliert eine beitragsfinanzierte Sozialversicherung ihre Legitimation. Was ist also zu tun?

Der Weg aus der Fürsorgefalle führt über eine Umgestaltung des Leistungssystems der Pflegeversicherung hin zu fixen und transparenten Eigenanteilen der Versicherten. Heute trägt die soziale Pflegeversicherung einen festen Sockel an Leistungen, die Pflegebedürftigen tragen den Rest. Sie sind somit einem doppelten Kostenrisiko ausgesetzt: Weder kennen sie die Höhe der Eigenanteile, die sie künftig zahlen, noch wissen sie, wie lange sie diese aufbringen müssen. Gegen dieses Risiko kann man sich weder durch Sparen noch durch Abschluss einer Zusatzversicherung voll absichern. Im Reformmodell würde der Pflegebedürftige einen fest definierten Betrag selbst bezahlen, während die Pflegeversicherung den verbleibenden Teil der Pflegekosten übernehmen würde. Ein solcher „Sockel-Spitze-Tausch“ wäre keine Vollversicherung. Vielmehr würde er ermöglichen, die Lasten zielgerichteter und fairer als bisher zwischen den Pflegebedürftigen und der Solidargemeinschaft auszutarieren.

Die Eigenanteile, die Pflegebedürftige für die Pflege im Heim zahlen müssen, sind je nach Bundesland sehr unterschiedlich. Sie lagen im ersten Quartal 2019 zwischen 274 Euro in Thüringen und 925 Euro in Baden- Württemberg. Um Pflegebedürftige unabhängig von ihrem Wohnort zu entlasten, schlägt die DAK-Gesundheit zunächst unterschiedlich je Bundesland gedeckelte Eigenanteile vor, um schrittweise einen bundeseinheitlichen Wert zu erreichen. Dazu könnte beispielsweise analog der im Krankenhaus bekannten Landesbasisfallwerte auch für Einrichtungen der Langzeitpflege eine Konvergenzphase eingeführt werden.

 

Bundeszuschuss auch in der Pflege sinnvoll

Theoretisch ist dieser Systemwechsel kostenneutral vorstellbar. Soll aber die Fürsorgeabhängigkeit von Pflegebedürftigen verringert werden, bleibt ein finanzieller Mehraufwand nicht aus. Hier ist die Einführung eines steuerfinanzierten Bundeszuschusses sinnvoll und zwar sowohl aus grundsätzlichen Erwägungen als auch aus Gründen, die sich aus dem Gesetz selbst ergeben. So ist die Pflegeversicherung ohne ersichtlichen Grund der einzige Sozialversicherungszweig, für den es keinen Bundeszuschuss gibt.

Sollen aber die Sozialabgaben in den nächsten Jahren, wie von einigen Mitgliedern der Bundesregierung gefordert, die 40-Prozent-Marke tatsächlich nicht überschreiten, müssen auch hier – ähnlich wie in der gesetzlichen Rentenversicherung – versicherungsfremde und gesamtgesellschaftlich motivierte Leistungen aus dem Bundeshaushalt getragen werden. Bei der Pflegeversicherung zählt dazu nicht nur die Beitragszahlung für pflegende Angehörige an die Rentenversicherung, sondern vor allem auch das sogenannte Pflegegeld. Beide belaufen sich derzeit auf insgesamt etwa 13 Mrd. Euro jährlich und dienen dazu, „vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn (zu) unterstützen“ (§ 3 Satz 1 SGB XI). Zudem konstatiert § 8 SGB XI ausdrücklich: „Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“

Gestartet werden könnte im Jahr 2021 mit einem Steuerzuschuss in Höhe von einer Milliarde Euro. Bei einem Aufwachsen des Zuschusses um jährlich jeweils eine weitere Milliarde Euro, wären im Jahre 2025 fünf Milliarden Euro erreicht, was etwa zehn Prozent einer Jahresausgabe der sozialen Pflegeversicherung entspricht. Danach könnten die Bundesmittel stufenweise bis 2045 auf 25 Prozent der Leistungsausgaben angehoben werden. Die bereits erwähnten Berechnungen Rothgangs zeigen für dieses Finanzierungsszenario einen Rückgang der Eigenbeteiligung gegenüber dem Status quo bei moderater Beitragssatzentwicklung. Im Jahr 2025 läge der monatliche Eigenanteil für Pflegekosten demnach bei 482 Euro und 2045 bei 589 Euro. Der Beitragssatz würde zunächst auf 3,4 Prozent (2025) steigen und 2045 schließlich bei 4,1 Prozent liegen.

 

Umfassende Reform zeitnah starten

Ohne eine solidarische Neuausrichtung wird die Pflegeversicherung den Herausforderungen nicht gewachsen sein. 25 Jahre nachdem sie ins Werk gesetzt wurde, ist es Zeit für eine umfassende Reform. Dazu sollte beim Bundesministerium für Gesundheit zeitnah eine Kommission errichtet werden, die die verschiedenen Reformvorschläge prüft und Empfehlungen erarbeitet. So könnten die Weichen für eine grundlegende Finanzierungsreform der Pflegeversicherung bereits in der zweiten Hälfte der laufenden Legislaturperiode gestellt werden.


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